Montag, 29. Dezember 2025

[Schnipseltime] Bollywood & Götterkult von Ava Cooper


 

Als ich in meinem Sari vor der Klasse stehe, bin ich mir auf einmal nicht mehr sicher, ob die Idee so genial war. Um die Mundwinkel unserer Klassenclowns Malte und Lars zuckt es. Ich hätte ahnen müssen, dass ihnen die scheinbare Verkleidung eine Steilvorlage liefert. Aber manchmal denke ich, gleichaltrige Jungs wären reifer, als sie sind.

Ich lasse den Blick weiter wandern durch die Reihen. Auch andere Kerle grinsen amüsiert vor sich hin. Nur Stefan und Karsten, unsere kleinen Streberseelen, wirken beseelt. Zumindest die Mädchen sehen den Sari bewundernd an. Der Bollywoodboom wirkt anscheinend immer noch nach.

Unserem Gemeinschaftskunde-Lehrer, Herrn Lehmann, scheint meine Kleidung ebenfalls zu gefallen. Er lächelt mich so herzlich an wie schon lange nicht mehr. Seit ich ihm mal gesagt habe, wie langweilig ich seinen Unterricht finde. War vielleicht nicht meine cleverste Idee, gebe ich zu.

Mit pochendem Herzen warte ich, dass es acht Uhr wird. Dann schließt Herr Lehmann die Tür und stellt sich neben mich. »Guten Morgen, in die Runde. Heute wird Rike uns etwas über Indien erzählen – ein faszinierendes Land.« Er deutet auf mich. »Bitte, teile dein Wissen mit uns.«

Ich nicke ihm zu und koppele mein Handy mit dem Lautsprecher. Danach drücke ich auf Play und die markanten Klänge einer Sitar füllen den Raum. »Indien ist nicht nur ein Land«, meine Stimme mischt sich harmonisch mit der Musik, »es ist ein ganzer Kontinent. Ein Kontinent der Vielfalt. Ein Ort, an dem Tradition und Moderne aufeinandertreffen ...«

Plötzlich höre ich Gelächter aus der letzten Reihe. »Oh, der wandelnde Teppichladen kann sprechen«, ruft Lars.

Dieser dämliche Vollhonk! Die altbekannte Wut kocht in mir hoch. Diesmal ist sie heißer, aggressiver als sonst. Es kommt mir vor, als spürte ich wieder Flammen auf meiner Stirn. Nein! Keine Hallus in der Schule. Eisern verdränge ich die Gedanken an die dunkle Göttin.

Herr Lehmann, der seitlich von mir sitzt, sieht den Störenfried mit einem strafenden Blick an. Mal sehen, ob ihn das beeindruckt. Sonst fand ich ihre Sprüche manchmal ja lustig. Jetzt, wo mir etwas wichtig ist, nervt es nur.

Ich halte Kali im Zaum, bemühe mich um die indische Gelassenheit, die ich an Amal so bewundere. »Mit über 1,4 Milliarden Einwohnern ist Indien nach China das zweitbevölkerungsreichste Land der Welt. Und es könnte China in naher Zukunft überholen, weil es keine Ein-Kind-Politik hat.« Halb rechne ich mit einem dummen Spruch, aber oh Wunder, die Lästermäuler aus der letzten Reihe sind ruhig. Vermutlich, weil sie ebenso wenig Bock auf Sitzenbleiben haben wie ich. Zumindest bei Lars könnte das knapp werden, wie ich aufgeschnappt habe.

Ich mache eine kurze Pause, lasse die Zahl wirken. »In der Weltwirtschaft ist Indien eine aufstrebende Macht, mit einem Bruttoinlandsprodukt von über drei Billionen Euro. Das Land hat sich in den letzten Jahren schnell entwickelt und einen enormen Einfluss auf die globale Ökonomie.«

Herr Lehmann wirkt wenig beeindruckt. Na gut, er wollte mehr über das echte Indien hören, das hatte er ja gesagt.

