Gerechtigkeit ist ein großes Wort. Das liegt daran, dass
es ein Substantiv ist und deswegen großgeschrieben werden muss. Aber auch vom
Sinn her beinhaltet es so viele Aspekte, dass ein Haufen anderer Begriffe
notwendig ist, um Gerechtigkeit angemessen beschreiben zu können, weswegen es
klüger wäre, von einem dicken Wort zu sprechen.
Die altehrwürdigen Philosophen aus Skepthomos und
Funktionalis wussten dies. Deshalb zeigten Darstellungen der Göttin Judith
oftmals eine übergewichtige Frau, die auf dem Ende einer Wippe saß, wobei sie
den Rest der Menschheit auf der anderen Seite in die Höhe stemmte. Daher auch
die Sprichwörter: »Gerechtigkeit wiegt schwer« und »Sitz immer auf Judiths
Seite der Wippe, damit du nicht hart auf deine Kehrseite schlägst, wenn die
Gerechtigkeit aufsteht, um die Seiten zu wechseln.«
Letzteres geht vor allem auf Sultan Haptschu von Arhagat
zurück, welcher von einem Tag auf den anderen entschied, dass es jetzt gerecht
sei, Dieben die Hand abzuhacken und Bürgern aus unteren Schichten höhere
Steuersätze aufzubürden. Es ist sicher müßig zu erwähnen, dass ein Großteil der
Bevölkerung dies gänzlich gegenteilig empfand. Nur wenige Jahre später galt es
in Arhagat als gerecht, einen tyrannischen Sultan aus dem Fenster seines
Palastes zu werfen.
Die Philosophen zogen aus dieser und anderen
Beobachtungen den Schluss, dass Gerechtigkeit im Auge des Betrachters liegt und
jeder Mensch sein ganz eigenes Empfinden von Moral entwickelt. Dass unter
diesen Gegebenheiten nicht immer alles reibungslos läuft und all die kleinen
individuellen Vorstellungen miteinander kollidieren, ist die logische
Konsequenz. Doch Funktionalis wäre nicht Funktionalis, wenn seine Philosophen
in all diesen Wirren keinen Konsens schaffen könnten. Und so brachen sie ihre
Überlegungen auf die eine fundamentale Aussage herunter, bei der sich alle
einig waren: Ungerechtigkeit ist eine schlimme Sache. Das wusste zwar jedes Geschöpf
aus angeborener Intuition selbst, aber … Nun, das Thema hatten wir
bereits.
Der Philosoph Diaphotikles ging deshalb noch einen
Schritt weiter. Er formulierte seine Gedanken zur Ungerechtigkeit wie folgt:
»Auch wenn Gerechtigkeit an sich nichts Greifbares darstellt, so tut es doch
die Auswirkung erlebter Ungerechtigkeit. Denn wem Unrecht widerfährt, hat alles
Recht auf Empörung und Zorn. Wird dieses Unrecht nicht negiert, so können die
Empfindungen in Trauer umschwingen, bis der Gebeutelte resigniert und sich
fügt … oder rebelliert.«
Nun, die erste Phase des von Diaphotikles aufgestellten
Postulats hatte Felia bereits durchlaufen. Ihr Besuch bei Fräulein Manierlich
war schlechter ausgefallen, als sie erwartet hatte. Für das zerbrochene
Geschirr hatte Fräulein Manierlich sie zu einem weiteren Nachmittag in der
Küche verdonnert. Und zwar heute. Am Tag des Rennens!
Traurig hockte Felia in der Vorratskammer und entkernte
Kirschen – eine lästige Arbeit für ihre ungeschickten und zerschnittenen
Finger. Tränen hinterließen salzige Spuren auf ihren geröteten Wangen und
immer, wenn Felia daran dachte, dass sie das Rennen heute nicht sehen würde,
kullerten neue aus ihren Augen hervor.
Während der Arbeit zogen die ersten rebellischen
Gedanken durch ihren Kopf: Das ist ungerecht! Ich habe meine Strafe
abgesessen – eine Strafe, die ich überhaupt nicht verdient habe! Na gut,
diesmal habe ich wirklich Mist gebaut. Das Porzellan war sicher teuer.
Meinetwegen habe ich zusätzlichen Küchendienst verdient … aber doch nicht
am Tag des Rennens, während alle anderen ihren freien Nachmittag genießen
dürfen! Ich habe das doch nicht mit Absicht getan.
