Da
ist ein Mann in meinem Bett, der dort definitiv nicht sein sollte.
Mit
leichter Unruhe in meinem Blut kaue ich auf der Unterlippe herum und versuche,
mich auf die Wärme der Teetasse in meinen Händen zu konzentrieren. Doch es
gelingt mir nicht, weil ich an den Moment zurückdenke, als ich vor einigen
Minuten ausgerechnet Titan, den Sohn meiner Alphawölfin, schlafend neben mir
entdeckt habe. Wir beide waren bis auf unsere Runenketten nackt und sofort
wusste ich, dass ich Mist gebaut hatte.
Sommerstimmung
im Rudel, höllisch attraktive Männer und eine innere Wölfin, die Lust auf
Ablenkung hat, sind eben keine gute Mischung.
Lautlos
seufzend streiche ich mir eine Strähne meines hellblauen Haares hinter das Ohr.
Bevor meine Mom weißes Haar bekam, war es ebenso hellblau wie meins. Mit dem
kleinen Unterschied, dass ich nicht ihre dunkelbraunen, sondern Dads graublaue
Augen dazu vererbt bekommen habe, sehe ich ihr recht ähnlich. Anders als meine
großen Zwillingsschwestern Kimberly und Kendall. Sie kommen als Erstgeborene
total nach Dads Linie, worum ich sie früher in Bezug auf die Größe ihrer Wölfe
einige Male beneidet habe. Heute weiß ich, dass es unter Wölfen kein bisschen
auf die körperliche Statur ankommt, sondern auf die Aura der Macht, die einen
von Geburt an umgibt.
Sofort
muss ich an meine Alphawölfin denken. Riguri ist mein großes Vorbild. Nicht
viele Rudel unseres Landes werden von Frauen geführt und keines ist so groß wie
das Ek Dal Rudel. Riguri ist eine einschüchternde Wölfin, voller Weisheit und
Liebe.
Und
jetzt habe ich sie mit Sicherheit gegen mich aufgebracht …
Traurig
starre ich auf Titan. Einen Wolf zu wecken, ist niemals eine gute Idee, also
lasse ich ihn schlafen, obwohl ich nichts mehr ersehne, als ihn fortzuschicken,
um die letzte Nacht mit ihm zu vergessen. Bisher war es mir gelungen, Titan aus
dem Spiel meiner instinktiven Seite herauszuhalten. Immerhin sind wir beste
Freunde, haben unsere Kindheit und Jugend zusammen verbracht und diese
Verbindung wollte ich nie gefährden. Doch seitdem ich vor zehn Wochen in eine
mehr als gefährliche Lage geraten bin, habe ich mein inneres Tier weniger und
weniger unter Kontrolle gehabt. Nun liegt der bisher größte Kontrollverlust in
meinem Bett und träumt friedlich.
Titan
ist aber auch einfach zu verlockend gewesen, denke ich und streife mit meinem Blick über
seinen göttlichen Körper, der ausgestreckt auf meinem plötzlich klein wirkenden
Bett liegt.
Der
Sohn der Alpha ist noch sehr jung. Gerade zwanzig geworden und doch so
eindrucksvoll männlich, wenn er will, dass es mich einfach zu sehr gereizt hat,
mit ihm etwas anzufangen. Sein weißes Haar erinnert an den weißen Wolf, zu dem
er wird, wenn er sich wandelt. Die schwarzen Augenbrauen dazu und die langen
Wimpern gefallen mir. Ganz abgesehen von seiner breitschultrigen Statur und dem
schlanken, athletischen Körper … Ich erschaudere, weil mich jede ledige Frau
unseres Rudels um diese Nacht beneiden wird. Titan ist ein junger, starker
Wolf, der gern seine Zunge benutzt. Aber ich? Ich will ihn am liebsten so
schnell wie möglich loswerden.
Denn
er ist es nicht!
Der
Gedanke wühlt mich auf, lässt mich sogar etwas zusammenzucken. Kurz schließe
ich die Augen und nehme einen Schluck meines beruhigenden Tees.
Alles
wird gut, Kessy!,
flüstere ich mir innerlich zu und wage nicht, an den schrecklichsten all meiner
Fehler zu denken, der mit einem ganz anderen Mann zusammenhängt. Zum Glück regt
Titan sich in diesem Moment und lenkt mich ab. Er stöhnt leise, was mich in die
letzte Nacht zurückversetzt. Mit einem Hauch von Stolz erinnere ich mich daran,
wie schön es war, ihn vor ein paar Stunden viel lauter zum Stöhnen zu bringen.
