Donnerstag, 18. Januar 2024

[Schnipseltime] Der Schwur des Alphas - Rune Moon Wolves 1 von Lara Kalenborn

 

Da ist ein Mann in meinem Bett, der dort definitiv nicht sein sollte.

Mit leichter Unruhe in meinem Blut kaue ich auf der Unterlippe herum und versuche, mich auf die Wärme der Teetasse in meinen Händen zu konzentrieren. Doch es gelingt mir nicht, weil ich an den Moment zurückdenke, als ich vor einigen Minuten ausgerechnet Titan, den Sohn meiner Alphawölfin, schlafend neben mir entdeckt habe. Wir beide waren bis auf unsere Runenketten nackt und sofort wusste ich, dass ich Mist gebaut hatte.

Sommerstimmung im Rudel, höllisch attraktive Männer und eine innere Wölfin, die Lust auf Ablenkung hat, sind eben keine gute Mischung.

Lautlos seufzend streiche ich mir eine Strähne meines hellblauen Haares hinter das Ohr. Bevor meine Mom weißes Haar bekam, war es ebenso hellblau wie meins. Mit dem kleinen Unterschied, dass ich nicht ihre dunkelbraunen, sondern Dads graublaue Augen dazu vererbt bekommen habe, sehe ich ihr recht ähnlich. Anders als meine großen Zwillingsschwestern Kimberly und Kendall. Sie kommen als Erstgeborene total nach Dads Linie, worum ich sie früher in Bezug auf die Größe ihrer Wölfe einige Male beneidet habe. Heute weiß ich, dass es unter Wölfen kein bisschen auf die körperliche Statur ankommt, sondern auf die Aura der Macht, die einen von Geburt an umgibt.

Sofort muss ich an meine Alphawölfin denken. Riguri ist mein großes Vorbild. Nicht viele Rudel unseres Landes werden von Frauen geführt und keines ist so groß wie das Ek Dal Rudel. Riguri ist eine einschüchternde Wölfin, voller Weisheit und Liebe.

Und jetzt habe ich sie mit Sicherheit gegen mich aufgebracht …

Traurig starre ich auf Titan. Einen Wolf zu wecken, ist niemals eine gute Idee, also lasse ich ihn schlafen, obwohl ich nichts mehr ersehne, als ihn fortzuschicken, um die letzte Nacht mit ihm zu vergessen. Bisher war es mir gelungen, Titan aus dem Spiel meiner instinktiven Seite herauszuhalten. Immerhin sind wir beste Freunde, haben unsere Kindheit und Jugend zusammen verbracht und diese Verbindung wollte ich nie gefährden. Doch seitdem ich vor zehn Wochen in eine mehr als gefährliche Lage geraten bin, habe ich mein inneres Tier weniger und weniger unter Kontrolle gehabt. Nun liegt der bisher größte Kontrollverlust in meinem Bett und träumt friedlich.

Titan ist aber auch einfach zu verlockend gewesen, denke ich und streife mit meinem Blick über seinen göttlichen Körper, der ausgestreckt auf meinem plötzlich klein wirkenden Bett liegt.

Der Sohn der Alpha ist noch sehr jung. Gerade zwanzig geworden und doch so eindrucksvoll männlich, wenn er will, dass es mich einfach zu sehr gereizt hat, mit ihm etwas anzufangen. Sein weißes Haar erinnert an den weißen Wolf, zu dem er wird, wenn er sich wandelt. Die schwarzen Augenbrauen dazu und die langen Wimpern gefallen mir. Ganz abgesehen von seiner breitschultrigen Statur und dem schlanken, athletischen Körper … Ich erschaudere, weil mich jede ledige Frau unseres Rudels um diese Nacht beneiden wird. Titan ist ein junger, starker Wolf, der gern seine Zunge benutzt. Aber ich? Ich will ihn am liebsten so schnell wie möglich loswerden.

Denn er ist es nicht!

Der Gedanke wühlt mich auf, lässt mich sogar etwas zusammenzucken. Kurz schließe ich die Augen und nehme einen Schluck meines beruhigenden Tees.

