Freitag, 15. Januar 2021

[Schnipseltime] Geburt einer Göttin von Emilia Lynn Morgenstern

 


Schnipsel aus „Geburt einer Göttin“ 

»Ach ja?«, frage ich mit plötzlich nicht mehr ganz so fester Stimme. »Woher willst du dann wissen, wie ich tanze?«

»Ich weiß, was ich zu wissen begehre, kleine Göttin der Wahrheit. Und jetzt hol die Flasche mit Dionysos’ zertrümmerter Erinnerungsblase, wir müssen verschwinden.«

Von dieser Begebenheit weiß er also auch? Bedenklich! Während ich mich noch im Olymp in Sicherheit wähnte, hat mich mein Todfeind längst entdeckt.

»Du leugnest also nicht, dass du schon früher hier in meinem Haus gewesen bist, Daimon?«

»Nein, warum sollte ich?« Er beugt sich zur Tür hinaus und späht die Straße hinunter. »Beeil dich, pack deine Sachen, Zeus kann jeden Augenblick hier sein.«

Und da habe ich einmal gedacht, die Windgötter seien unverschämt! »Was fällt dir eigentlich ein, in mein Haus einzudringen und mich dabei zu beobachten, wie ich tanze?«

Dolos dreht mir den Kopf zu und grinst von einem Ohr zum andern. »Bei solch erotischem Anblick fällt mir eigentlich nur eines ein. Bestehst du darauf, dass ich es dir erläutere?«

»Nein«, keuche ich und versuche ihn mitsamt der Tür nach draußen zu schieben. »Ich will weder dich … noch Ares … oder sonst irgend … einen Gott … geh jetzt!« Plötzlich gibt die Tür nach und knallt ins Schloss. Der Daimon aber steht zwischen mir und der Tür, so dass ich ihm den Kopf in die Brust bohre. Ich quieke, springe zurück.

»Daimonen weist man nicht die Tür!«, knurrt Dolos, packt mich an den Schultern und zieht mich bis an seine Brust.

Mein Herz klopft wild. So nah bin ich meinem Widersacher noch nie gewesen, die Intensität seines Blickes lässt mich erbeben. Sicher legt er auf diese Weise seine verderblichen Bilder in die Köpfe seiner Opfer. Kein Gott kann diesen hellen Augen widerstehen, etwas Zwingendes liegt in ihnen, etwas, das meine Knie weich werden lässt.

Was, wenn ich doch nicht immun gegen seine Visionen bin? Mittlerweile weiß er genug über mich, um mir einen unwiderstehlich schönen Todesbefehl in den Kopf zu legen. Ich muss mich aus dem Bann seines Blickes lösen, nur wie?

Einen atemlosen Moment lang passiert gar nichts, dann fragt er mit rauer Stimme: »Hat Eros so schlecht geküsst, dass du nun nichts mehr von Männern wissen willst?« Er zieht mich noch ein Stückchen näher zu sich. »Ich hätte dir gleich sagen können, dass seine Liebeskunst noch in den Kinderschuhen steckt. Wenn du von einem Mann geküsst werden willst, musst du schon mit mir vorliebnehmen.«

Mit einem Schlag finde ich in die Wirklichkeit zurück, versteife mich. »Wage es nicht, mir zu nahe zu treten!«

Der Daimon lässt meine Schultern los und lächelt auf mich herab. »Es sollte nur ein Angebot sein. Aber irgendwann musst du schon den Mut aufbringen, die Wirkung deiner Reize als Frau auszuprobieren, nicht nur zu Hause vor dem Spiegel.«

Verdammt, gibt es eigentlich irgendetwas, das der Daimon nicht von mir weiß? »Mein Liebesleben geht dich überhaupt nichts an«, fauche ich und stoße ihn vor die Brust.

Blitzschnell umfasst Dolos meine beiden Handgelenke und wechselt die Gestalt. »Na, na, Kleine, wer wird denn gleich die Krallen zeigen?«

Er weiß es! Deshalb hat er jetzt Dionysos’ Gestalt gewählt. Augenblicklich erschlaffen meine Arme. Gegen Dionysos kann ich nicht kämpfen, niemals brächte ich es übers Herz, diesen Gott zu verletzen.

»Lass mich los«, presse ich mühsam heraus.

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