Der Sex mit ihm war gut. Titan weiß, was er tut, obwohl er noch so jung ist.
Doch das ist unter Wölfen nicht ungewöhnlich. Weil wir alle sehr körperliche
Wesen sind, probieren wir uns früh aus und genießen die Nähe der anderen sehr.
Besonders bei unseren Rudeltreffen, die alle paar Monate zum Runenmond
stattfinden, toben wir uns aus.
Natürlich
ist das Bedürfnis nach Berührung von Wolf zu Wolf unterschiedlich stark
ausgeprägt. Aber Titan und ich gehören definitiv zu denen, die Zärtlichkeiten
in besonderem Maße genießen. Das sieht man dem Verhalten eines Rudelmitgliedes
einfach an. Soweit ich weiß, verspüren zwar alle Gestaltwandler große Lust auf
Berührungen, doch wir Rudeltiere brauchen sie auch zum Überleben. Es gibt nur
wenige einsame Wölfe, weil kaum jemand die Abgeschiedenheit mag. Die meisten
von uns benötigen körperliche Rückkoppelung eher wie die Luft zum Atmen –
regelmäßig und ohne Begrenzungen.
Und
ich gehöre definitiv dazu.
Hier
eine Umarmung, dort eine Hand, die meine streift – das hält mich am Leben und
macht mich gleichzeitig anfällig. Ich ertrage es nicht lange ohne Nähe zu
anderen. Erst recht nicht, seitdem meine Wölfin fast gebrochen wurde …
Mit
einer mittlerweile eingefleischten Geschicklichkeit entwinde ich mich dem
Gedanken an die fürchterliche Begegnung. Stattdessen konzentriere ich mich auf
mein aktuelles Problem. Auf mein aktuelles, äußerst attraktives Problem. Ich
schmunzle. Titan hat mir letzte Nacht mehr gegeben, als ich mir erhofft hatte.
Spaß, Nähe, tiefe Befriedigung und Ablenkung. Doch jetzt wird mir schmerzlich
bewusst, dass er wirklich vor allem das war: Eine Ablenkung.
Er
kann mich nicht beschützen!,
durchzuckt es mich. Gänsehaut überzieht meinen Körper. Nein, meine Wölfin ist
nicht zufrieden mit Titan. Er ist vielleicht stark, aber er könnte die
Herausforderung nicht bestehen. Nicht gegen ihn …
Kälte
erfasst mich und für einen winzigen Augenblick spiele ich mit dem Gedanken, zu
Titan in die Wärme meines Betts zu schlüpfen. Aber dann würde ich ihm falsche
Signale senden. Das hier wird sich nicht wiederholen. Niemals. Meine Wölfin hat
sich gegen ihn entschieden.
»Fuck!«,
fluche ich erstickt.
Meine
Stimme weckt Titan sofort. Sein Gehör ist einfach zu gut. Schlaftrunken bewegt
er sich und hebt den Kopf. Dabei spannt sich sein Sixpack an und sticht hervor.
Schnell schließe ich die Augen.
»Sieh
ruhig hin«, sagt er und ich höre seiner Stimme das selbstverliebte Schmunzeln
eines Wolfes an.
»Danke,
ich habe genug gesehen«, gebe ich zurück und erhebe mich von dem hellen
Holzhocker, der neben meinem Kleiderschrank steht. »Wenn du jetzt endlich wach
bist, kannst du ja verschwinden.«
Mit
diesen Worten trage ich die leere Teetasse in meine kleine Küche hinein und tue
so, als würde ich mir Frühstück machen, obwohl ich keinerlei Hunger verspüre.
Mit zittrigen Fingern fische ich Eier aus dem Kühlschrank und fülle Wasser in
einen Topf.
Eigentlich
hören meine Bettgeschichten auf mich, wenn ich sie hinauswerfe, doch Titan
scheint da anders zu sein. Kaum habe ich den Herd angestellt und das Wasser
aufgesetzt, höre ich seine Schritte hinter mir. Dann umschlingt er mich und
stiehlt sich einen verspielten Biss in meinen Nacken.
