1 Schatten der Nacht
„Er ist hier!“
Quintus’ Worte donnerten durch
die Hütte und zerrissen die nächtliche Stille. „Nimm Briana, und lauf in den
Wald“, wies er Aurelia an. Die Glut, die noch im Herd glomm, zeigte ihr, dass
ihr treuer Freund seinen Blick auf ihre sechsjährige Tochter gerichtet hatte.
Er griff nach seinem Schwert, das in der Ecke lehnte.
„Was?“ Aurelia war kaum in der
Lage zu begreifen, was vor sich ging, und sah ängstlich umher. Das leise
Rascheln der Blätter draußen vermischte sich mit den gedämpften Geräuschen der
Nacht.
Sie wusste, von wem Quintus
sprach. Jeder in diesen Landen kannte den Zenturio, der so grausam war, dass
selbst gestandene Männer vor ihm erzitterten. Er überzog die gallischen Ebenen
mit einer Welle aus Blut und Tod. In den letzten Monaten waren bereits einige
der umliegenden Siedlungen Opfer seines Feldzuges geworden. Gegenwärtig war das
Dorf betroffen, in dem sich Aurelia und Azok niedergelassen hatten.
Eine altbekannte Furcht stieg in
Aurelia auf, wollte sie doch so weit fort wie nur irgend möglich Rom und dessen
gnadenlosem Einfluss entfliehen. Ihre Hände bebten, und ihr Brustkorb hob und
senkte sich geschwind. Die Luft war schwer vor Angst. Eine unheilvolle Ahnung,
dass die Republik sie aufs Neue eingeholt hatte, lag darin.
Unvermittelt stürmte Azok durch
die Tür, die mit einem lauten Knarren aufschwang. Sogleich füllte seine
Anspannung die Hütte aus.
„Nimm Briana, und lauf so schnell
du kannst!“ Das Drängen in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Aurelia sprang vom Stuhl auf,
griff nach ihrem Umhang, der über dessen Lehne hing, und warf ihn sich eilig
über die Schultern. Direkt danach trat sie an das Bett, in dem ihre Tochter
lag, und weckte sie. „Komm, Briana, wir müssen los“, flüsterte sie und beugte
sich zu ihr hinunter.
Ihre Tochter wimmerte im
Halbschlaf und zog sich die dünne Decke über die Schultern.
„Bitte, Briana, du musst dich
beeilen“, flehte Aurelia. Sie tastete auf der Schlafstätte nach dem Umhang, den
sie am Vorabend sorgsam gefaltet und am Fußende abgelegt hatte, wie sie es
stets tat.
Indes schrak Briana hoch. „Was
ist, Mutter?“
„Es wird alles gut. Wir müssen
uns beeilen.“ Aurelia nahm Briana aus dem Bett und hüllte sie in den dicken
Umhang. Sanft hob sie sie hoch und drückte sie fest an sich.
„Wir dürfen keine Zeit verlieren.
Sie werden bald hier sein“, sagte Azok mit Nachdruck und trat an Aurelia heran.
Ohne ein weiteres Wort legte er den Arm um ihre Schultern und zog sie samt
Briana an sich. Es war eine flüchtige, dringliche Umarmung, als wolle er ihnen
Kraft einhauchen. Er griff nach Aurelias Hand. Seine Finger verschränkten sich
mit ihren, und er schaute ihr tief in die Augen. „Sieh nicht zurück. Lauf so
schnell du kannst. Beschütze Briana mit allen Mitteln.“
Sie nickte wortlos. Im nächsten
Moment ließ sie Azok los, setzte Briana ab, wandte sich zum Herd um und lief zu
ihm. Hastig schob sie die tönernen Gefäße und Tiegel zur Seite, bis sie ihn
spürte: einen Dolch. Das kühle Metall des Messers war ein scharfer Kontrast zu
der Hitze in ihrem Inneren. Sie nahm ihn an sich, willens, sich ihrem Feind zur
Wehr zu setzen. Daraufhin kehrte sie zurück zu Briana, fasste sie an der Hand
und trat mit ihr durch die Tür in die kalte, unbarmherzige Nacht. Azok und
Quintus schlossen sich ihnen an, und gemeinsam verließen sie die Hütte. Das
Bild, das sich ihnen außerhalb davon bot, ließ Aurelia erstarren.