Alles wird gut, Kessy!, flüstere ich mir innerlich zu und wage nicht, an den schrecklichsten all meiner Fehler zu denken, der mit einem ganz anderen Mann zusammenhängt. Zum Glück regt Titan sich in diesem Moment und lenkt mich ab. Er stöhnt leise, was mich in die letzte Nacht zurückversetzt. Mit einem Hauch von Stolz erinnere ich mich daran, wie schön es war, ihn vor ein paar Stunden viel lauter zum Stöhnen zu bringen. Der Sex mit ihm war gut. Titan weiß, was er tut, obwohl er noch so jung ist. Doch das ist unter Wölfen nicht ungewöhnlich. Weil wir alle sehr körperliche Wesen sind, probieren wir uns früh aus und genießen die Nähe der anderen sehr. Besonders bei unseren Rudeltreffen, die alle paar Monate zum Runenmond stattfinden, toben wir uns aus.

Natürlich ist das Bedürfnis nach Berührung von Wolf zu Wolf unterschiedlich stark ausgeprägt. Aber Titan und ich gehören definitiv zu denen, die Zärtlichkeiten in besonderem Maße genießen. Das sieht man dem Verhalten eines Rudelmitgliedes einfach an. Soweit ich weiß, verspüren zwar alle Gestaltwandler große Lust auf Berührungen, doch wir Rudeltiere brauchen sie auch zum Überleben. Es gibt nur wenige einsame Wölfe, weil kaum jemand die Abgeschiedenheit mag. Die meisten von uns benötigen körperliche Rückkoppelung eher wie die Luft zum Atmen – regelmäßig und ohne Begrenzungen.

Und ich gehöre definitiv dazu.

Hier eine Umarmung, dort eine Hand, die meine streift – das hält mich am Leben und macht mich gleichzeitig anfällig. Ich ertrage es nicht lange ohne Nähe zu anderen. Erst recht nicht, seitdem meine Wölfin fast gebrochen wurde …

Mit einer mittlerweile eingefleischten Geschicklichkeit entwinde ich mich dem Gedanken an die fürchterliche Begegnung. Stattdessen konzentriere ich mich auf mein aktuelles Problem. Auf mein aktuelles, äußerst attraktives Problem. Ich schmunzle. Titan hat mir letzte Nacht mehr gegeben, als ich mir erhofft hatte. Spaß, Nähe, tiefe Befriedigung und Ablenkung. Doch jetzt wird mir schmerzlich bewusst, dass er wirklich vor allem das war: Eine Ablenkung.

Er kann mich nicht beschützen!, durchzuckt es mich. Gänsehaut überzieht meinen Körper. Nein, meine Wölfin ist nicht zufrieden mit Titan. Er ist vielleicht stark, aber er könnte die Herausforderung nicht bestehen. Nicht gegen ihn …

Kälte erfasst mich und für einen winzigen Augenblick spiele ich mit dem Gedanken, zu Titan in die Wärme meines Betts zu schlüpfen. Aber dann würde ich ihm falsche Signale senden. Das hier wird sich nicht wiederholen. Niemals. Meine Wölfin hat sich gegen ihn entschieden.

»Fuck!«, fluche ich erstickt.

Meine Stimme weckt Titan sofort. Sein Gehör ist einfach zu gut. Schlaftrunken bewegt er sich und hebt den Kopf. Dabei spannt sich sein Sixpack an und sticht hervor. Schnell schließe ich die Augen.

»Sieh ruhig hin«, sagt er und ich höre seiner Stimme das selbstverliebte Schmunzeln eines Wolfes an.

»Danke, ich habe genug gesehen«, gebe ich zurück und erhebe mich von dem hellen Holzhocker, der neben meinem Kleiderschrank steht. »Wenn du jetzt endlich wach bist, kannst du ja verschwinden.«

Mit diesen Worten trage ich die leere Teetasse in meine kleine Küche hinein und tue so, als würde ich mir Frühstück machen, obwohl ich keinerlei Hunger verspüre. Mit zittrigen Fingern fische ich Eier aus dem Kühlschrank und fülle Wasser in einen Topf.

Eigentlich hören meine Bettgeschichten auf mich, wenn ich sie hinauswerfe, doch Titan scheint da anders zu sein. Kaum habe ich den Herd angestellt und das Wasser aufgesetzt, höre ich seine Schritte hinter mir. Dann umschlingt er mich und stiehlt sich einen verspielten Biss in meinen Nacken.

