Zur Einordnung: Wir sind ganz zu Beginn des Buchs. Es ist
Sommer und Ole auf Heimatbesuch. Er hat gerade in dem Museumsdorf, in dem er
als Jugendlicher immer gern war, bei der Emmer-Ernte geholfen und Klaus, der
Museumsdirektor, hat ihm angeboten, seine Nachfolge anzutreten. Ole hat kein
Interesse an dem Job – noch...
Aber jetzt: die Leseprobe. Das Kennenlernen von Ole und
Marius. Oder ist es ein Wiedersehen?
Statt das Museumsgelände zu verlassen, halte ich auf den
kleinen Kiosk zu. Ich brauche noch einen Moment, bevor ich losfahren kann.
Museumsdirektor in der deutschen Provinz. Das kommt für mich so gar nicht in
Frage. Auch wenn es natürlich schmeichelhaft ist, dass Klaus an mich denkt.
Beim Kiosk erstehe ich einen Kaffee im Pappbecher und einen
Donut, der nur so semifrisch aussieht. Am Essensangebot könnte der neue
Direktor noch so einiges verbessern. Nicht, dass mich das betrifft.
Inzwischen hat es aufgehört zu regnen und der Liegestuhl
unter der großen Eibe sieht halbwegs trocken aus, also lasse ich mich
hineinfallen. Uff, tut das gut. Ich strecke die Beine aus und lege den Kopf in
den Nacken. Ganz kurz gestatte ich mir, die Augen zu schließen – dann spüre ich
plötzlich etwas Nasses, Heißes auf meiner Hand. Ich reiße die Augen wieder auf
und zucke vor. Dabei verschütte ich noch mehr Kaffee.
„Scheiße, verdammte!“
Fluchend stelle ich den Becher auf den Boden und schüttle
meine Hand aus, dann pflücke ich die hauchdünne Serviette vom Donut, stecke mir
den Donut in den Mund und wische meine Finger trocken. Na ja, trockener
zumindest.
Der Donut schmeckt übrigens so, wie er aussieht. Pappkarton
mit Zuckerguss.
Plötzlich fällt ein Schatten auf mich. Schwarze Lederschuhe,
die heute früh sicher noch geglänzt haben, jetzt aber etwas staubig sind von
den Kiespfaden, schieben sich in mein Blickfeld.
„Ole?“
Ich sehe auf – und die Welt bleibt stehen. Diese Augen …
Seine Augen sind das Erste, was mir auffällt. Ein helles Blaugrün, stechend und
warm zugleich.
Ich habe keinen festen Typ, hatte ich noch nie. Meistens
halte ich mich an aufgepumpte Männer, weil das schlicht diejenigen sind, die
man überwiegend auf den Partys findet, wo ich Kerle aufzureißen pflege. Die
Community ist oberflächlich und wer das Gegenteil behauptet, lügt. Sven oder
auch David sind Paradebeispiele für die Kerle, mit denen ich normalerweise
etwas habe. Der Mann vor mir ist das komplette Gegenteil von David oder Sven,
aber er hat etwas, das ihn viel, viel anziehender macht. Diese intelligenten
Augen und den etwas scheuen Blick.
Ein bisschen wie Lady Di.
Ja, schlagt mich, ich war in meiner Kindheit großer Lady
Di-Fan. Elton John hätte neben mir noch seriös gewirkt.
Nach einem schier endlosen Moment schaffe ich es, mehr von
ihm wahrzunehmen als diese unglaublichen Augen. Er hat ein rundliches Gesicht,
weich und sanft, und so kurz geschnittenes Haar, dass ich nicht erkennen kann,
ob es aschblond ist oder grau. Kurz lasse ich meinen Blick über seinen Körper
schweifen. Eleganter Anzug, hellgrau, gut geschnitten. Pinke Krawatte. Er ist
nicht schlank und durch und durch perfekt. Und Gott, sind seine Hände schön.
Elegante Finger, lang und schmal und deutlich maskulin. Diese Finger auf meinem
Schwanz, an meinen Eiern, und weiter nach hinten streichelnd, zart und doch
bestimmt und …
Es dauert eine peinlich lange Weile, bis mir bewusst wird,
dass er mich genauso anstarrt wie ich ihn. Er hat etwas gesagt, oder? Ja, er
hat etwas gesagt. Aber was? Ich krame in meinem Hirn, während ich hoffentlich
unauffällig meine Hand an meiner Hose abwische. Er legt den Kopf schief und
zuppelt an seiner Krawatte herum.
Ah, das war’s! Er hat meinen Namen gesagt. Okay, darauf
lässt sich doch etwas Intelligentes erwidern. Ich räuspere mich und durchforste
mein Hirn noch etwas mehr. Ich bin gut mit Anmachsprüchen und sehr charmant.
Jetzt gerade ist davon jedoch nichts zu spüren.
„Kennen wir uns?“ Mehr bringe ich nicht heraus. Wie
unglaublich clever.
„Ähm, ja. Wir waren zusammen in der Schule.“
„Wirklich?“ Ich stemme mich hoch, weil ich sonst von meiner
Position im Liegestuhl einen Nackenkrampf kriege, wenn ich immer zu ihm
hochsehe. Blöderweise melden sich meine strapazierten, überbeanspruchten
Muskeln und ich winde mich aus dem Liegestuhl wie ein alter Mann, schwerfällig,
langsam und ächzend. Sogar die Hand muss ich mir in den Rücken legen, als ich
es endlich auf die Beine geschafft habe und mich mühsam geraderichte.
