Samstag, 23. Januar 2021

[Schnipseltime] Survive - Uns trennen Welten von Heike Rissel

  



"Verloren saß ich auf dem Boden. Flüssiges Licht umwaberte meinen Körper. Endlose Weite. Soweit ich sehen konnte, nur weißer Sand. Bruchstückhaft durchfloss eine vage Erinnerung meine Gedanken, die ich nicht zu fassen bekam. Die Umgebung kam mir bekannt vor. Es war jedoch wie verhext. Jedes Mal, wenn ich glaubte, ein Stück jenes Widerhalls in meinem Gedächtnis festhalten zu können, floss es mir wie Honig durch die Finger. Ich war mir sicher, schon einmal hier gewesen zu sein. Am Horizont tauchte plötzlich eine Gestalt auf. Sie war gegen das milchige Leuchten kaum auszumachen. Langsam und unaufhaltsam kam sie näher und näher. Die Umrisse wurden klarer, deutlicher. Noch leicht schemenhaft schälte sich aus dem nebligen Schimmern ein großer Körper heraus. Gewann, je weiter er herankam, an Struktur. Ein Schein wie eine lichterfüllte Gloriole umgab ihn. Wunderschön anzusehen und mit einem beruhigenden Lächeln auf den hinreißenden Lippen. Er strahlte eine milde Freundlichkeit aus und leuchtete wie die Umgebung in diesem gleißenden Licht. Unwirklich, fremdartig aber trotzdem vertraut. Er trat aus dem Nebel zu mir, nahm mein Gesicht in beide Hände und presste seine weichen Lippen auf meine. Das Gefühl des Unbekannten war wie weggewischt, und es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Kyron. Erleichtert schmiegte ich mich an ihn, der mir wie das einzige Relikt einer fernen Heimat höchst willkommen schien. Meine Fingerkuppen fuhren über seine Haut, tasteten über seinen Körper. Zart waren die Küsse, die er mir auf Mund, Hals und Lider hauchte. Erneut streiften meine Finger seinen Brustkorb, strichen sanft über seine Wangen. Da erstarrte ich. Dort, wo ich ihn berührte, löste sich die makellose Haut in Fetzen von seinem Gesicht. Immer weiter riss die schöne Hülle dieses Körpers auf, platzte auf wie der Kokon einer Raupe und verlor dabei kontinuierlich sein engelsgleiches Aussehen. Blutrote Segmente schimmerten durch die beständig dünner werdende Haut und offenbarten ein Bild des Grauens. Faserige Streifen hingen wie blutiger Seetang herunter, immer schneller erfolgte die Häutung. Fleischstücke, schwarz wie Teer, lösten sich von den Knochen, die grau schimmernd das Gerüst einer Horrorvision bildeten. Die Augäpfel warfen Blasen, schmolzen wie Quecksilber zusammen und flossen wie feurige Lava auf den Resten seines Gerippes hinunter. Darunter kamen Augen wie rotglühende Kohle zum Vorschein. Ich prallte zurück und taumelte zur Seite. Wie betäubt, unfähig auch nur einen Laut von mir geben zu können, beobachtete ich diese grauenvolle Wandlung. Klauenartige Hände, die nichts Menschliches mehr besaßen, näherten sich mir. Entsetzt wich ich zurück. Schritt für Schritt tastete ich rückwärts, versuchte dem Zugriff zu entkommen, aber es erschien aussichtslos. Das Wesen, das einmal Kyron gewesen war, folgte mir, holte immer mehr auf. Es griff nach mir. Blitzschnell duckte ich mich weg, stolperte dabei, fiel, und die Klauen fassten zu. Grauengeschüttelt schrie ich auf. Ich schrie und schrie - konnte nicht mehr aufhören. Plötzlich löste sich das Bild vor meinen Augen auf, verschwamm in seinen Konturen, und eine feste Berührung holte mich zurück ins Hier und Jetzt. Ich schreckte zusammen, kreischte wie von Sinnen auf, schlug um mich und versuchte mich dem Griff zu entziehen. Schreiend trat und hieb ich blindlings drauflos, traf auf harte Muskeln, denen meine Faustschläge und Fußtritte jedoch nichts anzuhaben schienen. Schluchzend wand ich mich in einer unnachgiebigen Umarmung, die jegliche Bewegung unmöglich machte und mich an einen stahlharten Körper presste. Ich schrie und tobte weiterhin gegen die feste Umklammerung, gegen die Bilder in meinem Kopf. Eine herrische, aber eindeutig humanoide Stimme drang an mein Ohr: »Sei still, Frau von Terra, du hast geträumt.«
Noch immer in diesem furchtbaren Albtraum gefangen, weigerte ich mich beharrlich die Augen zu öffnen. Grauen schüttelte meinen Körper bei der Erinnerung daran, wie sich Kyron in ein grässliches Monster verwandelt hatte.
Erneut machte sich die Stimme bemerkbar: »Gib jetzt endlich Ruhe, Frau.«

Ich riss die Augen auf und blickte direkt in das ungeduldige Gesicht Tyrells. Tyrell. Sein Körper, seine Lippen so nah. Schluchzend und ohne nachzudenken, warf ich mich in seine schützenden Arme. Er blieb wie erstarrt sitzen und rührte keinen Muskel. Es war mir egal, was er von mir dachte. Ich brauchte Zuwendung, und die fand ich an seiner starken Brust. Sein warmer Körper versprach Schutz und Trost, und ich verbarg mein tränenüberströmtes Gesicht an seiner Schulter. Zögerlich legte er einen Arm um meine Taille, begann mir ein wenig unbeholfen den Rücken zu tätscheln. Noch immer zitterte ich am ganzen Leib und schmiegte mich an diesen widerspenstigen Krieger. Ich konnte nur die widrigen Umstände zu meiner Verteidigung anführen, anders war meine überzogene Reaktion nicht zu erklären. Ich warf mich diesem feindseligen Riesen an den Hals, der mir vor nicht allzu langer Zeit denselben am liebsten hatte umdrehen wollen"

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