Montag, 23. Mai 2022

[Schnipseltime] Der Tag, an dem er Vater wurde von Jutta Kröpfl

 


1.

Tanja stand unter der Dusche. Schon eine Weile. Eine ziemlich lange Weile. Das heiße Wasser prasselte auf ihre Haut und es gelang ihr, sich nur darauf zu konzentrieren. Auf die Wärme und auf das Plätschern. Die Welt war ausgeblendet, Emotionen betäubt, Eindrücke in eine Auszeit gezwungen. Darum stand sie da, mit geschlossenen Augen und den Händen im eigenen Nacken. Das hatte sie schon immer gekonnt. Auch gebraucht. Im Chaos ihres Liebeslebens, im Hin und Her zwischen zwei Männern. Vor allem. Aber auch bei Stress am Arbeitsplatz oder zu anderen Missstimmungen.

Nur mühsam schaffte sie es, das Wasser abzustellen und in die Realität zurückzukehren. Die Realität, in die sie unwirkliche Bilder trotzdem verfolgen würden.

Sie ließ sich Zeit beim Abtrocknen. Auch beim Anziehen. Tauschte die schwarze Bluse gegen ein grünes T-Shirt und wieder zurück. Griff nach der Wimperntusche, sah in den Spiegel und legte sie wieder zurück. Niemand würde Wert darauf legen. Sie selbst am aller wenigsten. Sie zwang sich zu einem schmerzverzerrten Lächeln, als sie anfing, ihr Haar zu bürsten und im Spiegel die blauen Augen ihres Mannes traf. Er lächelte zurück und streckte seine Hand nach ihr aus, doch sie konnte die Berührung nicht fühlen. Sie drehte sich nach ihm um, doch er war schon wieder gegangen. Und als sie sich zurück zum Spiegel wandte, begegnete sie dem ehrlichen Leuchten in Maltes Blick. Ihre Einbildung spielte verrückt. Während sie sich grundsätzlich so alt fühlte wie ihre Mutter, verhielt sie sich im Unterbewusstsein vollkommen kindisch und unreif. Ein paar verzweifelte Tränen stiegen ihr in die Augen. Doch die Arbeit rief.

 

2.

Sie schwieg und half ihm. Ihre Finger streiften dabei sein Handgelenk, ihre Blicke trafen sich darauf und er erinnerte sich an den ersten Abend, an dem sie beide unter einem Dach gewohnt hatten. Alina war im fünften Monat schwanger, ihr Bauch wölbte sich unter dem blumigen T-Shirt und wenn er sie ansah, fühlte er sich ihr tief verbunden. Er liebte sein Kind, das sie unterm Herzen trug, und obwohl sie nicht seine erste Wahl war, liebte er auch sie. Auf seine Art. Sie wussten zu diesem Zeitpunkt bereits, dass sie ein Mädchen erwarteten und es machte Malte stolz, sich in der Öffentlichkeit als werdender Vater zu präsentieren. Er war noch keine dreißig Jahre alt und gründete eine Familie. Zwar hatte er vor Jahren die Frau seiner Träume enttäuscht und verloren, doch er hatte eine sehr gute Alternative gefunden. Daran glaubte er. Damals noch fest. Es würde sich zum Guten entwickeln und er würde mit Alina an seiner Seite glücklich sein. Eine gemeinsame Wohnung zu beziehen war ein guter Grundstein, den sie legten.

An ihrem ersten Abend hatten sie in derselben Küche gestanden und dieselbe Spülmaschine eingeräumt. Mit nur zwei Gedecken und mit Zuversicht. Sie hatten einander in die Augen gesehen und an nichts anderes gedacht als die gemeinsame Zukunft. Malte hatte seine Arme von hinten um Alinas Körper gelegt, seine Handflächen auf ihrem Bauch ausgebreitet, sie an sich gezogen und ihre Schulter geküsst, die aus dem schief verrutschten Shirt hervorlugte. Nur wenige Wochen später hatte er bei seinen Eltern die Einladung zur Hochzeit von Tanja und Lukas vorgefunden.

Es schien ein Jahrhundert zurückzuliegen. Damals hatten seine Haare noch ihr natürliches Braun gehabt und er hatte sich jung gefühlt. Heute kam er sich alt vor. Und Alinas Blick berührte ihn auf eine gänzlich andere Weise.

1 Kommentar:

  1. Danke auch für die Schnipsel. Ich habe hier zwei Abschnitte ausgewählt, die den jeweiligen Grundkonflikt der beiden Protagonisten aufzeigen (-;

    AntwortenLöschen

Mit dem Abschicken des Kommentars bin ich mit den Datenschutzrichtlinien des Blogs einverstanden.