Die Wölfin in mir reagiert wütend. Sie lässt meinen Körper herumzischen und schon graben sich meine Fingernägel in seine nackte, viel zu schöne Brust, während ich ihn rückwärts dränge. »Ich sagte, geh!«

Titans blaue Augen verdunkeln sich. »Ich dachte, das wäre ein Witz. Kessy! Was soll das?«

Ich ziehe meine Fingernägel zurück und bin froh, dass ich nur Abdrücke hinterlassen habe, seine Haut ist okay. Hastig versuche ich, meinen Puls mit einem tiefen Atemzug zu beruhigen, und konzentriere mich auf den Anblick seiner Runenkette, die wir Wölfe alle tags und nachts tragen. Es ist unser Seelenstein, den unsere Mütter beim Seher holen, wenn sie von ihrer Schwangerschaft erfahren. Diese Rune sagt viel über das Leben des Wandlers aus.

Titans Rune zeigt das Zeichen der Fruchtbarkeit. Es bedeutet: Was auch immer er anfasst, wächst und gedeiht.

Meine Rune zeigt das Zeichen des Blutstropfens. Diese Rune ist etwas verzwickt, denn sie kann sowohl dafür stehen, dass ich Alphablut in mir trage, als auch dafür, dass ich Tod und Verderben über mein Rudel bringe. Zum Glück hat der Seher vor zweiundzwanzig Jahren meinen Seelenstein als Alphablut interpretiert. Also durften meine Eltern, meine Schwestern und ich bei unserem Rudel bleiben und wurden nicht verbannt. Allerdings begleitet mich die zweite düstere Bedeutung meines Seelensteins mein Leben lang wie ein dunkler Schatten.

Titan kann nicht wissen, dass er ein Fehler für mich ist, sage ich mir still und schaffe es, ihn sanfter anzuschauen. »Es tut mir leid, T. Ich hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen. Ich wollte Sex, aber kein Gefährtenband.«

»Das ist nicht dein fucking Ernst«, flüstert er. »Du hast dich mir geöffnet letzte Nacht, hast meinen Wolf gelockt und nun soll ich mir das alles eingebildet haben?!« Eine Falte bildet sich zwischen seinen sturmschwarzen Augenbrauen und seine großen Hände formen sich zu Fäusten.

Die Aggression wird greifbar zwischen uns. Aber sie verängstigt mich nicht. Ich kenne Titan viel zu gut. Er würde mir nie etwas tun. Außerdem könnte ich einen einzelnen Wolfsmann im Zweifel händeln. Meine Kampffähigkeiten sind in unserem Rudel weitreichend bekannt. Das alles weiß natürlich auch Titan. Ich glaube, dass er seinen Gefühlen nur deshalb freien Lauf lässt. Und ich gestehe es ihm zu, denn ich weiß genau, wenn er vor einer Wölfin stehen würde, die rangniedriger ist als er, würde er ganz anders reagieren.

Trotzdem macht mir seine offensichtliche Wut Sorgen. Wenn sein Blut derart kocht, könnte das auf andere Wölfe unseres Rudels überspringen und dann wird vielleicht genau das geschehen, was Riguri in unserer Ausbildung stets als Verbannungsgrund genannt hat: Ein kämpfendes Rudel.

Schnell mache ich einen Schritt auf Titan zu und schlinge meine Arme um ihn. »Atme, T. Lass uns drüber reden.«

Sofort als meine Haut Kontakt zu seinem warmen Hals und seinen Schultern findet, weicht Spannung aus ihm. Als auch er mich umarmt, knurrt er düster.

»Schon gut«, wispere ich und spüre den Schmerz, der aus seinem Wolfsherz fließt. »Ich wollte dich nicht irreführen und dir erst recht nicht wehtun. Glaub mir das bitte.«

Angestrengt stößt er die Luft aus, antwortet mir aber nicht.