Er senkt den Blick, während ich die Schultern kreisen lasse
und mit dem Nacken knacke. Jetzt, wo er mich nicht mehr überragt, stelle ich
fest, dass er fast einen Kopf kleiner ist als ich. Gefällt mir.
„Ich war zwei Jahre unter dir. Marius“, sagt er, während er
eingehend seine Schuhspitzen studiert.
Ich nutze den Moment, um ihn ein weiteres Mal gründlich zu
mustern. Ich versuche, den Teenager in ihm zu sehen, der er mal war. Pickelig
und mit Babyspeck vielleicht oder hager und ungelenk. Es gelingt mir nicht. Er
kommt mir nicht im Entferntesten bekannt vor.
Ich schüttle den Kopf und schenke ihm ein entschuldigendes
Lächeln. „Tut mir leid. Ich kann mich nicht an dich erinnern. Was eine Schande
ist.“
Er sieht auf, schluckt und senkt den Blick wieder. „Ach was,
das … Schon gut. Kann ich verstehen. Ich meine …“
Leider sagt er mir nicht, was er meint.
Ich nehme meine Kappe ab und fahre mir durchs Haar. Durchs
schweißnasse, völlig verklebte Haar. Oh Gott, ich muss furchtbar aussehen. Und
auch dementsprechend riechen.
Automatisch mache ich einen Schritt zurück. Zum Glück kommt
der Wind von vorne, da gibt es zumindest eine geringe Chance, dass Marius nicht
die volle Breitseite meiner Ausdünstungen abbekommt.
Wo ich schon beim Thema bin, halte ich die Nase in den Wind
und schnuppere ein wenig. Ich meine, eine Ahnung seines Dufts abzubekommen. Er
riecht sogar gut. Ein Aftershave oder Parfum, das kann ich nicht einordnen, und
welcher Duft genau es ist, weiß ich auch nicht, weil ich mich für diese Dinge
noch nie interessiert habe. Was ich aber sagen kann, ist: Ich mag den Geruch.
Und er passt genauso wenig hierher wie sein schicker Anzug.
„Was machst du hier?“, frage ich aus dem Gedanken heraus.
„So schick geht man normalerweise doch nicht ins Museum.“
„Ich hab einen Termin mit Herrn Fraunberger.“
„Ah. Der ist gerade in sein Büro gegangen.“
Marius zückt sein Handy und schaut kurz darauf. „Ich hab
noch ein paar Minuten. Ich war viel zu früh dran, darum habe ich mir noch einen
Kaffee gekauft.“
„Anscheinend bist du damit besser zurechtgekommen als ich.“
Ich wedle mit meiner armen verbrühten Pfote.
Er grinst. „Zum Glück, ja.“ Endlich sieht er wieder auf und
mir in die Augen und – uff. Das ist … So heftig habe ich ewig auf niemanden
mehr reagiert.
Automatisch fahre ich mir noch einmal durch das klebrige
Etwas, das mal meine Haare waren, und mache einen Schritt auf ihn zu. „Hey,
ähm, ich bin nicht mehr lange in der Gegend, aber darf ich dich morgen
vielleicht auf einen Kaffee einladen? Auf einen, der sich nicht wehrt, wenn man
ihn trinken will.“
Marius schaut über meine Schulter hinweg in Richtung des
Museumsgebäudes. „Das ist nett, aber ich fahre morgen in den Urlaub.“
Er klingt etwas abwesend und macht dann tatsächlich einen
Schritt um mich herum. Ich drehe mich um, nur um festzustellen, dass Klaus mit
schnellen Schritten und einem breiten Lächeln auf uns zukommt.
„Herr Meier, wie schön, dass Sie da sind. Ich habe Sie aus
dem Fenster gesehen und dachte mir, ich hole Sie ab“, sagt er und schüttelt
Marius herzlich die Hand. „Und unseren Ole haben Sie auch schon gefunden.“
„Wir kennen uns aus der Schule“, sage ich, obwohl ich mich
nicht daran erinnere.
„Ah, ist das so? Das Leben ist voller Zufälle, nicht wahr?
Aber kommen Sie, Herr Meier, wir haben viel zu besprechen.“ Mit einer
ausladenden Handbewegung bedeutet Klaus Marius, ins Hauptgebäude zu gehen. An
mich gewandt fügt er hinzu: „Denk darüber nach, was ich gesagt habe, ja?“
Bevor ich antworten kann, führt er Marius nach einem letzten
Winken die Treppe zum Museum hinauf.
„Tschüss!“, rufe ich ihnen nach.
An der Tür dreht Marius sich noch einmal zu mir um. Als er
bemerkt, dass ich ihn ansehe, schaut er sofort wieder nach vorn und stolpert
beinahe über die eigenen Füße. Ich grinse leicht und gönne mir einen Blick auf
seinen Hintern, der durchaus mit seinen Augen mithalten kann. Doch nein, selbst
wenn ich am laufenden Band solche Termine haben sollte: Museumsdirektor werde
ich hier auf gar keinen Fall.