Sonntag, 12. Oktober 2025

[Schnipseltime] Stronger with you - Jeder Atemzug zählt von Silvia Maria de Jong


 

            Zweiundzwanzig

Zeitweise lässt der Tränenschleier dich zwar erblinden, aber er wäscht dir auch Gesicht und Seele rein.

 

                                                Ein Bild, das Nachtfalter und Schmetterlinge, Wirbellose, Insekt, Schmetterling enthält.

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                                                  SAMU

 

Die Sonne wirft lange, weiche Strahlen in das Zimmer und verkündet den Abend. Der perfekte Zeitpunkt für das, was ich vorhabe. Martha hebt die Lider und sieht mich an, als ich eintrete. Schon seit einigen Tagen fehlt ihr die Kraft, zu zeichnen. Aber der Glanz in ihren Augen signalisiert mir, dass die Freude darüber, mich zu sehen, ungebremst ist.

Ich trete an ihr Bett, beuge mich über sie und küsse sie. Ich weiß, dass auch diese Momente ihr immer mehr abverlangen, ihr den ohnehin kaum vorhandenen Sauerstoff rauben. Doch wie durch ein Wunder scheint in diesen kostbaren Sekunden die Krankheit zu schweigen. Als ziehe sie sich aus Ehrfurcht vor dem, was wir sind, in den tiefsten Winkel ihres Körpers zurück.

Immer wenn ich sie küsse, wünsche ich mir, ich könne diesen Moment für alle Ewigkeit festhalten, mein Herz damit brandmarken, denn jede Sekunde, die ich bei ihr bin, sie spüre, berühre, ist von einer Einzigartigkeit, die ich nicht in Worte fassen kann. Wer hätte gedacht, dass dieses verrückte Mädchen, das ich auf dem Dach fand, sich so tief in meinem Herzen, in meiner Seele einnistet.

Ich hebe den Kopf und streiche mit dem Daumen über ihre Wange, berühre das wunderschöne Muttermal, das sich mittlerweile fast schwarz von der durchscheinenden Haut abhebt. Gleichgültig wie sehr die Verzweiflung in mir tobt, für Martha muss ich stark sein. Ein Lächeln, das meine Lippen schmerzhaft verzieht, gleitet über mein Gesicht, als ich mich zu ihr setze und sie in meine Arme ziehe.

Das Kinn auf ihren Kopf gestützt, frage ich obligatorisch: »Wie geht es meinem Mädchen heute?« Sie seufzt. Ich kann die mühevolle Bewegung ihres Brustkorbs spüren, höre den gequälten Ton, der sich aus ihrer Kehle löst.

»Ein wenig schlechter als gestern«, ist nicht das, was ich hören will, aber doch was ich erwartet habe. Noch immer hält sie sich tapfer. Sie hadert nicht, tobt nicht, weint nicht. Aber sie hofft auch nicht länger. Das klingt deutlich zwischen allem heraus, was sie mich wissen lässt. Und ich weiß, ich bin der Einzige, dem sie ihr wahres Gesicht zeigt, mit all dem Schmerz, den dies in sich birgt.

Ich schlucke meinen hinunter und flüstere in ihr Haar: »Dann müssen wir etwas unternehmen, damit du dich besser fühlst.« Sie dreht den Kopf und begegnet meinem Blick.

»Was sollte das sein, Samu? Ich bin kaum in der Lage, den Weg bis zur Toilette zu schaffen.« Ihre Worte schüren die Trauer in mir auf ein unerträgliches Maß, dennoch begegne ich tapfer weiterhin ihrem Blick und streiche ihr eine lose Haarsträhne aus der Stirn. Auch ihr wundervolles, tiefbraunes Haar hat mittlerweile an Spannkraft und Glanz verloren. Es ist, als weite sich die Cystische Fibrose wie ein Filter über Martha aus und lösche alles, was ihre Persönlichkeit ausmacht.

»Es gibt da noch diesen einen Punkt auf deiner Liste, erinnerst du dich?«

»Der Sonnenuntergang«, flüstert sie erschöpft. Dann schweigt sie und ich bin sicher, dass mein Vorhaben sie maßlos überfordert. Vielleicht verlange ich ihr zu viel ab. Aber keiner von uns weiß, wie viele Möglichkeiten es noch gibt, diesen letzten Punkt abzuarbeiten. Wie viele Möglichkeiten es überhaupt noch gibt, einander zu begegnen …

Ich will diese Gedanken nicht zulassen, sperre mich mit aller Kraft dagegen und doch tauchen sie beharrlich wieder an der Oberfläche auf, gleichgültig, wie oft ich sie in den Tiefen meines Seins versenke. Ich schließe die Lider und dränge die Tränen zurück, die vehement in mir aufsteigen. Fuck. Martha ist so viel stärker als ich.

Und so, als spüre sie genau, was in mir vorgeht, hebt sie die Hand und legt sie an meine Wange.