Eine Weile stehen wir nur so da. Ich halte seine Wut und seine Enttäuschung über meine Ablehnung mit ihm zusammen aus. Das machen Rudelmitglieder so. Doch dann beginnt wieder etwas anderes zwischen uns zu fließen. Ich spüre seinen Körper viel zu genau, spüre, dass die Hitze sprunghaft steigt. Seine Muskeln unter meinen Fingern sind verlockend. Wissend grollt er und bewegt sich. Hastig springe ich von ihm weg. Auch wenn meine Wölfin ihn nicht gewählt hat, kann ich ihn scheinbar immer noch attraktiv finden. »Die Eier«, wispere ich und entferne mich.

Mit etwas viel Schwung landet mein Frühstück im kochenden Wasser. Ich fühle ihn erneut hinter mir auftauchen. Doch diesmal hält er Abstand.

»Erklär es mir, Kessy«, fordert er düster. »Wieso verbringen wir erst solch eine Nacht zusammen und dann tust du so, als hätte deine Wölfin nur mit mir gespielt?«

Langsam drehe ich mich zu ihm und halte mich an der Anrichte fest, um ihn nicht erneut zu umarmen, weil er mir so leidtut. Um seinetwillen muss ich ab jetzt auf Berührungen so gut es geht verzichten. »Ich habe immer gesagt, dass ich mich nicht binden will, Titan. Warum verwundert es dich trotzdem, dass ich dich nach einer schönen, aber bedeutungslosen Nacht wegschicke? Das hier ist meine Wohnung, du warst Gast, jetzt möchte ich, dass du gehst.«

Titan faucht. »Red nicht so kalt.«

Ich atme wieder tief, um die Unruhe zu verscheuchen, die er in mir auslöst. »Ich bin nicht kalt, nur ehrlich.«

»Aber«, setzt er an und verschränkt seine muskulösen Arme vor der breiten Brust, »unsere Nacht war nicht bedeutungslos.« Er schluckt. »Nicht für mich.«

Verdammt! Das ist nicht gut!

Hilflos schaue ich ihn an. Mein Blick tanzt zwischen seinen verletzt schauenden Augen hin und her. Shit! In dieser Situation war ich noch nicht. Bisher habe ich offenbar nie mit einem Mann eine Nacht verbracht, der sich wirklich getraut hat, sich an meiner Seite vorzustellen. Titan ist nun leider der Erste, der den Schneid und das Standing dazu besitzt. Vielleicht ist er als stärkster ungebundener Wolf davon ausgegangen, dass ihm die stärkste ungebundene Wölfin als Gefährtin gewogen ist. Aber meine Wölfin hat Gründe, warum es nicht so ist. Doch diese könnte ich ihm niemals nennen. »Du hast Recht, der Sex war nicht bedeutungslos«, setze ich an, »aber er sagt auch nichts über unsere Zukunft aus. Wir sind Freunde, T!«

»Warum hat sich das dann nach Zukunft für mich angefühlt?«, fragt er und bleibt zum Glück ruhig. »Ich habe noch keine Frau derart …« Er bricht ab und verschwindet.

Taumelnd bleibe ich mit den köchelnden Eiern zurück.

Als er wieder auftaucht, hat er eine Boxershorts und einen Hoodie an. Er vergräbt seine großen Hände in den Taschen und schaut mich unglücklich an. »Ich will nur dich, Kessy. Keine andere hat mich je so fasziniert wie du. Du warst es immer für mich. Letzte Nacht, als du mich am Feuer geküsst und mich dann mit hierher genommen hast … Ich dachte, du hättest endlich meine Gefühle für dich erkannt.«

Nein, nein, nein!, denke ich verzweifelt und wünschte, das hätte ich früher gewusst. Dann wäre ich das Risiko nicht eingegangen, ihn meiner Wölfin zum Testfraß vorzuwerfen. »Du bist noch so jung …«, erwidere ich mit schwacher Stimme, doch er unterbricht mich.

»Ach scheiße, du doch auch!«, wirft er zurück.

Ich hole Luft, doch mir fehlen die Worte. Aber dann bäumt sich etwas in mir auf. Es ist die Essenz meiner Stellung im Rudel – die Stärke, die mit meinem hohen Rang einhergeht. Eine angeborene Kraft, die sich von nichts beeinflussen lässt. »Du musst jetzt gehen«, flüstere ich und sehe ihn fest an. »Meine Eltern warten auf mich.«

»Tu das nicht«, raunt Titan zurück, der sofort spürt, dass ich ihn mit Hilfe meiner hierarchischen Stellung loswerden will. Er steht im Rang unter mir. Allein durch sein starkes Mutterblut ist er zwar einer der Topleader unseres Rudels, aber er ist längst nicht so nah am Thron wie ich …

»Raus jetzt«, sage ich mit einer Mischung aus Sanftheit und Härte, die nur in der Stimme der Wölfe zu Hause ist.

