Zweiundzwanzig
Zeitweise
lässt der Tränenschleier dich zwar erblinden, aber er wäscht dir auch Gesicht
und Seele rein.

SAMU
Die
Sonne wirft lange, weiche Strahlen in das Zimmer und verkündet den Abend. Der
perfekte Zeitpunkt für das, was ich vorhabe. Martha hebt die Lider und sieht
mich an, als ich eintrete. Schon seit einigen Tagen fehlt ihr die Kraft, zu
zeichnen. Aber der Glanz in ihren Augen signalisiert mir, dass die Freude
darüber, mich zu sehen, ungebremst ist.
Ich trete an ihr Bett, beuge mich über sie
und küsse sie. Ich weiß, dass auch diese Momente ihr immer mehr abverlangen,
ihr den ohnehin kaum vorhandenen Sauerstoff rauben. Doch wie durch ein Wunder
scheint in diesen kostbaren Sekunden die Krankheit zu schweigen. Als ziehe sie
sich aus Ehrfurcht vor dem, was wir sind, in den tiefsten Winkel ihres Körpers
zurück.
Immer wenn ich sie küsse, wünsche ich mir,
ich könne diesen Moment für alle Ewigkeit festhalten, mein Herz damit
brandmarken, denn jede Sekunde, die ich bei ihr bin, sie spüre, berühre, ist
von einer Einzigartigkeit, die ich nicht in Worte fassen kann. Wer hätte
gedacht, dass dieses verrückte Mädchen, das ich auf dem Dach fand, sich so tief
in meinem Herzen, in meiner Seele einnistet.
Ich hebe den Kopf und streiche mit dem
Daumen über ihre Wange, berühre das wunderschöne Muttermal, das sich
mittlerweile fast schwarz von der durchscheinenden Haut abhebt. Gleichgültig
wie sehr die Verzweiflung in mir tobt, für Martha muss ich stark sein. Ein
Lächeln, das meine Lippen schmerzhaft verzieht, gleitet über mein Gesicht, als
ich mich zu ihr setze und sie in meine Arme ziehe.
Das Kinn auf ihren Kopf gestützt, frage ich
obligatorisch: »Wie geht es meinem Mädchen heute?« Sie seufzt. Ich kann die
mühevolle Bewegung ihres Brustkorbs spüren, höre den gequälten Ton, der sich
aus ihrer Kehle löst.
»Ein wenig schlechter als gestern«, ist
nicht das, was ich hören will, aber doch was ich erwartet habe. Noch immer hält
sie sich tapfer. Sie hadert nicht, tobt nicht, weint nicht. Aber sie hofft auch
nicht länger. Das klingt deutlich zwischen allem heraus, was sie mich wissen
lässt. Und ich weiß, ich bin der Einzige, dem sie ihr wahres Gesicht zeigt, mit
all dem Schmerz, den dies in sich birgt.
Ich schlucke meinen hinunter und flüstere in
ihr Haar: »Dann müssen wir etwas unternehmen, damit du dich besser fühlst.« Sie
dreht den Kopf und begegnet meinem Blick.
»Was sollte das sein, Samu? Ich bin kaum in
der Lage, den Weg bis zur Toilette zu schaffen.« Ihre Worte schüren die Trauer
in mir auf ein unerträgliches Maß, dennoch begegne ich tapfer weiterhin ihrem
Blick und streiche ihr eine lose Haarsträhne aus der Stirn. Auch ihr
wundervolles, tiefbraunes Haar hat mittlerweile an Spannkraft und Glanz
verloren. Es ist, als weite sich die Cystische Fibrose wie ein Filter über
Martha aus und lösche alles, was ihre Persönlichkeit ausmacht.
»Es gibt da noch diesen einen Punkt auf
deiner Liste, erinnerst du dich?«
»Der Sonnenuntergang«, flüstert sie
erschöpft. Dann schweigt sie und ich bin sicher, dass mein Vorhaben sie maßlos
überfordert. Vielleicht verlange ich ihr zu viel ab. Aber keiner von uns weiß,
wie viele Möglichkeiten es noch gibt, diesen letzten Punkt abzuarbeiten. Wie
viele Möglichkeiten es überhaupt noch gibt, einander zu begegnen …
Ich will diese Gedanken nicht zulassen,
sperre mich mit aller Kraft dagegen und doch tauchen sie beharrlich wieder an
der Oberfläche auf, gleichgültig, wie oft ich sie in den Tiefen meines Seins
versenke. Ich schließe die Lider und dränge die Tränen zurück, die vehement in
mir aufsteigen. Fuck. Martha ist so viel stärker als ich.
Und so, als spüre sie genau, was in mir
vorgeht, hebt sie die Hand und legt sie an meine Wange.
»Also gut, wie hast du es dir vorgestellt?«
Ich reiße die Augen auf und sehe sie an, sehe die Müdigkeit, mit der sie
kämpft. Nicht körperlich. Eine andere Müdigkeit, die sie daran hindert, am
Leben festzuhalten. Ich denke an ihn, meinen Freund, zwei Stationen tiefer, bei
diesem Blick in ihre Seele und mir wird angst und bange.
