Montag, 26. Juli 2021

[Schnipseltime] Feueratem - Drachen über Linz von Cornelia Eder

  


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Der Anblick dieser erhabenen Steinmassen hat sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Unendliche Freiheit. Ein wohliges Gefühl machte sich in Elen breit, als sie das erste Mal das Massiv in vollem Ausmaß sah. Diese Schönheit, die Mutter Erde geschaffen hat, saftiges Grün der Bäume im Kontrast zu dem schroffen Grau der Felsen. Am liebsten würde sie für immer am Fuße dieser Berge leben, um sich jeden Tag an dem Ausblick zu laben. Wer weiß, was sich nach der Schlacht ergibt. Vielleicht kann sie sich von den Avantgardisten befreien und hier ein neues Leben beginnen. Dann könnte sie regelmäßig durch die Berge wandern.

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Elen schließt die Augen, spürt den Boden unter ihr, die feinen Steine, die gegen die dünne Schuhsohle drücken und Drayas glatte Haut unter ihren Fingern. Der ihr unbekannte Geruch fiel ihr bereits beim Betreten der Höhle auf. Jetzt nimmt sie ihn bewusster wahr. Er umfängt sie, spielt mit ihren Geruchsrezeptoren und verankert sich in ihrem Gehirn. Ein Gefühl von Sicherheit ergreift von ihr Besitz. Elen spürt es, ganz tief in ihr: Hier ist der Ort, der für sie bestimmt ist.

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»Das sind Librarios. Sie erneuern die Schriftstücke oder übersetzen sie aus alten Sprachen. Ihr Zugang zu den geheimsten Dokumenten unserer Gemeinschaft macht sie zu den Mächtigsten unter uns. Früher wurden ihnen nach dem Ableisten ihres Eides die Zungen herausgeschnitten, damit sie mit niemandem über ihr Wissen sprechen konnten.«

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Mist, er hat vollkommen verdrängt, wie spärlich dieser Raum eingerichtet ist. So kann er keinen Eindruck bei ihr schinden. Sie ist sicherlich Besseres gewohnt. Wäre ihm doch eine vorzeigbarere Alternative eingefallen! Jetzt ist es für diese Erkenntnis zu spät.

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Schon wieder sie. Hat er nicht einmal Ruhe von ihr? Einen einzigen Moment für sich? Er wird wegen ihr ein Magengeschwür bekommen. »Ich brauche niemanden. Ich bin ein perfekter Einzelkämpfer. Du bist nur ein Klotz an meinem Bein, ein unerwünschtes Furunkel. Du bist total wahnsinnig und mit so jemandem soll ich zusammenarbeiten?!« Endlich hat er diesem Weibsbild einmal ordentlich seine Meinung gegeigt. Zu lange hat er damit gewartet. Maurice richtet sich zu seiner vollen Größe auf und sieht Schmerz in ihren Augen aufflackern. Aber er ist zu stolz, um ihr Leid an sich heranzulassen.

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Berge erstrecken sich vor ihnen wie Finger der Erde, die den Himmel berühren. Einzelne sind so hoch, dass selbst jetzt, kurz vor Sommerbeginn, ihre Gipfel schneebedeckt sind.

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»Da gibt es die Miru. Sie nennen sich Menschen. Allerdings wissen sie nichts von dem, was sich um sie herum und vor allem unter ihnen abspielt. Sie sind zu sehr mit sich beschäftigt, um selbst klare Zeichen zu erkennen. Ihre Fähigkeit, Dinge zu ignorieren, ist fast bemerkenswert. Doch diese ist bei ihren unterentwickelten Sinnen nötig. Im Grunde sind sie Knechte ihrer Körper, die rasch an Grenzen stoßen. Wir Protectoren haben schärfere Sinne und werden erheblich älter als die Miru. Unsere Gemeinschaft geht zurück bis in die Entstehungsgeschichte der Menschheit, als die Drachen noch auf der Erdoberfläche lebten.«

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Sie verschluckt sich und spuckt den Tee in einer Fontäne wieder aus. Entgeistert starrt sie Joshua an. »Entschuldige, ich glaube, ich habe dich eben falsch verstanden.«

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Wenngleich die Zeichnung die rohe Gewalt und Kraft des Drachen nicht so widerspiegelt wie das Schwarz-Weiß-Bild, zeigen sich klar Parallelen. Der massige Körper, der spitz zulaufende Kopf, die großen Flügel mit Falten und Löchern darin.

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»Warum sollen wir uns verstecken? Ich habe keine Angst vor der Gemeinschaft und vor den Miru sowieso nicht.« Obwohl sich Maurice vorgenommen hat zu schweigen, ließen sich die Worte nicht zurückhalten.

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»In dreißig Minuten reisen wir ab. Leichtes Gepäck. Du brauchst keinen Lippenstift oder dergleichen.«

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Um den Frosch in seinem Hals zu vertreiben, räuspert sich Joshua. Er strafft die Schultern und spürt sofort die Wirkung im Raum. Um ihn herum wird es ruhiger. In diese Stille spricht er seine Gedanken laut aus: »Wir müssen evakuieren.«

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