Eine römische Zenturie war in das
Dorf eingefallen. Flammen krochen unheilvoll über die Dächer der Hütten, als würden
sie die Dunkelheit der Nacht verschlingen. Der beißende Geruch von Rauch und
verbranntem Holz erfüllte die Luft. Schreie durchbrachen die Stille, boten ein
Klagelied der Verzweiflung und des Terrors. Berittene Legionäre preschten auf
ihren Pferden durch die herumlaufenden Menschen. Ihre Schwerter blitzten im
Feuerschein, indes sie einen nach dem anderen niedermetzelten.
Das Feuer fraß sich gnadenlos
durch das Dorf. Das Knistern und das Prasseln mischten sich mit dem Klirren von
Metall und den markerschütternden Rufen der Dorfbewohner. Aurelia konnte den
eisernen Griff der Angst in ihrem Inneren spüren, als sie den Anblick der
Zerstörung vor sich erkannte. Ein Gefühl der Machtlosigkeit und des
überwältigenden Grauens erfüllte sie, währenddessen sie beobachtete, wie die
Legionäre wie todbringende Schatten über die Dorfbewohner herfielen. Einige der
Männer leisteten vehement Widerstand, taten alles, um ihre Familien zu
verteidigen, aber es war aussichtslos. Die Übermacht der Römer war erdrückend,
ihre Brutalität grenzenlos.
Aurelias Herz raste. Der Geruch
von Blut hing in der Luft, und sie konnte das dumpfe Stöhnen der Verwundeten
hören. Die Welt um sie herum schien im Chaos und im Feuer zu versinken, doch sie
spürte eine unerschütterliche Entschlossenheit in sich. Sie durfte nicht
aufgeben. Sie konnte nicht aufgeben. Nicht solange Briana an ihrer Seite war.
Sie musste alles unternehmen, um sie gut zu bewahren. Ihre Finger verkrampften
sich um den Dolch in ihrer rechten Hand. Die Finger der linken umschlossen die
Hand ihrer Tochter fester.
„Beeil dich!“, rief Azok.
Er zog Aurelia zu sich und schaute
ihr tief in die Augen. Das flackernde Feuer ließ Schatten über sein Gesicht
tanzen. Sie warfen rötliches Licht auf sein Gesicht und zeichneten scharfe
Konturen in es, sodass er unnachgiebiger wirkte als je zuvor. Die Glut ließ
seine Haut leuchten, wie um zu sagen, dass er längst Teil der brennenden Nacht
war.
„Ich komme nach“, versprach er.
Aurelia liefen die Tränen über
die Wangen. Eine Mischung aus Furcht und Stolz erfüllte sie, da sie wusste,
dass er alles geben würde, um einige dieser armen Seelen zu retten. Nach einem
tiefen Atemzug küsste er Aurelia, kurz und innig, als wollte er sich sie zum
Abschied einprägen, und schickte sie fort.
Wenige Augenblicke später kamen
Aurelia und Briana am Rand des Dorfes an. Im Schutz der Dunkelheit eilten sie
weiter zum nahe gelegenen Wald. Die Nachtluft war erfüllt vom lauten Prasseln
der Flammen, dem lautstarken Rufen der Dorfbewohner und dem dumpfen Aufprall
von Hufen auf dem Boden.
Plötzlich vernahm Aurelia einen
Schrei. Etwas packte sie an ihrem Umhang, zog kräftig daran, und sie wurde nach
hinten gerissen. Sie fiel unsanft auf die Erde. Über ihr tauchte das Gesicht
eines Legionärs auf, der ihr gefolgt war.
„Wo willst du hin?“, fragte er in
einem scharfen Ton.
Aurelia ignorierte ihn, kam
hastig auf die Beine, blickte sich panisch um und rief nach ihrer Tochter. Bei
ihrem Sturz hatte sie Brianas Hand losgelassen.
„Mutter!“ Brianas Ausruf war
gellend und voller Angst.
Aurelia wirbelte in die Richtung,
aus der sie sie vernommen hatte. Einige Schritte von ihr entfernt entdeckte sie
Briana in den Fängen eines zweiten Legionärs.
„Lass sie sofort los!“, forderte
sie und richtete die Klinge ihres Dolches auf den Mann. Ihr Griff war zwar
fest, doch ihre Hände zitterten vor Angst und Nervosität.