»Also gut, wie hast du es dir vorgestellt?« Ich reiße die Augen auf und sehe sie an, sehe die Müdigkeit, mit der sie kämpft. Nicht körperlich. Eine andere Müdigkeit, die sie daran hindert, am Leben festzuhalten. Ich denke an ihn, meinen Freund, zwei Stationen tiefer, bei diesem Blick in ihre Seele und mir wird angst und bange.

»Ich … ich dachte das Dach?«, frage ich stotternd, nicht Herr der wütenden Empfindungen, die mein Herz zersetzen. Sie nickt und lächelt still.

Es endet, wo es begonnen hat.

Keiner spricht diesen Satz laut aus und doch wissen wir beide, dass er in jedem von uns anklingt. Ich zittere. Mein Körper steht unter Strom. Ungehalten reibe ich mir mit dem Handrücken über die Augen, in dem Versuch, die verfluchten Tränen, die ich kaum noch beherrsche, vor ihr zu verbergen.

»Es ist okay, Samu. Du musst nicht immer stark sein, nicht mal für mich. Es ist nichts dabei, zu weinen, wenn man traurig ist.« Traurig beschreibt nicht annähernd das Gefühl, welches mich fast um den Verstand bringt.

»Dieses fucking Leben ist so verflucht ungerecht, Martha. Wenn ich könnte, wenn es die Möglichkeit gäbe, dann würde ich dir meine Lungen geben …« Sie legt ihre Finger auf meine Lippen und bringt mich zum Schweigen.

»Ich weiß«, flüstert sie und wischt vorsichtig die Tränen von meinen Wangen, die lautlos auf ihre Züge fallen. »Hilfst du mir in die Jacke?«

Das ist mein Zeichen, dass sie diesen letzten Punkt ebenso angehen will, wie ich. Bevor ich mich erhebe, lasse ich meine Lippen tränennass über ihren Scheitel gleiten, dann suche ich ein warmes Sweatshirt aus dem Schrank und greife zufällig nach dem blauen mit dem Captain Marvel Aufdruck. Als ich Martha zum letzten Mal darin gesehen habe, war sie deutlich vitaler als jetzt, und doch erscheint es mir wie ein Zeichen. Ich helfe ihr, den Hoodie überzustreifen, ebenso wie die Leggins, die ich aus einem der Fächer gezogen habe. Als sie sich mit meiner Hilfe mühsam aufrichtet, lege ich ihr eine bunte Strickjacke um die Schultern und wickele sie behutsam darin ein.

»Bereit?«, flüstere ich mit rauer Stimme und helfe ihr in den Rollstuhl. Sie nickt und schenkt mir ihr vertrauensvollstes Lächeln. Ihr schönstes Lächeln. Ein Lächeln, das mich erneut an den Rand meiner eisernen Selbstbeherrschung führt. Egal wie sehr die Krankheit sie verändert, wie sehr sie sie auszehrt, Martha wird für immer das schönste Mädchen sein, dem ich begegnet bin.

Der Flur ist leer. Das gibt uns die Gelegenheit, unbehelligt ins Treppenhaus zu gelangen. Als ich sie durch die langen Gänge schiebe, bis hin zu den Türen, die wie von Geisterhand aufschwingen, fluten mich Bilder, die unser erstes Aufeinandertreffen markieren. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich nicht für möglich gehalten, was Martha mir heute bedeutet. Wie sehr sie mein Dasein verändert hat.

Vor den Stufen parke ich den Rolli, schiebe meine Arme unter ihren zerbrechlichen Körper und hebe sie an meine Brust. Sie wiegt nichts. Schon damals war sie viel zu leicht. Aber jetzt habe ich das Empfinden, dass sie schwerelos ist. Ihr Atem geht mühsam, als sie ihre Arme um meinen Hals legt und den Kopf an meine Schulter bettet. Im Zimmer gab es kein mobiles Sauerstoffgerät, welches ihre Atmung auch jetzt unterstützen könnte, darum wird unsere Zeit dort oben begrenzt sein. Ich hoffe, dass sie bis zum vollständigen Untergang der Sonne durchhält.

Als wir ins Freie treten, weht der Luftzug eines milden Septemberabends über das sonnenverwöhnte Dach. Erste rötliche Strahlen blenden uns, sodass Martha den Kopf dreht und ihr Gesicht in dem Stoff meines Pullis vergräbt. Ich könnte sie für immer so halten. Ihre Wärme spüren. Ihrem holprigen Atem lauschen, der ihren Brustkorb erschüttert. Den ihr ganz eigenen Geruch inhalieren. Wenn es bedeuten würde, mich niemals von ihr trennen zu müssen, würde ich mein Leben hier oben auf diesem scheiß Dach fristen. Hauptsache, sie wäre bei mir.

Die Schwere meiner eigenen Gedanken fordert mich im Höchstmaß. Zerrt Gefühle hervor, die ich bisher ignoriert habe. Das Ende war von Anfang an eine Option, gleichgültig wie vehement ich meine Augen davor verschlossen habe. Ich habe es unterschwellig immer gewusst, und Martha ebenso.