Die
Wölfin in mir reagiert wütend. Sie lässt meinen Körper herumzischen und schon
graben sich meine Fingernägel in seine nackte, viel zu schöne Brust, während
ich ihn rückwärts dränge. »Ich sagte, geh!«
Titans
blaue Augen verdunkeln sich. »Ich dachte, das wäre ein Witz. Kessy! Was soll
das?«
Ich
ziehe meine Fingernägel zurück und bin froh, dass ich nur Abdrücke hinterlassen
habe, seine Haut ist okay. Hastig versuche ich, meinen Puls mit einem tiefen
Atemzug zu beruhigen, und konzentriere mich auf den Anblick seiner Runenkette,
die wir Wölfe alle tags und nachts tragen. Es ist unser Seelenstein, den unsere
Mütter beim Seher holen, wenn sie von ihrer Schwangerschaft erfahren. Diese
Rune sagt viel über das Leben des Wandlers aus.
Titans
Rune zeigt das Zeichen der Fruchtbarkeit. Es bedeutet: Was auch immer er
anfasst, wächst und gedeiht.
Meine
Rune zeigt das Zeichen des Blutstropfens. Diese Rune ist etwas verzwickt, denn
sie kann sowohl dafür stehen, dass ich Alphablut in mir trage, als auch dafür,
dass ich Tod und Verderben über mein Rudel bringe. Zum Glück hat der Seher vor
zweiundzwanzig Jahren meinen Seelenstein als Alphablut interpretiert. Also
durften meine Eltern, meine Schwestern und ich bei unserem Rudel bleiben und
wurden nicht verbannt. Allerdings begleitet mich die zweite düstere Bedeutung
meines Seelensteins mein Leben lang wie ein dunkler Schatten.
Titan
kann nicht wissen, dass er ein Fehler für mich ist, sage ich mir still und schaffe
es, ihn sanfter anzuschauen. »Es tut mir leid, T. Ich hätte es nicht so weit
kommen lassen dürfen. Ich wollte Sex, aber kein Gefährtenband.«
»Das
ist nicht dein fucking Ernst«, flüstert er. »Du hast dich mir geöffnet letzte
Nacht, hast meinen Wolf gelockt und nun soll ich mir das alles eingebildet
haben?!« Eine Falte bildet sich zwischen seinen sturmschwarzen Augenbrauen und
seine großen Hände formen sich zu Fäusten.
Die
Aggression wird greifbar zwischen uns. Aber sie verängstigt mich nicht. Ich
kenne Titan viel zu gut. Er würde mir nie etwas tun. Außerdem könnte ich einen
einzelnen Wolfsmann im Zweifel händeln. Meine Kampffähigkeiten sind in unserem
Rudel weitreichend bekannt. Das alles weiß natürlich auch Titan. Ich glaube,
dass er seinen Gefühlen nur deshalb freien Lauf lässt. Und ich gestehe es ihm
zu, denn ich weiß genau, wenn er vor einer Wölfin stehen würde, die
rangniedriger ist als er, würde er ganz anders reagieren.
Trotzdem
macht mir seine offensichtliche Wut Sorgen. Wenn sein Blut derart kocht, könnte
das auf andere Wölfe unseres Rudels überspringen und dann wird vielleicht genau
das geschehen, was Riguri in unserer Ausbildung stets als Verbannungsgrund
genannt hat: Ein kämpfendes Rudel.
Schnell
mache ich einen Schritt auf Titan zu und schlinge meine Arme um ihn. »Atme, T.
Lass uns drüber reden.«
Sofort
als meine Haut Kontakt zu seinem warmen Hals und seinen Schultern findet,
weicht Spannung aus ihm. Als auch er mich umarmt, knurrt er düster.
»Schon
gut«, wispere ich und spüre den Schmerz, der aus seinem Wolfsherz fließt. »Ich
wollte dich nicht irreführen und dir erst recht nicht wehtun. Glaub mir das
bitte.«
Angestrengt
stößt er die Luft aus, antwortet mir aber nicht.