»Ich … ich dachte das Dach?«, frage ich
stotternd, nicht Herr der wütenden Empfindungen, die mein Herz zersetzen. Sie
nickt und lächelt still.
Es endet, wo es begonnen hat.
Keiner spricht diesen Satz laut aus und doch
wissen wir beide, dass er in jedem von uns anklingt. Ich zittere. Mein Körper
steht unter Strom. Ungehalten reibe ich mir mit dem Handrücken über die Augen,
in dem Versuch, die verfluchten Tränen, die ich kaum noch beherrsche, vor ihr
zu verbergen.
»Es ist okay, Samu. Du musst nicht immer
stark sein, nicht mal für mich. Es ist nichts dabei, zu weinen, wenn man
traurig ist.« Traurig beschreibt nicht annähernd das Gefühl, welches mich fast
um den Verstand bringt.
»Dieses fucking Leben ist so verflucht
ungerecht, Martha. Wenn ich könnte, wenn es die Möglichkeit gäbe, dann würde
ich dir meine Lungen geben …« Sie legt ihre Finger auf meine Lippen und bringt
mich zum Schweigen.
»Ich weiß«, flüstert sie und wischt
vorsichtig die Tränen von meinen Wangen, die lautlos auf ihre Züge fallen.
»Hilfst du mir in die Jacke?«
Das ist mein Zeichen, dass sie diesen
letzten Punkt ebenso angehen will, wie ich. Bevor ich mich erhebe, lasse ich
meine Lippen tränennass über ihren Scheitel gleiten, dann suche ich ein warmes
Sweatshirt aus dem Schrank und greife zufällig nach dem blauen mit dem Captain
Marvel Aufdruck. Als ich Martha zum letzten Mal darin gesehen habe, war sie
deutlich vitaler als jetzt, und doch erscheint es mir wie ein Zeichen. Ich
helfe ihr, den Hoodie überzustreifen, ebenso wie die Leggins, die ich aus einem
der Fächer gezogen habe. Als sie sich mit meiner Hilfe mühsam aufrichtet, lege
ich ihr eine bunte Strickjacke um die Schultern und wickele sie behutsam darin
ein.
»Bereit?«, flüstere ich mit rauer Stimme und
helfe ihr in den Rollstuhl. Sie nickt und schenkt mir ihr vertrauensvollstes
Lächeln. Ihr schönstes Lächeln. Ein Lächeln, das mich erneut an den Rand meiner
eisernen Selbstbeherrschung führt. Egal wie sehr die Krankheit sie verändert,
wie sehr sie sie auszehrt, Martha wird für immer das schönste Mädchen sein, dem
ich begegnet bin.
Der Flur ist leer. Das gibt uns die
Gelegenheit, unbehelligt ins Treppenhaus zu gelangen. Als ich sie durch die
langen Gänge schiebe, bis hin zu den Türen, die wie von Geisterhand
aufschwingen, fluten mich Bilder, die unser erstes Aufeinandertreffen markieren.
Zu diesem Zeitpunkt hätte ich nicht für möglich gehalten, was Martha mir heute
bedeutet. Wie sehr sie mein Dasein verändert hat.
Vor den Stufen parke ich den Rolli, schiebe
meine Arme unter ihren zerbrechlichen Körper und hebe sie an meine Brust. Sie
wiegt nichts. Schon damals war sie viel zu leicht. Aber jetzt habe ich das
Empfinden, dass sie schwerelos ist. Ihr Atem geht mühsam, als sie ihre Arme um
meinen Hals legt und den Kopf an meine Schulter bettet. Im Zimmer gab es kein
mobiles Sauerstoffgerät, welches ihre Atmung auch jetzt unterstützen könnte,
darum wird unsere Zeit dort oben begrenzt sein. Ich hoffe, dass sie bis zum vollständigen
Untergang der Sonne durchhält.
Als wir ins Freie treten, weht der Luftzug
eines milden Septemberabends über das sonnenverwöhnte Dach. Erste rötliche
Strahlen blenden uns, sodass Martha den Kopf dreht und ihr Gesicht in dem Stoff
meines Pullis vergräbt. Ich könnte sie für immer so halten. Ihre Wärme spüren.
Ihrem holprigen Atem lauschen, der ihren Brustkorb erschüttert. Den ihr ganz
eigenen Geruch inhalieren. Wenn es bedeuten würde, mich niemals von ihr trennen
zu müssen, würde ich mein Leben hier oben auf diesem scheiß Dach fristen. Hauptsache,
sie wäre bei mir.
Die Schwere meiner eigenen Gedanken fordert
mich im Höchstmaß. Zerrt Gefühle hervor, die ich bisher ignoriert habe. Das
Ende war von Anfang an eine Option, gleichgültig wie vehement ich meine Augen
davor verschlossen habe. Ich habe es unterschwellig immer gewusst, und Martha
ebenso.
