Sonntag, 4. August 2024

[Schnipseltime] Ein Sommer an deiner Seite von Rosita Hoppe


 

Es war wie verhext. Während Felicitas versuchte, sich auf den Text zu konzentrieren, schweiften ihre Gedanken immer wieder ab zu dem Mann, bei dem sie die vergangene Stunde verbracht hatte. Viktor Gabriel hatte ihre Sinne vollkommen durcheinandergewirbelt.

»Was ist los?«, fragte Florian, der ihr gegenübersaß und sie beobachtete.

Felicitas schrak auf. »Was, wieso?«

»Du bist so abwesend.«

»Du spinnst.« Gerade hatte sie daran denken müssen, wie sie diesem Bildhauer jedes Wort aus der Nase hatte ziehen müssen. Bevor er sich dazu herabgelassen hatte, ihr ziemlich knapp auf ihre Fragen zu antworten, hatte er sie abschätzend mit hochgezogener Augenbraue begutachtet und der Ausdruck seiner Augen hatte sich verändert. Diesen Blick konnte sie nicht vergessen. Sie ärgerte sich, weil sie nicht einmal sagen konnte, ob sie diesen Ausdruck in seinen Augen als eher unangenehm oder als ein kleines bisschen angenehm empfunden hatte. Als sie sich von ihm verabschiedet hatte, hatte er sie noch einmal so komisch angesehen.

Mit äußerster Konzentration versuchte sie, den Bericht zu tippen. Mist! Sie hatte vergessen, ihn wegen der Sonnenuhr zu fragen. Dabei war es wichtig, zu erfahren, ob er außer mit Sandstein auch mit anderen Materialien arbeitete. Es könnte natürlich auch sein, dass er die Sonnenuhr gekauft oder geschenkt bekommen hatte. Felicitas griff zum Telefon und zog gleich darauf ihre Hand zurück. Nach seiner Telefonnummer hatte sie ihn auch nicht gefragt. So etwas war ihr noch nie passiert. Also würde sie noch ein drittes Mal zu ihm fahren müssen, möglichst sofort, denn der Artikel sollte umgehend erscheinen.

 

Wie würde er reagieren, wenn die nervige Tante von der Presse schon wieder auftauchte? Felicitas atmete tief durch, stieg aus dem Wagen und straffte ihre Schultern.

»Auf in den Kampf«, murmelte sie vor sich hin.

Sie traf Viktor Gabriel auf dem Hof nicht an. Der Steinblock, an dem er gearbeitet hatte, war mit einer Plane abgedeckt. Wahrscheinlich wegen des angekündigten Regens, vermutete Felicitas und wandte sich dem Haus zu. Die Eingangstür stand offen. Sie klingelte. »Herr Gabriel, sind Sie da?«, rief sie.

Keinerlei Reaktion. Vielleicht fand sie ihn hinter dem Haus. Doch auch dort konnte sie ihn nicht entdecken. Sollte aus einer zügigen Veröffentlichung des Artikels doch nichts werden? Alternativ könnte sie auf die zusätzliche Information verzichten, doch das wollte sie ungern tun. Noch einmal versuchte sie ihr Glück beim Haus. Wieder keine Reaktion auf ihr Rufen. Doch sie war für ihre Hartnäckigkeit bekannt und wollte immer noch nicht aufgeben. Vorsichtig trat sie durch den Eingang.

»Hallo! Herr Gabriel! Sind Sie da?«

Vollkommene Stille. Also schon wieder Pech gehabt. In dieser Reportage steckte wirklich der Wurm drin. Schulterzuckend machte sie kehrt und wollte die Tür gerade hinter sich schließen, als sie ein Geräusch im Innern des Hauses innehalten ließ. Das hörte sich doch an wie das Tapsen nackter Füße auf dem Fußboden. Er war also doch da.

Schon tauchte er vor Felicitas auf.

Das war doch … Felicitas schnappte nach Luft.

Er kam den Flur entlang, den Kopf gebeugt und rubbelte sich mit einem Handtuch sein Haar trocken. Da ihm ein Zipfel des Handtuchs vor dem Gesicht hing, schien er sie nicht zu bemerken. Ohne aufzusehen, schlenderte er zum Tisch in der Küche, die sich neben dem Eingangsbereich befand. Dort nahm er eine Flasche Mineralwasser vom Tisch und setzte sie an seine Lippen. Mit einer Mischung aus Faszination und Panik starrte Felicitas ihn an und biss sich auf die Lippen.

Da stand er, in Gedanken versunken – und nackt, wie Gott ihn erschaffen hatte.

Höchste Zeit zu verschwinden. Rückwärts, den Blick weiterhin auf ihn gerichtet, schlich sie auf Zehenspitzen zur Haustür. Hoffentlich bemerkte er sie nicht. Doch prompt knarrte eine Diele unter ihren Füßen und er drehte sich zu ihr um.

Die Überraschung war ihm anzusehen.

»Entschuldigung«, stammelte Felicitas und spürte die Hitze, die ihr ins Gesicht schoss. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe mehrmals gerufen und geklingelt habe ich auch. Ehrlich.«

»Soso.« Betont lässig schlang er sich das Handtuch, mit dem er sich eben die Haare frottiert hatte, um die Hüften. Ebenfalls betont lässig kam er auf sie zu.

Felicitas schluckte trocken. »Ich … ich komme lieber ein anderes Mal wieder.«

»Warum? Kommen Sie doch herein. Möchten Sie etwas trinken?«

Die Knie zitterten ihr, als er einfach nach ihrem Arm griff und sie in die Küche zog. Felicitas’ Blick blieb an seiner braun gebrannten Brust hängen. Was für ein Körper!

