Donnerstag, 10. Juni 2021

[Schnipseltime] Kong-Fu Mama von Petra Liebkind

 


 
… Damit warf sie sich die Sporttasche über die Schulter, lief hinaus – und prallte direkt gegen eine breite Männerbrust.

»Uff!«, stieß sie im Zurücktaumeln aus. Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren, aber im nächsten Moment hielten sie zwei Arme wie Stahlgreifer fest. Marlene blickte auf – direkt in ein Paar dunkler Mandelaugen.

Ein Mann, du liebe Zeit, und was für einer! Eine sensationelle Kraft ging von ihm aus. Er war einen halben Kopf größer als sie und roch besser als alles, was sie jemals in ihrem Leben an Männerdüften wahrgenommen hatte. Das musste Sandelholz sein zusammen mit einem Hauch Vanille. Kurz geschorenes Haar wie ein Mönch. Eindeutig Chinese. Warm- herziger Katzenblick. Wäre nicht die rechte Augenbraue von einer Narbe zweigeteilt gewesen, sie hätte ihn für den friedfertigsten Menschen der Welt gehalten.

Marlenes Gedanken stoben wilder auseinander als eine aufgeschreckte Hühnerschar, die sich die Neuigkeiten über den neuen Hahn im Stall berichten musste. »Entschuldigung«, sagte der vermeintliche Hahn ruhig und lächelte dabei fast unmerklich, »ich dachte, alle Damen sind draußen.« Gleichzeitig ließ er ihre Arme los und trat einen Schritt zurück.

»Ich heiße Marlene«, erwiderte sie und verscheuchte die inneren Hühner, die lautstark gegen die Distanz zum Hahn protestierten. »Ich komme zum Probetraining.«

»Freut mich sehr, Marlene.«

Sein Akzent ging in der fast perfekten Aussprache der Worte beinahe verloren, obschon Marlene die Anstrengung dahinter bemerkte. Höflich neigte er den Kopf und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Marlene kam es vor, als würde er ihr Gesicht und ganz besonders ihren Hals aufmerksam mustern. »Ich bin Liwei, der Shifu dieser Schule.«

Marlene konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Liweis Gesichtszüge waren exotisch und fein geschnitten, hohe Wangenknochen, goldene Haut. Gut – das mit der goldenen Haut war eine Spur übertrieben, aber hier in diesem Zwielicht wirkte sein Gesicht überirdisch, und Marlene konnte sich nicht satt sehen. »Wir sollten anfangen«, sagte Liwei und ließ ihr den Vortritt.

Marlene nickte und fühlte sich auf einmal äußerst motiviert, ihr Bestes zu geben. …

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