Eine Kirsche zerplatzte in ihren Händen.
Wenn die alte Garzart glaubt, dass sie mich hier so
einfach einsperren kann …! Die letzten Monate über hat man mir von diesem
Rennen erzählt, jetzt will ich es auch miterleben! Ich will in der Menge stehen
und den Fahrern zuwinken; ich will die feierliche Parade der Stadtwache sehen
und ich will dabei eine der berühmten Zuckerstangen essen!
Entschlossen erhob sie sich von ihrem Stuhl.
Und wie stellst du dir das vor, kleine Felia?, säuselte
eine Stimme in ihrem Kopf. Einfach abhauen und deine Arbeit liegen lassen?
Das wird der Köchin und Fräulein Manierlich ganz und gar nicht gefallen.
Felia sackte resigniert zurück und ergab sich ihrem
Schicksal. Besser, wenn sie sich nicht noch mehr Ärger einhandelte. Sie konnte
das Rennen immer noch nächstes Jahr miterleben.
Sie wollte sich gerade wieder den Kirschen zuwenden, als
Livian durch die Tür zum Hinterhof eintrat. In den Händen wuchtete er einen
großen Korb voller Kartoffeln.
Livian! Mit ihm hatte sie nicht gerechnet, schließlich
sollte er doch bereits frei haben. Hastig wischte Felia sich mit dem Ärmel über
die Augen, um zu verbergen, dass sie geweint hatte. Wie sollte sie ihm bloß
mitteilen, dass sie seine Einladung nicht annehmen konnte? Und was würde er
denken, wenn sie ablehnte? Vermutlich nichts, er würde einfach jemand anderen
fragen. Der Gedanke war unerträglich. Ihre beste Chance, an diesem Internat
einen Freund und Verbündeten zu gewinnen, und sie konnte sie nicht nutzen.
Livian stellte den Korb zu den restlichen Vorräten
hinten in die Ecke. Noch hatte er sie nicht bemerkt. Vielleicht würde er das
auch nicht, wenn sie sich still verhielt. Sie könnte später einfach sagen, dass
sie Fieber gehabt hatte und …
Livian wandte sich um, doch anstatt sich dem
Hinterausgang zuzuwenden, trat er weiter in den Raum hinein, wodurch sich ihre
Blicke trafen. »Hallo Felia«, begrüßte er sie freundlich. In der nächsten
Sekunde runzelte er skeptisch die Stirn. »Geht es deinem Rücken nicht gut? Du
sitzt so krumm.«
Erst jetzt fiel Felia auf, dass sie sich instinktiv
geduckt hatte, um sich hinter der Tischkante zu verstecken. Sofort richtete sie
sich auf. »N-nein«, stotterte sie hastig. »Mir ist nur … nur eine Kirsche
runtergefallen. Siehst du?« Hastig hob sie Beweisstück A auf und lächelte
gezwungen. »Äh … was anderes: Was machst du hier? Du bist zu früh. Wir
sind erst um zwei verabredet.«
»Ich weiß.« Livian trat näher an den Tisch heran. »Mein
Meister meinte, ich solle solange in die Küche gehen und fragen, ob ich einem
der süßen Küchenmädchen zur Hand gehen kann. Er sagte, wenn ich Glück habe,
bekomme ich nachher einen Kuss auf die Wange.«
Felia merkte, wie ihr das Blut angesichts dieser
entwaffnenden Ehrlichkeit heiß ins Gesicht schoss. »Die Küchenmädchen haben
alle schon frei«, sagte sie, unschlüssig, was sie darauf erwidern sollte.
»Ja, das sehe ich«, antwortete Livian mit einem Blick am
Tisch vorbei. »Du könntest nicht zufällig damit aufhören, Schülerin zu sein und
dich stattdessen von der Köchin in die Lehre nehmen lassen, damit ich der
Aufgabe meines Meisters nachkommen kann?«
Verdutzt ließ Felia die Kirsche sinken. Flirtete er etwa
mit ihr? Nein, unmöglich! Niemand tat das. Schon gar nicht ein Junge wie
er … oder doch?
Dann begann sie zu lachen. Es war ein befreiendes
Lachen, das all die Anspannung in ihr löste, all den Zorn und die Trauer, die
sie in den letzten Stunden beständig mit ihrer Gesellschaft belästigt hatten.
