Donnerstag, 7. Januar 2021

[Schnipseltime] Diener des Ordens: Band 1 - Das Zweigesicht von C. Gina Riot

 



Der Nebel senkte sich auf den purpurnen Wiesen Wristanguls. Ruhe war eingekehrt. Die Monde näherten sich einander und das Rauschen der klaren Flüsse verstummte in der Einsamkeit des schwarzen Nachthimmels. In der Ferne konnte man das Heulen der Wölfe vernehmen, die den Tag verabschiedeten. Die mit Steinen gepflasterten Wege waren von Tau bedeckt. Die dichten Wolken schoben sich bedrohlich zusammen. Leise rauschte der Wind durch Wristanguls ruhende Wälder. Diese Stille verhieß nichts Gutes in dieser düsteren Zeit. Schritte in der Dunkelheit durchbrachen den Nebel, der sich behutsam auf die Wege Wristanguls gelegt hatte. Die Luft war kalt und klar, die Sterne längst vergessener Götter und Helden, die ihre Ruhe im Nachthimmel gefunden hatten, verblassten allmählich. Gleichsam verblassten auch die Erinnerungen an diese Zeiten. Ereignisse wurden zu Erzählungen, Erzählungen wurden zu Geschichten, Geschichten wurden zu Mythen und diese gerieten allmählich in Vergessenheit, bis auch die letzten Erinnerungen in der Versenkung verschwinden würden. Es gab nur noch wenige, die diese Zeiten durchlebt hatten, doch die meisten von ihnen befanden sich schon lange nicht mehr an diesem Ort, und jene, die noch hier verweilten, verloren allmählich den Verstand. Der schwarze Himmel, der sich niemals lichtete, trug nur unbedeutend dazu bei. Das Violett des Horizonts, das früher einmal das gesamte Firmament in seiner Farbenpracht erstrahlen hatte lassen, schien dieser Tage noch fahler, bis sich auch der letzte Schimmer am Himmel in ein sattes Schwarz verwandeln würde.

Die Wege in Wristanguls Hauptstadt Gol waren menschenleer. In der Ferne waren Geräusche zu hören, die mit jedem Schritt deutlicher wurden. Der am Tag so lebendige Marktplatz schien nun wie ausgestorben. Es war niemand zu sehen, und doch herrschte eine gewisse Unruhe. Das Treiben des Tages trug bei Nacht eine friedlose Wirkung mit sich. Scherben übersäten das Pflaster und vereinzelte Äpfel faulten vor sich hin. Elouzijas bare Füße verfehlten sie nur um Haaresbreite. Die Flammen der Straßenlaternen erleuchteten ihr junges Gesicht und spendeten Licht, um ihre Schatten der Dunkelheit anzuvertrauen. In weiter Ferne ertönten Schreie uszmitischer Herkunft. Wristanguls Lande hatten bei Weitem schon bessere Zeiten gesehen, doch diese lagen mehrere hundert Jahre zurück. Die Zeiten, als König Ebrahim noch thronte und Wristangul sein kulturelles Hoch erlebte. Die Mauern waren schon seit Jahrhunderten niedergerissen und Fremde fanden hier ihr Zuhause. Gesandte aus dem Osten und aus dem Norden waren gekommen, um ihren Beitrag zu Wristanguls Geistesleben zu leisten, Obligaten kamen mit ihren Heilkünsten, Pargatmäen mit ihren Dichtkünsten und Vaagtonhs Männer kamen mit ihren Kriegskünsten. All diese Zuwanderer machten Wristangul zu dem Land, das für seine Kultur und Gastfreundschaft bekannt war. Doch neben den gebildeten Zuzüglern aus dem Norden und den weisen Obligaten aus dem Osten, kamen ebenso die Uszmiten aus dem Westen in das Land der purpurnen Wiesen, ein barbarisches Volk, das sich darauf verstand zu plündern, zu morden und sich zu vermehren. Die Uszmiten nahmen sich, was ihnen beliebte, die Ernte der Bauern, die Güter des Adels und die Frauen der Männer. Sie entehrten die Jungfrauen, schändeten Wristanguls Kinder und beschämten deren Väter. Ihre Frauen waren fruchtbar und gebaren bis zu drei Mal jährlich. Mit jedem Uszmiten, der das Licht der Welt erblickte, starb Wristangul ein kleines Stück, doch das Volk verschloss davor resigniert seine Augen. Das Land befand sich im Wandel. Der König war längst verblichen und es gab keinen Nachkommen, der an seiner statt regierte.

Elouzija sah sich noch einmal um, bevor sie in eine kleine Seitengasse abbog und die Tore der Gaststätte Gemäuer Ebrahims passierte. Ihre beiden katzenartigen Gefährten Hag und Yvit folgten ihr leise.

»Was treibt sich so ein junges Ding des Nachts alleine in Gols Gassen herum?«

Eine tiefe Stimme durchbrach die Stille. Yvit zuckte zusammen. Elouzija würdigte den Fremden keines Blickes.