Ich lehne sie behutsam mit dem Rücken gegen die Wand, registriere, dass ihr Geist seit Tagen zum ersten Mal wieder erstaunlich wach erscheint. Sie nimmt all die Farben, Gerüche und Gefühle in einer Intensität auf, die deutlich vom Finale zeugt. Sie weiß, dass es nicht mehr viele Gelegenheiten geben wird, die ihr so bewusste Momente bescheren.

Oh Shit. Ich will das nicht. Ich will diese Gedanken nicht zulassen. Weiterhin gibt es die Option einer Transplantation und manchmal geschehen sie, die Wunder, auf die wir gefühlt ein Leben lang warten, dann, wenn schon niemand mehr daran glaubt.

Ich lasse mich auf dem Boden nieder, der zwar nicht die intensive Wärme eines heißen Sommertags gespeichert hat, aber noch annehmbare Temperaturen abstrahlt. Mit dem Rücken lehne ich mich gegen die gemauerte Wand, bevor ich Marthas Hand ergreife und sie langsam zu mir hinab, zwischen meine Beine ziehe.

Mit einem rasselnden Atemzug sinkt sie gegen meine Brust. Ich weiß nicht, ob das Zittern, welches ihre Gliedmaßen kontinuierlich in der Gewalt hat, von der Schwäche ihres Körpers herrührt oder ein Zeichen dafür ist, dass sie friert. Noch näher ziehe ich sie an mich, lege beide Arme um sie und umfange sie mit meiner Wärme. Das ist alles, was ich habe, was ich ihr bieten kann. Mich selbst, mit Haut und Haar.

Martha senkt ihren Kopf gegen meine Schulter, bemüht sich um ein paar ruhige Atemzüge und allmählich lassen die starken Kontraktionen ihres Körpers nach.

»Das … ist exakt die Stelle … an der du mich damals so erschreckt hast.« Ich kann das Lächeln in ihren Worten hören. Jedes einzelne schnürt mir die Kehle enger.

»Stimmt«, entgegne ich rau und hoffe, dass ihr entgeht, wie angespannt ich bin.

»Dass du da warst, Samu … in jenem Moment … war ein Geschenk.« Es gelingt ihr nicht, die Sätze in einem Atemzug zu beenden. Ich streiche ihr das Haar zurück, neige mich vor und lege meine Wange an ihre.

»Möglicherweise war es auch umgekehrt.«

»Wie … meinst du das?«

»So wie ich es sage. Dir zu begegnen, Marsch, ist das Beste, was mir je passiert ist.« Behutsam gleiten meine Lippen über ihr Gesicht, streichen sanft über das markante Herz, das mir mittlerweile zutiefst vertraut ist.

Die Stadt pulsiert zu unseren Füßen. Zwischenzeitlich entbrennt ein Hupkonzert auf den verstopften Straßen. Das Röhren eines Motors dringt bis zu uns hinauf und doch ist dies unser ganz eigener Kokon, geschützt vor der Außenwelt und den Grausamkeiten, die sie bereithält.

Allmählich senkt sich der Feuerball im Westen herab und taucht die Skyline in Purpur, während der Himmel sich in ein tiefes Dunkelblau wandelt. Wie mit Fingerspitzen bestäubt, verteilt das Licht goldene Reflexe und verursacht einen magischen, fast unwirklichen Schimmer.

»Ich glaube, ich habe noch nie … einen so farbintensiven Sonnenuntergang gesehen.« Marthas Stimme ist leise vor Ergriffenheit und auch ich kann mich nicht erinnern, etwas Vergleichbares je erlebt zu haben. Fast hat es den Anschein, als performe der Himmel einzig für uns. Als wisse er um die Endgültigkeit dieses Atemzugs.

Ich ringe darum, die Verzweiflung in mir nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Dieser Moment gehört dem, was wir sind. Jetzt in diesem Augenblick. Weder Martha noch ich sollten in diesen Minuten darüber nachdenken, was morgen ist. Und doch ist es unmöglich auszublenden, dass der Atem des Mädchens, das ich in den Armen halte, immer schwerfälliger wird. Dass ihre Zerbrechlichkeit greifbar ist, bei jeder Berührung, die sie mit mir teilt. Ich spüre deutlich, dass sie mir entgleitet, dass sie verschwindet, jeden Tag ein bisschen mehr. Stille Tränen benetzen meine Wangen, versiegen in ihrem Haar. Ich will stark sein, ich muss es. Aber das Bewusstsein darüber, dass dies vielleicht die letzten Stunden sind, die wir teilen, zerreißt mich innerlich und verursacht einen solch grellen Schmerz, dass ich nur mühsam einen Schrei unterdrücken kann.

Ich weiß, dass sie spürt, was in mir vorgeht. Dass ihr meine Tränen nicht entgehen. Das Mädchen, das mir mein Herz geraubt hat, greift nach meiner Hand und führt sie an ihre Lippen.

»Danke, Samu«, flüstert sie fast lautlos, als die Sonne sich mit einem letzten Aufseufzen gänzlich verflüssigt. »Das war atemberaubend schön.«

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