Als die Sonne sich hinter den Wipfeln der
Bäume absenkte, verließen sie Aleshanees Haus, um zum Fest der Freunde zu
gehen. Schon von Weitem hörten sie Trommeln, Rasseln und Gesänge. Auf dem
Marktplatz angekommen, bot sich ihnen ein Schauspiel ohnegleichen.
Die Feenlichter glitzerten wie bunte Sterne am
Himmel. In der Mitte brannten die großen Lagerfeuer in den Farben des
Regenbogens. Über die beiden mannshohen Kupferkessel gebeugt, an denen die
Flammen hochtänzelten, standen die alten Frauen auf ihren Tritten, um mit
erstaunlicher Kraft die vor sich hin köchelnden Suppen zu rühren. Der würzige
Geruch der Suppen, mit dem süßlichen Rauch des Feuers vermischt, entfachten in
Quinn eine Welle an Glücksgefühlen.
Männer mit hölzernen Masken und Rasseln, aus
denen grüner Dampf quoll, tanzten um das Feuer. Anders als Taytas Maske wirkten
die ihren freundlich und lustig. Sie sangen in der Sprache, die Quinn so fremd
und doch mittlerweile so vertraut zugleich war, in der Sprache ihres Volkes.
Die anderen Nahimani saßen in Kreisen um sie herum und wiegten sich im „Rausch
– die Hände gen Himmel gestreckt, den Kopf zurückgelegt und die Augen
geschlossen. Der Thron war noch unbesetzt.
Einige Frauen hatten sich erhoben, um die
hölzernen Suppenschalen und das frischgebackene Brot, das herrlich nach
Kräutern und Hefe duftete, von den Köchinnen entgegenzunehmen und zu verteilen.
Erst jetzt bemerkte Quinn, wie hungrig er war. Ein tiefes Gurgeln aus Makis
Richtung, die sich ungeduldig den Bauch rieb, sagte ihm, dass er nicht der
Einzige war.
»Na los, kommt schon! Ihr müsst unbedingt die
Suppe und das Brot probieren. Danach wollt ihr nichts anderes mehr essen«, rief
Aiana über den Lärm der Trommeln hinweg und ging ihnen voraus.
Nachdem sie gefüllte Schalen und Brot
entgegengenommen hatten – Maki hatte sich gleich zwei Schüsseln geben lassen
und musste ihre beiden Brote nun auf dem Kopf tragen –, suchten sie sich Plätze
nahe den Feuerstellen.
Aiana hielt Maki davon ab, direkt über ihr
Essen herzufallen, und versuchte ihr zu erklären, dass sie sich alle noch ein
wenig gedulden mussten. Empört wollte Maki gerade erwidern, dass man ein
solches Essen doch nicht warten lassen konnte, als ein lauter Paukenschlag und
der Schrei eines weißen Nashorns ertönte. Die Nahimani erhoben sich und hielten
ihre Schüsseln über ihre Köpfe Maki hätte nicht verstörter schauen können,
hätte sie einen Glühkäfer grunzen gehört.
»Der Häuptling kommt«, flüsterte Aiana ihnen
zu.
Eine Frau mit grünem Federschmuck in den
kurzen schwarzen Haaren betrat den Platz. In ihr Gesicht, von der Zeit der
Jahre gealtert, waren grüne Runen tätowiert und ihre Hände leuchteten wie die
Sonne. Hinter ihr ging ein buckliger Mann in roter Robe, die Kapuze tief ins Gesicht
gezogen. Die Fingernägel seiner gefalteten Hände waren schwarz.
»Das ist ihr oberster Berater, von dem ich dir
erzählt habe«, raunte Aiana Quinn zu. Aleshanee, die sich mittlerweile zu ihnen
gesellt hatte, gab ihr ein Zeichen, ruhig zu sein.
Als der Häuptling den Thron erreicht hatte,
hielt sie die Hände über die Menge und sprach beschwörend auf sie ein. Das
Licht ihrer Hände wurde immer heller, bis der Wald von einem tiefen Summen
erfüllt war und glitzernde Tropfen vom Himmel auf sie hinab in die Suppe
regneten. Quinn versuchte, seine Suppe abzuschirmen, doch Aleshanee hielt ihn
zurück.
»Das Tränen von Feen! Sie Volk segnen bei
Fest. So wir sicher und bewahrt.«
Der Häuptling ließ die Arme sinken und erhob
die Stimme zum Volk. Jubelschreie brandeten zur Antwort über die Menge hinweg.
Wie auf ein geheimes Zeichen hin, setzten sich die Nahimani und schlürften ihre
Suppen um die Wette.
Als Quinn kostete, hatte er das Gefühl, eine
andere Welt zu betreten. Noch nie hatte er etwas so Vorzügliches gegessen.
Jedem Schluck folgte eine Symphonie der Genüsse – Weißer Kürbis,
Honigkartoffeln und Waldkarotten, Knoblauch, Gelbbasilikum und Drachenchili.
Mit jedem Mal entfaltete sich ein neuer Geschmack einer weiteren Zutat auf
seiner Zunge, der einen wohligen Schauer durch seinen Körper jagte. Während er
immer noch versuchte, das kulinarische Rätsel seiner ersten Suppe zu lösen, kam
Maki bereits mit ihrem dritten Nachschlag zurück. Das Gesicht von oben bis
unten voll mit Suppe, strahlte ihn die Trollfrau zufrieden an.
