Samstag, 30. September 2023

[Schnipseltime] Dunkelheit und Silberglanz von Sabine Reifenstahl

 

Der Anfang des 1.Kapitel: Eria

 

Enyo fuhr aus dem Schlaf auf. Panisch blickte sie sich um. Die wiederkehrenden Visionen klebten nach dem Aufwachen wie heißer Teer an ihrer Seele.

Immer die gleichen Bilder verfolgten sie, Feuer und Tod, Menschen und Städte, die brannten, ihr kleiner Ziehsohn Rion, eingehüllt von Flammen. Um ihn zu rächen, hatte sie ihrer Halbschwester Rhoda die Macht entzogen und ihre boshafte Finsternis in sich aufgenommen.

Schwerfällig trat Enyo zum Fenster. Am Nachthimmel leuchteten zwei silberne Scheiben, die Zwillingsmonde von Eria. In der Burg herrschte Ruhe. Die meisten ihrer Bewohner durchkämmten als Wölfe die Berge. Ihr Geheul drang bis hierher. Das Rudel jagte wie in vergangenen Zeiten, obwohl keine Notwendigkeit dazu bestand. Die Wandelwölfe zelebrierten ihre Traditionen und verdeutlichten den Menschen, dass sie ihre Wolfsgestalt nie ganz ablegen würden. Und doch lebten sie in steinernen Mauern und gaben die Freiheit der Wälder für die Bequemlichkeit von warmen Betten und Kohlepfannen her.

Enyo seufzte und sog witternd die Nachtluft ein. Sehnsucht erfasste sie, für ein paar Stunden die menschliche Form abzulegen. Die Wölfin besaß Freiheiten, die die Göttin nicht kannte. Dennoch würde sie nie zum Rudel gehören. Für die Wandelwölfe blieb sie ein Zauberwesen, das die Körperform zu tauschen vermochte wie andere ihr Obergewand.

Angespannt lauschte sie und erkannte Wargs kräftige Stimme. Eine hellere antwortete, Kathein, seine Gefährtin. Der Name versetzte Enyo einen Stich ins Herz, obwohl sie Warg zugeredet hatte, den Bund mit der Wandelwölfin einzugehen. Mit ihr konnte er ein halbwegs glückliches Leben führen, seiner Natur folgen und eine Familie gründen.

Mit mir unmöglich!, gab Enyo im tonlosen Selbstgespräch zu. Die Moiren besitzen einen grimmigen Humor, eine Kriegsgöttin aus dem sonnenverwöhnten Hellas an einen Mannwolf aus dem Schneeland zu binden. Bei der Erinnerung an die erste Begegnung lächelte sie. Seine grünen Augen erinnerten sie an die Pinienwälder ihrer Heimat, sein Duft an die Wolfshöhle, in der sie aufgewachsen war. Durch ihn hatte sie die Liebe kennengelernt und wusste seither um den Schmerz unerfüllter Sehnsucht. Sie waren füreinander bestimmt und durften nicht einmal Händchen halten.

»Wären wir uns doch nie begegnet«, flüsterte sie in die Einsamkeit des Zimmers. »Mein Leben besaß eine Leichtigkeit, die es mit dir für immer verloren hat.«

Mit einem verärgerten Knurren wandte Enyo sich ab und musterte das Turmzimmer. Tisch, Bett, Sitzgelegenheiten und eine Feuerstelle. Der einzige Luxus bestand aus einem geschnitzten Tischchen mit Schachbrett und dazu passenden Steinfiguren. Ein Andenken an Rowan. Mit ihm hatte sie die Nähe erfahren, die ihr mit Warg verwehrt blieb. Der Fluch, der jeden in eine lebendige Fackel verwandelte, der sie begehrte, konnte dem alten Kämpen nichts anhaben. Eine Kriegsverletzung rettete ihn vor dem unheilvollen Einfluss. Die Göttin hatte ihn geliebt und musste ihn begraben. Genau wie die Hoffnung auf ein Zusammensein mit Warg.

 


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