Ich gehe ein paar Schritte, meine Hände gestikulieren, als würde ich die Worte malen. »Aber Indien besteht nicht nur aus Zahlen. Es ist ein Gefühl. Es ist das Land des Taj Mahal, der farbenfrohen Feste, der exotischen Gewürze und von Bollywood. Außerdem beinhaltet der Subkontinent eine faszinierende Mythologie und eine reiche Götterwelt.«

»Passt auf, dass sie euch nicht mit ihrem Zauberstoff erstickt!« Natürlich muss Malte auch lästern.

»Die haben mehr Götter, als ein Mensch sich merken kann. Und alle sehen seltsam aus.« Lars prustet los.

Meine Stirn wird heißer. Beinahe glaube ich zu spüren, wie Kalis Flammen meine Stirn versengen. Aber das ist natürlich Einbildung. Muss es sein. Außerdem blendet meine Wut sowieso alle anderen Gefühle aus. Mit bebenden Lippen und flammenden Augen wende ich mich den Idioten zu.

Herr Lehmann öffnet den Mund. Doch ich bin schneller.

»Genug!« Meine Stimme hallt durch den Raum, als habe die Göttin selbst gesprochen. Ich fixiere mit meinen Blicken erst Lars, dann Malte, während ich die Wut in mir aufsteigen lasse. »Redet nicht über Dinge, die ihr niemals verstehen werdet. Die indischen Götter sind viel mächtiger, als ihr beiden Flachwichser euch vorstellen könnt!«

Ich hebe meine Arme – sind da nicht auf einmal vier im Schatten zu sehen? – und wedele damit herum. Die Bewegungen sind nicht willkürlich, sondern entspringen einem bestimmten Schema. Seltsame Laute kommen mir über die Lippen, die ich intuitiv als indisch erkenne. Es ähnelt nicht der weichen Sprache, die Amal mit seinen Freunden redet. Sie klingt härter und ich spreche die Worte mit mehr Kraft. Meine Stirn wird wieder heiß, aber ich begrüße die Glut. Ich rieche Rauch. Einbildung. Alles nur Einbildung.

»Scheiße, es brennt!«, brüllt Lars und springt auf. Tatsächlich kokelt es in seiner Hose.

 Keine zwei Sekunden später jumpt Malte wie von der Tarantel gestochen auf. »Bei mir auch!«

Ich weiß nicht, ob ich lachen, weinen oder erstarren soll. Durch mein Innerstes fließen all diese Gefühle auf einmal. Herr Lehmann reagiert sofort. Er läuft mit schnellen Schritten zum Wasserhahn, befüllt eine Vase und geht damit zu den beiden. Er schüttet erst Lars und anschließend Malte etwas über die Hose. Natürlich vorne, wo es glimmt.

»Einnässer!«, ruft nun jemand und die ganze Klasse lacht.

Ich kann nicht anders, ich lache mit. Aber ich merke, dass sich mein Lachen hysterisch anhört. Was um alles in der Welt ist da geschehen? Wieso haben die Jungs gebrannt?

»Das warst du!« Lars schaut mich finster an.

Ich schnaube. »Wie soll ich das denn gemacht haben?«

»Na, mit Voodoo.«

»Klar. Weil das ja auch so typisch indisch ist.«

»So, jetzt reicht es mit euch«, greift Herr Lehmann ein und tritt zu mir nach vorne. »Rike hat ganz bestimmt kein Feuer gelegt, nur weil sie Sanskrit gesprochen hat.«

So heißt also die Sprache, die ich von mir gegeben habe. Es klingelt in mir. Amal hatte etwas darüber erzählt bei seinem Unterricht. Sie ist ein paar tausend Jahre alt. Wieso um alles in der Welt kann ich sie?

»Allerdings schlage ich vor, wir beenden das Referat an dieser Stelle, bevor es weiter aus dem Ruder läuft. Rike, Lars, Malte – mit euch möchte ich nach der Schule reden.«

In meinem Inneren höre ich das leise Lachen von Kali und mein Blut gefriert zu Eis. Was, wenn sie keine Illusion ist?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Mit dem Abschicken des Kommentars bin ich mit den Datenschutzrichtlinien des Blogs einverstanden.