»If frauche unfedingt fas Refepf!«, schmatzte
sie an Aiana gewandt.
»Das weiß niemand. Solange die Kochfrauen noch
leben, sind sie die Einzigen, die es kennen. Die Zubereitung der Suppe ist ein
gut gehütetes Geheimnis, das von Kochfrau zu Kochfrau weitergegeben wird. Tut
mir leid, kleine Freundin, aber da muss ich dich wohl enttäuschen. Ich wüsste
es auch nur zu gern«, erklärte Aiana lachend.
Die halbleere Schüssel in den Pfoten, erhob
Maki sich mit bangem Gesichtsausdruck und rannte Richtung Suppenausgabe, als
würde sie um ihr Leben rennen.
Als alle Anwesenden gesättigt waren und selbst
Maki keine weitere Schüssel mehr wollte – sie hatte vermutlich einen der beiden
Kessel allein geleert –, wurden die Überreste des Essens weggebracht. Zwei
Männer mit bunten Masken und kleinen Holztiegeln traten hervor. Sie gingen
singend von Person zu Person und malten jedem mit grüner Paste Symbole ins
Gesicht, die bei Berührung der Haut zu glühen begannen.
Ein Meer aus Runen und Linien erleuchtete die
Dunkelheit des nächtlichen Waldes. Mit Auftragen der Farbe hörte Quinn
schlagartig jedes Geräusch ganz klar, sah es bildlich vor seinem inneren Auge.
Er hatte das Gefühl, aus dem Körper gestiegen zu sein und über dem Festplatz zu
schweben. Die beiden Männer mit den Masken ergriffen im Wechsel das Wort. Quinn
riss erstaunt die Augen auf. Er konnte jedes ihrer Worte verstehen.
»Noch vor den Sommern unserer Urahnen lebten
die ersten unseres Stammes friedlich im Wald der Träume ...« Der Festplatz
verschwamm vor Quinns Augen. An seiner Statt öffnete sich ihm die Welt der
Erzählung, der er lauschte.
»... Sie lebten friedlich an der Seite der
Tiere. Die Magierinnen erkundeten die Geheimnisse des Waldes, die Jägerinnen
empfingen, was die Götter für sie bestimmt hatten, die Krieger erprobten ihre
Körper und die Kinder spielten ihre Spiele.
Doch eines Tages kamen Männer in unsere Mitte
– Männer mit hellen Gesichtern. Wir begegneten ihnen mit Ehre und Respekt. Wir
hießen sie mit dem Fest der Freunde willkommen, wie unser Brauch es gebührt.
Wir lernten von ihnen, sie lernten von uns.
Über die ewigen Wechsel von Sommer und Winter vertrauten wir ihnen unsere
Kinder an und sie uns die ihren, um ein Band der Freundschaft zu knüpfen, das
selbst die Götter nicht trennen sollten. Das Gleichgewicht der Stämme, dem das
Gleichgewicht alles Lebenden innewohnt, nährte den Wald der Träume und vertrieb
alles Böse.
Doch eines Tages legte sich ein Schatten auf
den Wald der Träume. Männer in Gewändern, dunkel wie die Nacht, kamen und
beschmutzten unsere Bräuche. Sie wollten kein Fest der Freunde. Stattdessen
nahmen sie unsere Frauen und Kinder ...« Wie aus weiter Ferne hörte Quinn die
schmerzerfüllten Schreie und das Gemurmel der Zuhörer.
»Sie zerstörten das heilige Gleichgewicht und
ließen unseren Wald erkranken. Die Dunkelheit kam, machte aus Gutem Böses und
verschlang das Licht auf ewig.
Bald wird der Tag kommen, an dem die Feen uns
verlassen müssen, an dem sie sich andere heilige Orte suchen werden und der
Wald der Träume den Schrecken der Dunkelheit unterliegen wird. Nur das
Gleichgewicht kann den Schatten Einhalt gebieten.
Doch verzaget nicht, oh Nahimani! Die Hoffnung
ist nach zahllosen Sommern wieder zu uns zurückgekehrt. Eine weiße Magierin
wurde gesandt, um uns zu helfen. Mit vereinten Kräften werden wir die
Dunkelheit besiegen oder für ewig von ihr verschluckt werden. Feiert die Götter
und betet, dass sie uns wohlgesonnen sind!«
In seiner Erleichterung wie zu einem einzigen
Lebewesen vereint, schrie das Volk des Waldes auf. Benebelt von der Magie der
Hoffnung tanzten sie so ausgelassen um die Feuer, dass der grüne Schein der
Tänzer und die Regenbogentöne des Feuers zu einem Meer aus Farben verschwammen.
Hier, an diesem Ort der Zuversicht, wollte Quinn für immer bleiben, um mit den
Nahimani zu leben, zu feiern und mit ihnen auf die Rettung durch die große
weiße Magierin zu warten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Mit dem Abschicken des Kommentars bin ich mit den Datenschutzrichtlinien des Blogs einverstanden.