Ich bin die einzige Tochter. Es ist Tradition, dass ich Haus und
Handwerk der Familie übernehme – bestenfalls mit Mann und Kindern – und mich um
meinen Vater kümmere, sobald dieser ins Alter kommt. Aber wenn ich mich in
unserer schmalen Holzhütte umsehe, überkommt mich Beklemmung. Das hier ist
nicht mein Leben. Ich muss hier weg. Es ist für uns alle das Beste. Ich bin
sicher, dass selbst mein Vater froh sein wird, wenn er mich ab morgen nicht
mehr am Hals hat.
Ich höre Arvis Magen knurren und runzle die Stirn. Wo bleibt er denn
nur? Die Sonne ist längst untergegangen und für gewöhnlich besteht mein Vater
darauf, dass wir uns immer zur selben Zeit zum Essen zusammensetzen. Da stimmt
doch etwas nicht.
Ich erhebe mich und gehe zum Eingang. Als ich die Tür öffne, höre ich
aufgeregte Stimmen. Sie schallen aus allen Richtungen, verstehen kann ich sie
jedoch nicht. Es ist, als trüge der Wind die Worte davon. Ich strecke den Kopf
nach draußen, schaue nach links und rechts, sehe, wie die Menschen über die
Stege unserer Pfahlbausiedlung rennen, sodass das Holz unter der Last bebt. Die
Leute strömen auf den Anlegeplatz zu, der um diese Zeit mit Fackeln beleuchtet
ist. Ich erkenne eine dunkle Menschentraube, die sich eng auf dem
Platz zusammendrängt.
»Irgendwas ist da los«, murmle ich über die Schulter.
Ich höre, wie Arvi hinter mich tritt. Gemeinsam verlassen wir die Hütte
und folgen unseren Nachbarn die Stege entlang in Richtung Anlegeplatz. In der
Ferne sehe ich ein Boot. Es ist ein Erkundungsboot. Darauf steht ein Krieger,
er fuchtelt mit den Armen und ruft etwas. Seine Worte schaffen es nicht über
das schwarze Wasser, als er jedoch sein Horn an die Lippen legt und einen
tiefen Ton bläst, vibriert alles in mir. Ich zucke zusammen und mein Herz
klopft wie wild.
Etwas ist geschehen. Eine Veränderung, eine Katastrophe, die so
weitreichend, so elementar ist, dass ich sie mit dem gesamten Körper spüren
kann, obwohl ich nicht weiß, worum es sich handelt. Eine Gänsehaut überzieht
meine Arme und ich fühle, wie meine Wangen eiskalt werden.
Ich will zum Anlegeplatz eilen, aber jemand hält mich am Arm fest. Ich
drehe mich um und sehe in das aschfahle Gesicht meines Vaters. Ich habe ihn
nicht kommen sehen. Er sieht müde aus und seine sonst wachen Augen wirken so
trüb, dass ich geradezu bei seinem Anblick erschrecke.
»Was ist geschehen?«, frage ich ihn, erhalte jedoch keine Antwort.
Das Boot hat das Ufer erreicht und der Krieger bläst noch einmal in
sein Horn, wohl um sicherzugehen, dass er unser aller Aufmerksamkeit hat.
Ich schaue zwischen dem Boot und meinem Vater hin und her. Er hat eine
Hand auf Arvis Schulter gelegt und ihm, diesem großen, schweigsamen Mann, dem
die wenigsten Leute eine liebevolle Emotion zutrauen würden, beben die Lippen,
als er seinem Sohn in die Augen schaut.
»Der König!«, höre ich den Krieger atemlos rufen, dann bläst er erneut
in sein Horn. »König Garol wurde ermordet! Er ist tot.«
Die Zeit scheint einen Wimpernschlag lang stehen zu bleiben. Kurz
darauf wackelt der Steg bedrohlich unter mir. Oder sind es meine Knie? Ich
klammere mich am Geländer fest und keuche. Menschen rennen über die Stege,
Stimmengewirr überall – Schock und Panik liegen beinahe greifbar in der Luft.
Sie haben Angst. Ich nicht. Ich spüre vielmehr, wie eine unbändige Wut
siedend heiß durch meinen Körper fließt, unaufhaltsam wie Lava. Sie macht mich
schwindlig. Mein Leben, unser aller Leben wird sich grundsätzlich verändern,
das erkenne ich in diesem Moment glasklar.
Mit einem Mal ist es, als hörte ich eine helle Stimme in mein Ohr
flüstern: »Du wirst kämpfen. Du wirst deine Familie und deine Siedlung
verteidigen. Und du wirst deinen König rächen!«
Ich atme durch. Ich kenne meinen Platz, besser als je zuvor, und ich
werde ihn einnehmen, gleichgültig wer damit einverstanden ist und wer nicht.
Ich schaue zu meinem Vater auf. Er beachtet mich nicht, sondern mustert
Arvi, der die Stirn in tiefe Falten legt. Ganz langsam weiten sich seine Augen,
sein Mund öffnet sich und die Farbe entweicht aus seinen Wangen.
Endlich hat auch er seinen Platz erkannt. Ich sehe den exakten
Augenblick, in dem meinem kleinen Bruder klar wird, dass er zu einem echten
Krieger werden muss.
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