Titan kämpft trotzig weiter. Doch dann bricht er ein. Ich sehe es in seinem Blick. Sofort nutze ich den Moment, laufe los, auf ihn zu und dränge ihn ohne Körperkontakt rückwärts aus meiner Küche heraus. Schließlich stehen wir wieder in meinem Schlafzimmer. Dort suche ich seine Hose und die Socken und werfe ihm beides zu. Ich selbst steige in eine Jeansshorts, ziehe hastig mein Schlafshirt aus, um einen BH und ein Top anzuziehen. Dabei spüre ich, wie schwer mein Herz ist. In ihm wabert eine Mischung aus verschiedenen dunklen Empfindungen herum. Da ist einmal Titans Enttäuschung, die ich komplett mitfühlen muss. Dazu kommt meine eigene Angst um unsere Freundschaft. Und dann lastet natürlich auch mein eigentliches Problem schwer auf meinem Herzen.

Titan ist das ranghöchste Mitglied unseres Rudels, an das ich mich hätte binden können. Wenn er meiner Wölfin nicht reicht, was soll ich dann tun? Mich allein den Geistern stellen, die mich seit jener Vollmondnacht verfolgen?

»Ich begleite dich zu deinen Eltern«, grollt Titan düster.

Weil ich in meine Angst abgedriftet bin, halte ich nichts dagegen. Still holt er die Eier aus dem kochenden Wasser, wickelt sie in ein Tuch, um sie trotz ihrer Hitze transportieren zu können, und als wir meine Wohnung verlassen, trägt er sie neben mir her. Alles, was ich hoffe, ist, dass meine Eltern schon wach sind. Wir sind an diesem frühen Samstagmorgen nämlich nicht wirklich verabredet. Aber selbst wenn sie noch schlafen, muss ich jetzt zu ihnen. Einfach, um Titan loszuwerden, ohne ihm endgültig das Herz zu brechen. Und weil da eine unterschwellige Verzweiflung in mir ist, die langsam, aber sicher Besitz von mir ergreift.

Auf halbem Wege bemerke ich, dass ich mir etwas anderes, als das Wachsein meiner Eltern hätte wünschen sollen. Niemandem über den Weg zu laufen zum Beispiel. Doch nun, da wir über den stillen Flur der ersten Etage des großen Rudelanwesens laufen, kommen uns schwere Schritte entgegen. Meine kleine Wohnung liegt im Nordflügel des Ek Dal Anwesens und in den Wohnungen um mich herum wohnen ausschließlich andere junge Wölfe. Mit manchen von ihnen habe ich die ein oder andere Zärtlichkeit getauscht. Doch auch sie hat meine Wölfin alle aussortiert ...

Als die Schritte bei uns sind, geht alles sehr schnell.

Es ist Zey. Einer der Gestaltwandler, die für ein Austauschjahr aus einem anderen Rudel kamen und dann in Ek Dal blieben. Es ist eben verdammt schön bei uns … Zey ist ein brauner Wolf, wenn er sich wandelt, mit welligem Fell und einem frechen Blick, der mir tief unter die Haut fährt. So sieht er auch als Mann aus. Dunkelbraune Locken und immer ein mehrdeutiges Lächeln auf den vollen Lippen, besonders wenn wir zusammen im Trainingsring stehen.

Er genießt Berührungsprivilegien von mir und darf mich umarmen und sogar am Hals küssen, wenn es die Situation gerade hergibt, weil er sich mein Vertrauen erarbeitet hat. Normalerweise hat Zey ein gutes Gespür dafür, wann Berührungen angebracht sind. Doch nun scheint ihn dieses vollkommen verlassen zu haben. Oder er ignoriert die Spannung zwischen Titan und mir absichtlich. Jedenfalls erfasst er meine Hand, als wir aneinander vorbeigehen, und zieht sie an seinen Mund. In einem ausgeglichenen Rudel überhaupt kein Problem. Vielleicht ein Grund zum Lachen oder Scherzen.