Ich lehne sie behutsam mit dem Rücken gegen
die Wand, registriere, dass ihr Geist seit Tagen zum ersten Mal wieder
erstaunlich wach erscheint. Sie nimmt all die Farben, Gerüche und Gefühle in
einer Intensität auf, die deutlich vom Finale zeugt. Sie weiß, dass es nicht
mehr viele Gelegenheiten geben wird, die ihr so bewusste Momente bescheren.
Oh Shit. Ich
will das nicht. Ich will diese Gedanken nicht zulassen. Weiterhin gibt es die
Option einer Transplantation und manchmal geschehen sie, die Wunder, auf die
wir gefühlt ein Leben lang warten, dann, wenn schon niemand mehr daran glaubt.
Ich lasse mich auf dem Boden nieder, der
zwar nicht die intensive Wärme eines heißen Sommertags gespeichert hat, aber
noch annehmbare Temperaturen abstrahlt. Mit dem Rücken lehne ich mich gegen die
gemauerte Wand, bevor ich Marthas Hand ergreife und sie langsam zu mir hinab,
zwischen meine Beine ziehe.
Mit einem rasselnden Atemzug sinkt sie gegen
meine Brust. Ich weiß nicht, ob das Zittern, welches ihre Gliedmaßen
kontinuierlich in der Gewalt hat, von der Schwäche ihres Körpers herrührt oder
ein Zeichen dafür ist, dass sie friert. Noch näher ziehe ich sie an mich, lege
beide Arme um sie und umfange sie mit meiner Wärme. Das ist alles, was ich
habe, was ich ihr bieten kann. Mich selbst, mit Haut und Haar.
Martha senkt ihren Kopf gegen meine
Schulter, bemüht sich um ein paar ruhige Atemzüge und allmählich lassen die
starken Kontraktionen ihres Körpers nach.
»Das … ist exakt die Stelle … an der du mich
damals so erschreckt hast.« Ich kann das Lächeln in ihren Worten hören. Jedes
einzelne schnürt mir die Kehle enger.
»Stimmt«, entgegne ich rau und hoffe, dass
ihr entgeht, wie angespannt ich bin.
»Dass du da warst, Samu … in jenem Moment …
war ein Geschenk.« Es gelingt ihr nicht, die Sätze in einem Atemzug zu beenden.
Ich streiche ihr das Haar zurück, neige mich vor und lege meine Wange an ihre.
»Möglicherweise war es auch umgekehrt.«
»Wie … meinst du das?«
»So wie ich es sage. Dir zu begegnen,
Marsch, ist das Beste, was mir je passiert ist.« Behutsam gleiten meine Lippen
über ihr Gesicht, streichen sanft über das markante Herz, das mir mittlerweile
zutiefst vertraut ist.
Die Stadt pulsiert zu unseren Füßen.
Zwischenzeitlich entbrennt ein Hupkonzert auf den verstopften Straßen. Das
Röhren eines Motors dringt bis zu uns hinauf und doch ist dies unser ganz
eigener Kokon, geschützt vor der Außenwelt und den Grausamkeiten, die sie
bereithält.
Allmählich senkt sich der Feuerball im
Westen herab und taucht die Skyline in Purpur, während der Himmel sich in ein
tiefes Dunkelblau wandelt. Wie mit Fingerspitzen bestäubt, verteilt das Licht
goldene Reflexe und verursacht einen magischen, fast unwirklichen Schimmer.
»Ich glaube, ich habe noch nie … einen so
farbintensiven Sonnenuntergang gesehen.« Marthas Stimme ist leise vor
Ergriffenheit und auch ich kann mich nicht erinnern, etwas Vergleichbares je
erlebt zu haben. Fast hat es den Anschein, als performe der Himmel einzig für
uns. Als wisse er um die Endgültigkeit dieses Atemzugs.
Ich ringe darum, die Verzweiflung in mir
nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Dieser Moment gehört dem, was wir sind.
Jetzt in diesem Augenblick. Weder Martha noch ich sollten in diesen Minuten
darüber nachdenken, was morgen ist. Und doch ist es unmöglich auszublenden,
dass der Atem des Mädchens, das ich in den Armen halte, immer schwerfälliger
wird. Dass ihre Zerbrechlichkeit greifbar ist, bei jeder Berührung, die sie mit
mir teilt. Ich spüre deutlich, dass sie mir entgleitet, dass sie verschwindet, jeden
Tag ein bisschen mehr. Stille Tränen benetzen meine Wangen, versiegen in ihrem
Haar. Ich will stark sein, ich muss es. Aber das Bewusstsein darüber, dass dies
vielleicht die letzten Stunden sind, die wir teilen, zerreißt mich innerlich
und verursacht einen solch grellen Schmerz, dass ich nur mühsam einen Schrei
unterdrücken kann.
Ich weiß, dass sie spürt, was in mir
vorgeht. Dass ihr meine Tränen nicht entgehen. Das Mädchen, das mir mein Herz
geraubt hat, greift nach meiner Hand und führt sie an ihre Lippen.
»Danke, Samu«, flüstert sie fast lautlos,
als die Sonne sich mit einem letzten Aufseufzen gänzlich verflüssigt. »Das war
atemberaubend schön.«