Eine
Weile stehen wir nur so da. Ich halte seine Wut und seine Enttäuschung über
meine Ablehnung mit ihm zusammen aus. Das machen Rudelmitglieder so. Doch dann
beginnt wieder etwas anderes zwischen uns zu fließen. Ich spüre seinen Körper
viel zu genau, spüre, dass die Hitze sprunghaft steigt. Seine Muskeln unter
meinen Fingern sind verlockend. Wissend grollt er und bewegt sich. Hastig
springe ich von ihm weg. Auch wenn meine Wölfin ihn nicht gewählt hat, kann ich
ihn scheinbar immer noch attraktiv finden. »Die Eier«, wispere ich und entferne
mich.
Mit
etwas viel Schwung landet mein Frühstück im kochenden Wasser. Ich fühle ihn
erneut hinter mir auftauchen. Doch diesmal hält er Abstand.
»Erklär
es mir, Kessy«, fordert er düster. »Wieso verbringen wir erst solch eine Nacht
zusammen und dann tust du so, als hätte deine Wölfin nur mit mir gespielt?«
Langsam
drehe ich mich zu ihm und halte mich an der Anrichte fest, um ihn nicht erneut
zu umarmen, weil er mir so leidtut. Um seinetwillen muss ich ab jetzt auf
Berührungen so gut es geht verzichten. »Ich habe immer gesagt, dass ich mich
nicht binden will, Titan. Warum verwundert es dich trotzdem, dass ich dich nach
einer schönen, aber bedeutungslosen Nacht wegschicke? Das hier ist meine
Wohnung, du warst Gast, jetzt möchte ich, dass du gehst.«
Titan
faucht. »Red nicht so kalt.«
Ich
atme wieder tief, um die Unruhe zu verscheuchen, die er in mir auslöst. »Ich
bin nicht kalt, nur ehrlich.«
»Aber«,
setzt er an und verschränkt seine muskulösen Arme vor der breiten Brust,
»unsere Nacht war nicht bedeutungslos.« Er schluckt. »Nicht für mich.«
Verdammt!
Das ist nicht gut!
Hilflos
schaue ich ihn an. Mein Blick tanzt zwischen seinen verletzt schauenden Augen
hin und her. Shit! In dieser Situation war ich noch nicht. Bisher habe ich
offenbar nie mit einem Mann eine Nacht verbracht, der sich wirklich getraut
hat, sich an meiner Seite vorzustellen. Titan ist nun leider der Erste, der den
Schneid und das Standing dazu besitzt. Vielleicht ist er als stärkster
ungebundener Wolf davon ausgegangen, dass ihm die stärkste ungebundene Wölfin
als Gefährtin gewogen ist. Aber meine Wölfin hat Gründe, warum es nicht so ist.
Doch diese könnte ich ihm niemals nennen. »Du hast Recht, der Sex war nicht
bedeutungslos«, setze ich an, »aber er sagt auch nichts über unsere Zukunft
aus. Wir sind Freunde, T!«
»Warum
hat sich das dann nach Zukunft für mich angefühlt?«, fragt er und bleibt zum
Glück ruhig. »Ich habe noch keine Frau derart …« Er bricht ab und verschwindet.
Taumelnd
bleibe ich mit den köchelnden Eiern zurück.
Als
er wieder auftaucht, hat er eine Boxershorts und einen Hoodie an. Er vergräbt
seine großen Hände in den Taschen und schaut mich unglücklich an. »Ich will nur
dich, Kessy. Keine andere hat mich je so fasziniert wie du. Du warst es immer
für mich. Letzte Nacht, als du mich am Feuer geküsst und mich dann mit hierher
genommen hast … Ich dachte, du hättest endlich meine Gefühle für dich erkannt.«
Nein,
nein, nein!,
denke ich verzweifelt und wünschte, das hätte ich früher gewusst. Dann wäre ich
das Risiko nicht eingegangen, ihn meiner Wölfin zum Testfraß vorzuwerfen. »Du
bist noch so jung …«, erwidere ich mit schwacher Stimme, doch er unterbricht
mich.
»Ach
scheiße, du doch auch!«, wirft er zurück.
Ich
hole Luft, doch mir fehlen die Worte. Aber dann bäumt sich etwas in mir auf. Es
ist die Essenz meiner Stellung im Rudel – die Stärke, die mit meinem hohen Rang
einhergeht. Eine angeborene Kraft, die sich von nichts beeinflussen lässt. »Du
musst jetzt gehen«, flüstere ich und sehe ihn fest an. »Meine Eltern warten auf
mich.«
»Tu
das nicht«, raunt Titan zurück, der sofort spürt, dass ich ihn mit Hilfe meiner
hierarchischen Stellung loswerden will. Er steht im Rang unter mir. Allein
durch sein starkes Mutterblut ist er zwar einer der Topleader unseres Rudels,
aber er ist längst nicht so nah am Thron wie ich …
»Raus
jetzt«, sage ich mit einer Mischung aus Sanftheit und Härte, die nur in der
Stimme der Wölfe zu Hause ist.
