Dienstag, 12. März 2024

[Schnipseltime] Im Netz des Mörders von Nicky DeMelly

 

»Karl, tun Sie das nicht!« Bens Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. Hilflos warf er einen Blick über die Schulter auf seine Kollegen, die allerdings ähnlich überfordert wirkten wie er. Großartig. Warum war er doch gleich so schnell die Alutreppen dieses stillgelegten Teils der Fabrik hochgerannt? Damit er Karl nun am nächsten stand und es versaute? Ganz toll hinbekommen.

Er räusperte sich und machte einen zögerlichen Schritt nach vorne. Sein Gegenüber reagierte sofort und trat näher an die Schwelle zum Abgrund hinter ihm. Das Quietschen seiner Gummisohle auf dem Beton hallte in Bens Gehirn nach. Ein kaltes Grinsen lag auf Karls Gesicht, eine Spur von Wahnsinn blitzte in seinen Augen auf.

Er macht ernst!, schoss es Ben durch den Kopf. Der Druck in seinem Bauch erhöhte sich und brachte seinen Körper zum Beben.

Du musst etwas tun!

Aber was? Das war sein erster Einsatz als Kommissar! Wie sollte er wissen, was er dem Mann erzählen musste? In Gedanken ging er seine theoretischen Kenntnisse durch, die er sich in der Ausbildung angeeignet hatte. Damals hatte er sich genau diese Situation herbeigewünscht, um als strahlender Held daraus hervorzugehen. Ja, Probleme mit Minderwertigkeitskomplexen hatte er da nicht gehabt. Nun stand er hier und war überfordert wie nie zuvor in seinem Leben.

Dieses Anstarren brachte ihn nicht weiter. Langsam hob er die Hände – und ließ sie wieder sinken. Karl und auch seine Kollegen mussten nicht sehen, wie sehr sie zitterten. »Kommen Sie schon, lassen Sie uns reden. Weg kommen Sie hier sowieso nicht mehr und sterben wollen Sie doch nicht wirklich, oder? Es findet sich immer eine Lösung.«

Karl hob die Augenbraue und lachte lauthals los. »Der war gut!« Schlagartig wurde er wieder ernst. »Kleiner, was bist du denn für ein Bulle? Kennst du die Strafen für Mord nicht? Ich habe die Wahl zwischen lebenslänglich für die sieben Leichen oder zu springen. Was glaubst du, welchen Weg ich wählen werde?«

Ben schluckte schwer, er hatte keine Ahnung, was er darauf erwidern sollte. Warum zum Teufel kam von den anderen nichts? Erneut warf er einen flehenden Blick zurück, aber wer ihn nicht ignorierte, zuckte mit den Schultern. Verdammter Mist! Die konnten ihn doch jetzt nicht hängen lassen!

Doch. Konnten sie. Und sie taten es auch, als Karl einen weiteren Schritt nach hinten machte. Der Beton war zu Ende. Ebenso wie das Geländer, an dem er sich notfalls noch hätte festhalten können.

Tu endlich was!

Aber ihm fiel nichts ein, was er machen oder sagen könnte. Zumal er den Kerl verstehen konnte. An seiner Stelle hätte er nur eine Sache anders gemacht: Er hätte nicht gezögert.

Karl gab ihm die Chance, ihn aufzuhalten. Ihn festzunehmen, dorthin zu bringen, wo er hingehörte … hinter schwedische Gardinen. Und die würde er nutzen. Da ihm die Worte fehlten, konnte er nur noch handeln. Er atmete tief durch und spurtete los. Fünf, vielleicht sechs Schritte lagen zwischen ihnen. Schnell gemacht. Er musste ihn nur passend am Kragen erwischen. Gleichzeitig mit der anderen Hand das Geländer umklammern, damit sie nicht beide abstürzten. Das war zu schaffen!

Noch zwei Schritte. Er streckte die Arme aus. Einen in Karls Richtung, die andere Hand schwebte über dem Metallrohr. Er musste nur zugreifen, sobald er seinen Kragen hatte.

Noch ein Schritt. Warum kam er nicht näher?


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