Sie wollte aufhören, befürchtete sie doch, sich albern zu benehmen, aber jetzt,
da der Staudamm einmal eingerissen war, brach alles aus ihr hervor und ließ
sich nicht aufhalten. Livian stand verdutzt daneben und trug einen Ausdruck im
Gesicht, der ihre Erheiterung nur noch steigerte.
Als sie schon drohte, keine Luft mehr zu bekommen, ebbte
der Lachanfall glücklicherweise ab und Felia hielt sich den schmerzenden Bauch.
»Du bist echt lustig«, sagte sie seufzend und wischte sich eine Träne aus den
Augenwinkeln. »Komm, setz dich doch zu mir.« Sie deutete auf den zweiten Stuhl,
den Livian sogleich besetzte. Erwartungsvoll sah er sie an.
»Und wie soll ich jetzt die Aufgabe meines Meisters
erfüllen?«, fragte er, als sei nichts gewesen.
»Ich weiß nicht«, entgegnete Felia schnippisch und fuhr
mit der Entkernungsarbeit fort. »Wie gesagt, die Küchenmädchen sind bereits
alle unterwegs. Nur Frau Garzart ist noch da. Sie macht sich nichts aus Festen.
Vielleicht versuchst du es bei ihr?«
Livian überlegte. »Nein«, antwortete er schließlich.
»Die Köchin ist kein Mädchen und schon gar nicht süß. Du hingegen schon.«
Felia ließ die Kirsche fallen. Teldun steh mir bei!
Er flirtet wirklich mit mir! Oh verflucht, was soll ich nur tun?
»Sag mal«, ergriff Livian abermals das Wort. »Dein
Bluthochdruck ist doch nicht gefährlich, oder?«
Panisch schüttelte Felia den Kopf.
»Oh gut. Ich frage nur, weil du das ziemlich oft
hast – das im Gesicht.«
»Nein, alles bestens«, piepste sie.
Dann herrschte Schweigen zwischen ihnen. Felia starrte
konzentriert auf die Kirschen, die der Reihe nach durch ihre Hände wanderten,
um dem Jungen nicht in die Augen sehen zu müssen.
Du musst es ihm sagen!
Verzweifelt suchte sie nach einem anderen Thema, das sie
anschneiden konnte, aber ihr Kopf war wie leergefegt. Alle Gedanken kreisten um
das Rennen, um Livian, und um ihre Strafarbeit, die ihre gemeinsame Verabredung
vereitelte. Warum sagt er denn nichts? Teldun, bitte lass ihn was sagen.
Irgendwas! Egal was!
Er schwieg.
Felia hielt es nicht weiter aus. »Livian …«, sagte
sie zögerlich und ohne den Kopf zu heben. »Du … Ich kann heute nicht mit
dir zum Rennen gehen.«
»Aber wir sind verabredet.«
»Ich weiß«, erwiderte Felia traurig, »und es tut mir
furchtbar leid, aber ich muss hierbleiben und für Frau Garzart die Drecksarbeit
erledigen.«
Livian stutzte. »Du hast dich mit mir verabredet, obwohl
du wusstest, dass du Aufgaben zu erledigen hast?«, fragte er. Ein
vorwurfsvoller Unterton schwang in seiner Stimme mit – jedenfalls glaubte
Felia, einen solchen herauszuhören.
»Gute Güte, nein!«, widersprach sie heftig und sah zu
Livian, der ihr nur einen skeptischen Blick zuwarf. »Nein, das hätte ich doch
nie gemacht! Du erinnerst dich an das … Missgeschick, von dem ich dir
heute Morgen erzählt habe? Frau Garzart hat verlangt, dass ich den Schaden sofort
abarbeite. Und Fräulein Manierlich hat mir deswegen Hausarrest gegeben, obwohl
ich jetzt eigentlich frei hätte.« Traurig ließ sie die Schultern hängen. »Dabei
wollte ich das doch nicht. Ich habe es nicht mit Absicht getan.« Sie schielte
zu Livian, der sich nachdenklich zurückgelehnt hatte.
»Und wenn du der Köchin sagst, dass du eine Verabredung
hast?«, fragte er.
»Dann wird sie mich erst recht nicht gehen lassen!«
Felia schnaufte empört. »Sie ist ein fettes und herzloses Monster! Wenn sie
erfährt, dass sie mir meine Verabredung mit dir versaut, würde sie das nur umso
mehr freuen. Und das Schlimmste ist: Ich kann mich noch nicht einmal bei
Fräulein Manierlich beschweren, weil ich in ihren Augen sowieso … wertlos
bin.«
Erschöpft ließ sie ihr Kinn auf die Tischplatte sinken.
