Samstag, 31. Juli 2021

[Schnipseltime] Regenbogenblau von Tamara Leonhard

  


»Pssst.« Andrew stupste Fabian mit dem Ellenbogen an.

»Hm?«, machte dieser, ohne den Blick zu heben. Sie saßen mit baumelnden Beinen nebeneinander am Bühnenrand und Fabian gab sich alle Mühe, seine Konzentration ausschließlich auf das Muster im Parkettboden unter sich zu richten.

»Ich glaube, das ist sie, oder?«, flüsterte Andrew.

Allein bei dem Gedanken durchzuckte Fabians Magen ein Blitz und seine Kehle wurde eng. Vorbei war es mit der erzwungenen Ruhe. Es kostete ihn all seine Selbstbeherrschung, nicht sofort den Kopf hochzureißen. Mühsam atmete er das Poltern in seinem Brustkorb weg und schielte zum Seiteneingang. Tatsächlich: Da stand sie. Die schmerzliche Erinnerung an sein folgenschweres Versagen! Der Moment, auf den er sich seit Wochen vorbereitet hatte, traf ihn vollkommen unerwartet.

Sie verharrte im Türbogen und sah sich suchend im Halbdunkel des Zuschauerraums um. Das Licht aus dem Foyer hinter ihr umstrahlte ihre Silhouette und verlieh ihr das Aussehen einer unwirklichen Erscheinung. Ihr Blick blieb an Gernot Sommer hängen. Der Regisseur saß in der ersten Reihe auf einem der Polstersitze und war vollkommen in das Skript auf seinem Schoß vertieft. Als sie sich ihm festen Schrittes näherte, wirbelte sie damit einen Schwarm Schmetterlinge in Fabians Innerem auf.

Mit angehaltenem Atem beobachtete er, wie sie im Gehen ihre Umhängetasche von der Schulter gleiten ließ und zwei Plätze neben Gernot ablegte. Sie strich sich den dichten Pony aus der Stirn, eine winzige, vertraute Geste, die Fabian wie eine Welle entgegenschlug und all die Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit so lebendig werden ließ, als hätte es die vergangenen sechs Jahre nicht gegeben. Ein Blick in ihre großen, dunklen Rehaugen gab ihm den Rest.

»Bambi«, flüsterte er und wusste nicht, wohin mit all den aufbrandenden Gefühlen. Sie überrollten ihn so gewaltig, dass er am liebsten davongelaufen wäre.

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