»Was führt Sie zu mir?«, fragte er.

»Ja also … ich habe da noch ein paar Fragen.«

»Okay, aber zuerst trinken wir etwas. Es ist mächtig heiß heute.«

Das kann man wohl sagen.

Er schlenderte zum Kühlschrank und nahm eine neue Flasche Mineralwasser heraus.

Felicitas konnte den Blick nicht von ihm und von dem Spiel seiner Muskeln wenden, als er die Flasche öffnete. Wie sollte sie ihm jemals vernünftige Fragen stellen können, wenn er so gut wie nackt vor ihr stand? Wie sollte sie jemals einen informativen und objektiven Text über ihn zustande bringen, wenn sie ständig seinen knackigen Körper vor Augen haben würde? Den würde sie vor Augen haben, das ahnte sie jetzt schon.

Mit dem gefüllten Glas kam Viktor Gabriel auf Felicitas zu. Dicht vor ihr blieb er stehen. Sie nahm das Glas und trank es hektisch aus. Währenddessen beobachtete er sie und sein Blick trug nicht gerade dazu bei, dass sie ruhiger wurde. Plötzlich hob er seine Hand und befühlte vorsichtig die Stelle an der Stirn, wo Felicitas der Splitter getroffen hatte.

»Wie ist das passiert? Das sollte versorgt werden.«

»Kaum der Rede wert«, wisperte sie.

»Keine Widerrede.« Er bugsierte Felicitas zum nächsten Stuhl. »Setzen Sie sich. Ich hole Verbandsmaterial.«

Wie in Trance nahm sie Platz und kaum eine Minute später verarztete Viktor sie. Die Wunde brannte, als er ein Desinfektionsmittel auftrug und sie konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken.

»Ist gleich vorbei«, murmelte er.

Er war so fürsorglich und seine Berührungen so sanft. Kaum zu glauben, dass er der gleiche Mann war, der bei ihrem ersten Zusammentreffen so zurückhaltend und wortkarg gewesen war.

»Vielen Dank.«

Mit einem Lächeln, das ihr durch und durch ging, zog Viktor sie vom Stuhl. »Dafür habe ich eine Belohnung verdient, oder?«

»Okay, ich werde einen besonders netten Bericht über Sie schreiben.« Sie bedachte ihn mit einem herausfordernden Blick.

»Das würden Sie sowieso tun.« Mit seinem Zeigefinger zeichnete er die Form ihrer Lippen nach und diese Berührung fand Felicitas äußerst erregend. Sie konnte ihren Blick nicht von ihm wenden. Die Farbe seiner Augen erinnerte sie an die klaren Bergseen, an denen sie in ihrer Kindheit mit ihren Eltern und ihrem Bruder Urlaub gemacht hatte, und sie verlor sich darin. Es erschien ihr wie Stunden, in denen sie nur dastanden und sich ansahen. Dann endlich kamen seine Lippen näher und mit einem Seufzer zog er sie an sich und küsste sie auf das Haar.

Ihr Gesicht lag nun an seiner nackten Brust. Sein Herz klopfte heftig und sein Brustkorb hob und senkte sich schnell. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine kleine Narbe oberhalb seiner rechten Brustwarze. Eine Verletzung, die während seiner Arbeit entstanden war? Fast war sie versucht, ihre Lippen darauf zu drücken. Sie konnte sich nur schwer beherrschen und biss sich auf die Unterlippe. Verwirrt hob sie den Kopf.

Viktor sah zu ihr herab. Seine Augen erschienen ihr jetzt um einige Nuancen dunkler. Mit beiden Händen griff er in ihr Haar und schob ihre widerspenstigen Locken zurück. Er beugte sich zu ihr herab. Sein Gesicht kam immer näher, und als sein Mund endlich den ihren berührte, schloss sie mit einem kleinen Seufzer die Augen. Seine Lippen waren heiß und fest und, als seine Zunge Einlass forderte, konnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Ihr Herz raste und das Blut pulsierte in ihren Schläfen. Niemals zuvor hatte der Kuss eines Mannes derartige Gefühle in ihr ausgelöst.

Plötzlich und unvermittelt ließ Viktor von ihr ab und schob sie zurück. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und dazwischen entstand eine tiefe Kerbe, die von seiner Nasenwurzel aus zur Stirn verlief. Mit diesem verkniffenen Ausdruck im Gesicht wandte er sich ab. Schwer atmend stützte er sich mit gesenktem Kopf am Küchentisch ab.

Felicitas zitterte noch vor Erregung. Was hatte dieser abrupte Stimmungswandel zu bedeuten?

»Viktor?«

»Du solltest besser gehen.«

»Warum?«

»Geh … jetzt sofort.«

»Aber …«

Als sie sah, wie Viktor den Kopf schüttelte, wurde ihr klar, dass er bereute, was da gerade zwischen ihnen geschehen war.

Tränen brannten ihr in den Augen, als sie sich hastig abwandte und ohne ein weiteres Wort das Haus verließ. Zweimal stolperte sie auf dem unebenen Weg, während sie tränenblind zu ihrem Auto rannte. Mit zitternden Fingern schloss sie die Autotür auf und ließ sich hinters Steuer sinken. Eine Weile blieb sie so sitzen, den Kopf auf das Lenkrad gelegt. Wie konnte sie nur so blöd sein! Noch einmal hier unangemeldet aufzukreuzen, nur wegen dieses dämlichen Artikels.

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