Der Anfang des 1.Kapitel: Eria
Enyo fuhr aus dem Schlaf auf. Panisch blickte
sie sich um. Die wiederkehrenden Visionen klebten nach dem Aufwachen wie heißer
Teer an ihrer Seele.
Immer die gleichen Bilder verfolgten sie, Feuer
und Tod, Menschen und Städte, die brannten, ihr kleiner Ziehsohn Rion,
eingehüllt von Flammen. Um ihn zu rächen, hatte sie ihrer Halbschwester Rhoda
die Macht entzogen und ihre boshafte Finsternis in sich aufgenommen.
Schwerfällig trat Enyo zum Fenster. Am
Nachthimmel leuchteten zwei silberne Scheiben, die Zwillingsmonde von Eria. In
der Burg herrschte Ruhe. Die meisten ihrer Bewohner durchkämmten als Wölfe die
Berge. Ihr Geheul drang bis hierher. Das Rudel jagte wie in vergangenen Zeiten,
obwohl keine Notwendigkeit dazu bestand. Die Wandelwölfe zelebrierten ihre
Traditionen und verdeutlichten den Menschen, dass sie ihre Wolfsgestalt nie
ganz ablegen würden. Und doch lebten sie in steinernen Mauern und gaben die
Freiheit der Wälder für die Bequemlichkeit von warmen Betten und Kohlepfannen
her.
Enyo seufzte und sog witternd
die Nachtluft ein. Sehnsucht erfasste sie, für ein paar Stunden die menschliche
Form abzulegen. Die Wölfin besaß Freiheiten, die die Göttin nicht kannte.
Dennoch würde sie nie zum Rudel gehören. Für die Wandelwölfe blieb sie ein
Zauberwesen, das die Körperform zu tauschen vermochte wie andere ihr
Obergewand.
Angespannt lauschte sie und
erkannte Wargs kräftige Stimme. Eine hellere
antwortete, Kathein, seine Gefährtin. Der Name versetzte Enyo einen Stich ins
Herz, obwohl sie Warg zugeredet hatte, den Bund mit der Wandelwölfin
einzugehen. Mit ihr konnte er ein halbwegs glückliches Leben führen, seiner
Natur folgen und eine Familie gründen.
Mit mir unmöglich!, gab Enyo im tonlosen
Selbstgespräch zu. Die Moiren besitzen einen grimmigen Humor, eine
Kriegsgöttin aus dem sonnenverwöhnten Hellas an einen Mannwolf aus dem
Schneeland zu binden. Bei der Erinnerung an die erste Begegnung lächelte
sie. Seine grünen Augen erinnerten sie an die Pinienwälder ihrer Heimat, sein
Duft an die Wolfshöhle, in der sie aufgewachsen war. Durch ihn hatte sie die
Liebe kennengelernt und wusste seither um den Schmerz unerfüllter Sehnsucht.
Sie waren füreinander bestimmt und durften nicht einmal Händchen halten.
»Wären wir uns doch nie
begegnet«, flüsterte sie in die Einsamkeit des Zimmers. »Mein Leben besaß eine
Leichtigkeit, die es mit dir für immer verloren hat.«
Mit einem verärgerten Knurren
wandte Enyo sich ab und musterte das Turmzimmer. Tisch, Bett, Sitzgelegenheiten
und eine Feuerstelle. Der einzige Luxus bestand aus einem geschnitzten
Tischchen mit Schachbrett und dazu passenden Steinfiguren. Ein Andenken an
Rowan. Mit ihm hatte sie die Nähe erfahren, die ihr mit Warg verwehrt blieb.
Der Fluch, der jeden in eine lebendige Fackel verwandelte, der sie begehrte,
konnte dem alten Kämpen nichts anhaben. Eine Kriegsverletzung rettete ihn vor
dem unheilvollen Einfluss. Die Göttin hatte ihn geliebt und musste ihn
begraben. Genau wie die Hoffnung auf ein Zusammensein mit Warg.
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