Titan
kämpft trotzig weiter. Doch dann bricht er ein. Ich sehe es in seinem Blick.
Sofort nutze ich den Moment, laufe los, auf ihn zu und dränge ihn ohne
Körperkontakt rückwärts aus meiner Küche heraus. Schließlich stehen wir wieder
in meinem Schlafzimmer. Dort suche ich seine Hose und die Socken und werfe ihm
beides zu. Ich selbst steige in eine Jeansshorts, ziehe hastig mein Schlafshirt
aus, um einen BH und ein Top anzuziehen. Dabei spüre ich, wie schwer mein Herz
ist. In ihm wabert eine Mischung aus verschiedenen dunklen Empfindungen herum.
Da ist einmal Titans Enttäuschung, die ich komplett mitfühlen muss. Dazu kommt
meine eigene Angst um unsere Freundschaft. Und dann lastet natürlich auch mein
eigentliches Problem schwer auf meinem Herzen.
Titan
ist das ranghöchste Mitglied unseres Rudels, an das ich mich hätte binden
können. Wenn er meiner Wölfin nicht reicht, was soll ich dann tun? Mich allein
den Geistern stellen, die mich seit jener Vollmondnacht verfolgen?
»Ich
begleite dich zu deinen Eltern«, grollt Titan düster.
Weil
ich in meine Angst abgedriftet bin, halte ich nichts dagegen. Still holt er die
Eier aus dem kochenden Wasser, wickelt sie in ein Tuch, um sie trotz ihrer
Hitze transportieren zu können, und als wir meine Wohnung verlassen, trägt er
sie neben mir her. Alles, was ich hoffe, ist, dass meine Eltern schon wach
sind. Wir sind an diesem frühen Samstagmorgen nämlich nicht wirklich
verabredet. Aber selbst wenn sie noch schlafen, muss ich jetzt zu ihnen.
Einfach, um Titan loszuwerden, ohne ihm endgültig das Herz zu brechen. Und
weil da eine unterschwellige Verzweiflung in mir ist, die langsam, aber sicher
Besitz von mir ergreift.
Auf
halbem Wege bemerke ich, dass ich mir etwas anderes, als das Wachsein meiner
Eltern hätte wünschen sollen. Niemandem über den Weg zu laufen zum Beispiel.
Doch nun, da wir über den stillen Flur der ersten Etage des großen
Rudelanwesens laufen, kommen uns schwere Schritte entgegen. Meine kleine
Wohnung liegt im Nordflügel des Ek Dal Anwesens und in den Wohnungen um mich
herum wohnen ausschließlich andere junge Wölfe. Mit manchen von ihnen habe ich
die ein oder andere Zärtlichkeit getauscht. Doch auch sie hat meine Wölfin alle
aussortiert ...
Als
die Schritte bei uns sind, geht alles sehr schnell.
Es
ist Zey. Einer der Gestaltwandler, die für ein Austauschjahr aus einem anderen
Rudel kamen und dann in Ek Dal blieben. Es ist eben verdammt schön bei uns …
Zey ist ein brauner Wolf, wenn er sich wandelt, mit welligem Fell und einem
frechen Blick, der mir tief unter die Haut fährt. So sieht er auch als Mann
aus. Dunkelbraune Locken und immer ein mehrdeutiges Lächeln auf den vollen
Lippen, besonders wenn wir zusammen im Trainingsring stehen.
Er
genießt Berührungsprivilegien von mir und darf mich umarmen und sogar am Hals
küssen, wenn es die Situation gerade hergibt, weil er sich mein Vertrauen
erarbeitet hat. Normalerweise hat Zey ein gutes Gespür dafür, wann Berührungen
angebracht sind. Doch nun scheint ihn dieses vollkommen verlassen zu haben.