Doch in diesem Moment ist hier niemand ausgeglichen.

Von einem Sekundenbruchteil auf den anderen explodiert Titan, als hätte jemand seine Alphawölfin in Tötungsabsicht angegriffen. Die Eier fallen auf den Boden und zerbrechen. Gleichzeitig springt Titan Zey von hinten an und beginnt, ihn wild zu würgen. Ich schreie auf, weil mich seine Reaktion erschreckt. Sofort versuche ich, die beiden zu trennen, komme Zey zu Hilfe, der sich im Griff des Größeren wirkungslos windet. Enttäuschtes Wolfsblut ist gefährlich …

»Titan! Stopp!«, brülle ich und krache mit den beiden im Schlepptau gegen die erste Wohnungstür.

Diese wird aufgerissen und wir fallen als kämpfendes Bündel in das geöffnete Zimmer von Troy. Kurz steht er vollkommen überrumpelt da und beobachtet unseren Kampf. Dann hilft er Zey und mir endlich.

Innerhalb von wenigen Sekunden bildet sich eine Traube aus kämpfenden und schlichtenden Wölfen. Und ich als Kern des Chaos mit dem Wissen, dass dies mein verfluchtes Ende sein könnte … Wir Gestaltwandler haben in der Vergangenheit immer wieder mit Verurteilungen und falschen Schuldzusprüchen zu kämpfen gehabt. Die Legenden der Menschen sind voll von blutrünstigen Werwölfen. Dieses Stigma des kontrolllosen Untieres loszuwerden, war die Aufgabe meiner Vorfahren.

 Doch die Akzeptanz von uns ist immer noch zerbrechlich. Die Menschen billigen uns, aber wir sind weit davon entfernt, ihr uneingeschränktes Vertrauen zu genießen. Deshalb ist eine oberste Priorität aller Alphas, unsere Rudel friedlich zu halten. Aus diesem Grund dürfen wir uns zum Beispiel nur unter ganz bestimmten Umständen wandeln, weil wir in Wolfsform viel instinktiver und weniger rational handeln.

Ein Kampf um ein anderes Rudelmitglied gehört sicherlich nicht zu den guten Gründen für eine Wandlung. Trotzdem pulsiert plötzlich ein Energiestoß durch den Raum und einen Lidschlag später steht ein weißer Wolf einem braunen gegenüber und fletscht seine Zähne.

»Titan!«, kreische ich noch, als der weiße auf den braunen losgeht.

Doch ehe die riesigen Berge aus Muskeln und purer Rage aufeinandertreffen können, zerreißt ein Pfiff die Luft, den nur eine Person auf diese Weise ausstoßen kann. Mit bebender Brust taucht unsere Alphawölfin auf und stellt sich zwischen die Kampfbereiten. Ihre Aura, die von respekteinflößender Intensität ist, treibt die beiden auseinander. Riguris bernsteinfarbene Augen leuchten regelrecht, als sie die Lage prüft. Obwohl sie in ungewandeltem Zustand viel kleiner ist als die Wölfe, stehen diese mit einem Schlag still, weil sie aus der Tiefe ihrer Kehle knurrt und ihr unverkennbarer Geruch nach Macht und Stärke den Raum flutet.

Niemand rührt sich mehr.

Nur ich. Ich reibe mir die plötzlich schmerzende Stirn.

»Kessy!« Riguris Stimme ist so rau und kratzend wie die Rinde einer Tanne.

Ich senke meine Hand und schaue sie an. Es bringt ja nichts. Zu meinen Fähigkeiten gehört es leider nicht, mich in Luft aufzulösen. »Ja, Alpha?«

»Mitkommen.« Riguri schnippt und schon verkrampfen die beiden Wölfe sich. Sie zucken und ächzen, stöhnen und sinken ineinander zusammen, wandeln sich zurück in ihre Menschenform.

Und dann laufe ich mit einem nackten Titan und einem ebenso nackten Zey hinter mir durch das Anwesen der Ek Dal Wölfe und weiß, dass mein letztes Stündlein geschlagen hat.

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