Der Legionär lachte laut auf, hob
Briana hoch und legte sie sich über die Schulter. Ihre Tochter weinte, schrie
und strampelte mit den Füßen, um sich gegen den Mann zu wehren. Es war
zwecklos. Ihre Kraft reichte längst nicht. Blitzschnell jagte der Legionär, der
Aurelia umgeworfen hatte, auf sie zu und schlug ihr den Dolch aus der Hand. Mit
einem höhnischen Grinsen fixierte er sie, offenbar darauf bedacht, ihre
verzweifelte Entschlossenheit zu brechen.
„Dass ihr Wilden tatsächlich
denkt, eine Frau könnte sich im Kampf behaupten“, spottete er und schlug ihr
mit der Faust ins Gesicht.
Die Wucht des Schlages traf sie
unvermittelt und schickte sie zu Boden. Das Blut lief ihr aus Nase und Mund.
„Mutter!“, schrie Briana wie am
Spieß.
Aurelia hob mühsam den Kopf und
beobachtete, wie der zweite Legionär mit ihrer Tochter davonmarschierte. Sein
Kumpan rannte ihm hinterher.
Der Schmerz, den ihre Seele
daraufhin erfasste, verdrängte den in ihrem Gesicht.
„Nein!“, brüllte Aurelia und
rappelte sich mit der Kraft, die ihr geblieben war, hoch. Die Welt um sie herum
verschwamm vor Tränen und Qualen. Verzweifelt kehrte sie zurück ins Dorf.
Ebenda angekommen, suchte sie
nach Azok. Inmitten des Getümmels erspähte sie ihn. Er stand da, seine Muskeln
angespannt im Aufbegehren gegen die römischen Soldaten. An der Seite von
Quintus leistete er Widerstand und gab alles, um seine Familie zu beschützen.
„Azok!“, schrie sie aus
Leibeskräften. Ihre Stimme durchdrang den Lärm des Kampfes, und er riss den
Kopf zu ihr herum. „Sie haben Briana!“ Nachdem sie diese Worte ausgesprochen
hatte, brach Aurelia unter der Last ihrer Gefühle zusammen.
Augenblicklich stürzte Quintus zu
ihr und fing sie in seinen Armen auf. „Wo ist sie?“, fragte er und musterte ihr
Gesicht, wie um in ihm zu lesen.
Unfähig, ihm zu antworten,
deutete Aurelia in die Richtung, in die die Legionäre verschwunden waren.
„Du bringst Aurelia hier weg“,
wies Azok Quintus an, der inzwischen ebenfalls bei ihnen angelangt war, und
legte seinem Freund die Hand auf die Schulter.
Aurelia packte Azok am Arm und
starrte ihn entsetzt an.
„Ich hole Briana. Dann komme ich
nach“, sagte er. Es war ein Versprechen, dass er alles tun würde, um seine
Familie gut zu bewahren.
Schweren Herzens löste Aurelia
ihre Hand von ihm und ließ sich von Quintus von dem Schauplatz des Schreckens
fortbringen. Ihre Augen brannten vom Rauch, und die Schreie der Dorfbewohner
hallten unaufhörlich in ihren Ohren nach. Ohne Unterlass war ihr Blick auf den
Ort gerichtet, an dem ihr Mann in diesem Moment um ihr Kind kämpfte.
Die Schritte fort von ihrem Heim,
dem Dorf, das sie vor Jahren derart freundlich aufgenommen hatte, schmerzten
Aurelia. Es fühlte sich an, als würde sie einen Teil von sich selbst
zurücklassen.
Das Wissen, dass die meisten der
ehrlichen Menschen den Tod durch die Hand eines Römers fanden, brachte ihr Herz
dazu, sich beklommen zusammenziehen. Sie kam nicht umhin, sich wiederholt für
ihre Herkunft zu schämen und für das, wofür Rom stand: Unterdrückung,
Sklaverei, Tod.
„Komm weiter“, drängte Quintus
und zog Aurelia hinter sich her. „Wir müssen den Waldrand erreichen, bevor sie
ausschwärmen und uns finden.“
Die Dunkelheit des Waldes wirkte
wie ein undurchdringliches Labyrinth. Nichtsdestotrotz lief sie voran, denn es
war ihre einzige Hoffnung auf Überleben.