Immerhin … jetzt hatte sie es ihm gesagt. Blieb nur zu hoffen, dass Livian
das auch verstand. Er schien immer noch nachzudenken. Ob er bereits seine
innerliche Bekanntenliste nach jemand anderem durchforstete, der ihn jetzt zum
Rennen begleiten würde? Vermutlich …
»Wenn sie dich nicht gehen lässt«, begann Livian nach
einer Weile, »dann kann ich nicht mit dir zum Rennen gehen, sprich, unsere
Verabredung nicht einhalten. Das heißt, sie bestraft mich ebenfalls, obwohl ich
ihr nie etwas getan oder ihr einen Grund dazu gegeben habe.« Livian stand auf
und schob den Stuhl an den Tisch zurück. »Das geht nicht. Also komm, wir
besuchen jetzt das Rennen. Deine Aufgaben kannst du hinterher immer noch
erledigen.«
»Nein, das kann ich eben nicht!«, widersprach Felia und
schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Weißt du nicht, was Arrest
bedeutet? Es bedeutet, dass ich hier eingesperrt bin und nicht gehen darf! Wenn
sie bemerkt, dass ich abgehauen bin, dann erhalte ich nur weitere
Strafen – und du vermutlich auch und das will ich nicht! Fast ein Jahr
warte ich jetzt schon auf das Schlittenrennen und ich würde alles stehen und
liegen lassen und sofort mit dir kommen, aber es geht eben nicht. Verstehst du
das?« Wütend sprang sie auf und stieß ihren Stuhl dabei krachend zu Boden. »Ich
hasse es, hier eingesperrt zu sein!«
Die anschließende Stille war so laut wie ein
Gewehrschuss. Zitternd stand Felia da, die Hände zu Fäusten geballt und auf die
Tischplatte gestützt. Vermutlich würde Frau Garzart jeden Moment durch die Tür
stürmen und sie zusammenfalten. Sie musste sich besser beherrschen …
Livian hatte sich in der Zeit ihres kurzen Ausbruchs
nicht von der Stelle bewegt. Schweigend wartete er und sah sie aus seinen
dunklen Augen an, die Miene unbewegt.
»Du … freust dich auf dieses Rennen. Habe ich
recht?«, fragte er.
Felia brachte nur ein Nicken zustande, denn sie
befürchtete, die Tränen nicht länger zurückhalten zu können, sollte sie die
Worte aussprechen.
»Warte einen Moment hier. Ich löse das Problem mit der
Köchin.«
Felias Herz setzte für einen Schlag aus. »Nein bitte,
lass das! Das macht alles …«
Livian öffnete die Tür und betrat die angrenzende Küche.
»… nur noch schlimmer«, beendete sie den Satz
leise.
Dann wartete sie. Eine Minute. Zwei Minuten. Drei
Minuten …
Unruhe kam in ihr auf und sie fragte sich, ob sie Livian
folgen sollte. Bisher hatte sie das laute Organ der Köchin nicht vernehmen
können. Schaffte es Livian wirklich, normal mit ihr zu reden? Sie überlegte
gerade, ob sie es wagen sollte nachzusehen, als sich die Tür öffnete und Livian
zurück in den Vorratsraum trat.
»Alles in Ordnung. Wir können gehen«, sagte er.
Entwaffnet ließ Felia die Hände sinken. »Wie hast du das
gemacht?«
Der Junge zuckte mit den Achseln. »Ich habe ihr
verständlich gemacht, dass es nicht schön ist, eingesperrt zu sein.«
»Und das hat sie umgestimmt? Einfach so?«
Livians Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln und
einladend streckte er die Hand aus. »Komm mit«, sagte er.
Felia zögerte unsicher. »Kann ich dir vertrauen? Nicht,
dass ich nachher wiederkomme und es stellt sich heraus, dass du gar nicht bei
der Köchin warst und ich dann Ärger bekomme …« Sie brach ab, als sie
merkte, wie verletzend diese Worte klingen mochten. Aber sie konnte sich nicht
vorstellen, dass die Köchin ihre Verabredung einfach so genehmigt hatte.
»Natürlich war ich bei der Köchin.« Livians Lächeln
wuchs in die Breite. »Komm mit. Wir sind zum Rennen verabredet!«