Oder er ignoriert die Spannung zwischen Titan und mir absichtlich. Jedenfalls
erfasst er meine Hand, als wir aneinander vorbeigehen, und zieht sie an seinen
Mund. In einem ausgeglichenen Rudel überhaupt kein Problem. Vielleicht ein
Grund zum Lachen oder Scherzen.
Doch
in diesem Moment ist hier niemand ausgeglichen.
Von
einem Sekundenbruchteil auf den anderen explodiert Titan, als hätte jemand
seine Alphawölfin in Tötungsabsicht angegriffen. Die Eier fallen auf den Boden
und zerbrechen. Gleichzeitig springt Titan Zey von hinten an und beginnt, ihn
wild zu würgen. Ich schreie auf, weil mich seine Reaktion erschreckt. Sofort
versuche ich, die beiden zu trennen, komme Zey zu Hilfe, der sich im Griff des
Größeren wirkungslos windet. Enttäuschtes Wolfsblut ist gefährlich …
»Titan!
Stopp!«, brülle ich und krache mit den beiden im Schlepptau gegen die erste
Wohnungstür.
Diese
wird aufgerissen und wir fallen als kämpfendes Bündel in das geöffnete Zimmer
von Troy. Kurz steht er vollkommen überrumpelt da und beobachtet unseren Kampf.
Dann hilft er Zey und mir endlich.
Innerhalb
von wenigen Sekunden bildet sich eine Traube aus kämpfenden und schlichtenden
Wölfen. Und ich als Kern des Chaos mit dem Wissen, dass dies mein verfluchtes
Ende sein könnte … Wir Gestaltwandler haben in der Vergangenheit immer wieder
mit Verurteilungen und falschen Schuldzusprüchen zu kämpfen gehabt. Die
Legenden der Menschen sind voll von blutrünstigen Werwölfen. Dieses Stigma des
kontrolllosen Untieres loszuwerden, war die Aufgabe meiner Vorfahren.
Doch die Akzeptanz von uns ist immer noch
zerbrechlich. Die Menschen billigen uns, aber wir sind weit davon entfernt, ihr
uneingeschränktes Vertrauen zu genießen. Deshalb ist eine oberste Priorität
aller Alphas, unsere Rudel friedlich zu halten. Aus diesem Grund dürfen wir uns
zum Beispiel nur unter ganz bestimmten Umständen wandeln, weil wir in Wolfsform
viel instinktiver und weniger rational handeln.
Ein
Kampf um ein anderes Rudelmitglied gehört sicherlich nicht zu den guten Gründen
für eine Wandlung. Trotzdem pulsiert plötzlich ein Energiestoß durch den Raum
und einen Lidschlag später steht ein weißer Wolf einem braunen gegenüber und
fletscht seine Zähne.
»Titan!«,
kreische ich noch, als der weiße auf den braunen losgeht.
Doch
ehe die riesigen Berge aus Muskeln und purer Rage aufeinandertreffen können,
zerreißt ein Pfiff die Luft, den nur eine Person auf diese Weise ausstoßen
kann. Mit bebender Brust taucht unsere Alphawölfin auf und stellt sich zwischen
die Kampfbereiten. Ihre Aura, die von respekteinflößender Intensität ist,
treibt die beiden auseinander. Riguris bernsteinfarbene Augen leuchten
regelrecht, als sie die Lage prüft. Obwohl sie in ungewandeltem Zustand viel
kleiner ist als die Wölfe, stehen diese mit einem Schlag still, weil sie aus
der Tiefe ihrer Kehle knurrt und ihr unverkennbarer Geruch nach Macht und
Stärke den Raum flutet.
Niemand rührt sich mehr.
Nur
ich. Ich reibe mir die plötzlich schmerzende Stirn.
»Kessy!«
Riguris Stimme ist so rau und kratzend wie die Rinde einer Tanne.
Ich
senke meine Hand und schaue sie an. Es bringt ja nichts. Zu meinen Fähigkeiten
gehört es leider nicht, mich in Luft aufzulösen. »Ja, Alpha?«
»Mitkommen.«
Riguri schnippt und schon verkrampfen die beiden Wölfe sich. Sie zucken und
ächzen, stöhnen und sinken ineinander zusammen, wandeln sich zurück in ihre
Menschenform.
Und dann laufe ich mit einem nackten Titan und einem ebenso nackten Zey hinter mir durch das Anwesen der Ek Dal Wölfe und weiß, dass mein letztes Stündlein geschlagen hat.
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