»Wohin des Weges?«

Unwirsch drängte sie sich an ihm vorbei, doch er packte sie am Arm.

»Antwortet, Weib, wenn ich das Wort an Euch richte!«, entkam es seiner trockenen Kehle.

Sein Blick war starr, die Jahre hatten ihre Zeichen in seine rissige, graue Haut gebrannt und sein Atem roch faulig. Elouzija rümpfte die Nase und trat angewidert zurück.

»Ich spreche nicht mit Wächtern Troijas«, fauchte Elouzija unwirsch, riss sich los und wandte sich von ihm ab.

Wieder packte er sie und zerrte ihr dabei unsanft den Umhang von den Schultern.

»Wo wollt Ihr denn hin, Mädchen, ich bin noch nicht mit Euch fertig.«

Ein süffisantes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Gewaltsam riss er sie dichter an sich, doch Elouzija zeigte keine Furcht. Ein Wächter Troijas des Treulosen, wie er in ihren Kreisen genannt wurde, vermochte ihr keine Angst zu machen. Ihre Loyalität gehörte dem längst verblichenen König Ebrahim und dessen Erben Ebomir.

»Haltet ein!«

Der Wächter Troijas wirbelte herum und starrte geradewegs in das Gesicht eines Vaagtonhischen Kriegers, der mit gewandtem Schwung von seinem Ross sprang und seine Klinge zückte.

»Ihr wagt es, Euer Schwert gegen einen Wächter Troijas zu richten?«, reagierte der Wächter erzürnt.

Ruckartig ließ er Elouzija los und wandte seinen Körper dem Krieger zu. Unsanft fiel sie zu Boden. Der groß gewachsene Vaagtonh hielt ihr, ohne den Blick vom Wächter abzuwenden, seine Hand entgegen. Widerwillig ergriff sie sie.

»Ihr wärt nicht der Erste, den meine Klinge durchbohrte«, antwortete der Vaag heroisch, während er Elouzija aufhalf.

Die Augen des Wächters blitzten aggressiv. Einen Moment lang hielt er inne, griff nach seinem Schwert, ließ es jedoch wieder los, bevor er es noch aus der Scheide ziehen konnte. Einen weiteren Moment zögerte er noch, bis er sich abwandte und auf dem Absatz kehrt machte. Knurrend verschwand er in der Dunkelheit.

»Feiges Pack!«, zischte Elouzija antipathisch, als sie sich ihren Umhang um die Schulter warf und ihren Weg fortsetzte.

»Wo wollt Ihr hin?«, rief der Vaag ihr nach.

Sie jedoch schwieg und ging weiter.

»Jede andere Maid fiele mir nun um den Hals. Habt Ihr keinen Anstand?«

Elouzija drehte sich im Gehen um, lächelte ihm zu und verschwand in der Vorhalle der Gaststätte.

Sechsundvierzig Stufen stieg sie hinab. Die Laute drangen immer deutlicher an ihr Ohr. Der Vaag war ihr gefolgt. Gemeinsam betraten sie den Raum. Ihre Wege trennten sich jedoch, als sie sich im Inneren der Gaststätte befanden. Warme Luft strömte ihr ins Gesicht. Es war laut. Dichter, Maler, große Zauberer, Krieger und jene, die es noch werden wollten, saßen an Tischen beisammen. Bier floss in Massen, Parolen wurden geschwungen, Erzählungen und Mythen fanden den Weg in das Gehör Wristanguls Männer. Scharlatane speisten neben Zauberern, eine Hure, deren Tage längst gezählt waren, deren Schönheit von den Jahren davongetragen war, räkelte sich vor den Augen betrunkener Krieger auf dem Tisch, in der Hoffnung, die Nacht in einer respektableren Unterkunft verbringen zu können. Eine Laute erklang und Spielmänner stimmten patriotische Hymnen an.

Elouzija nahm ihren Platz am Rande des Geschehens, in einem dunklen Winkel ein und verfolgte stumm das Treiben. Der Schankherr trat an sie heran, brummte etwas, verschwand und kam mit einem Krug Bier zurück. Wortlos überreichte sie ihm drei Silberstücke. Nickend verschwand er wieder. Elouzija ließ ihren Blick schweifen, in der Hoffnung, den Obligator Garduél in der Menge zu erspähen. Behutsam und bereit, sich kraulen zu lassen, räkelte sich Hag vor ihr auf dem Tisch. Mit phlegmatischen Bewegungen strich sie ihm über sein weißes Fell. Jedes Mal, wenn sie an seinem Kopf ankam, stieß er genussvoll gegen ihre Hand. Schnurrend wälzte er sich von einer Seite zur anderen. Angespannt sah sie in die Menge. Sie konnte den starren Blick des Vaags fühlen, doch wagte sie es nicht, hinüberzusehen. Eine gewiss drei Meter hohe Gestalt erhob sich und schritt rasch auf Elouzija zu. Gebannt, jedoch ohne eine Miene zu verziehen, sah sie ihn an. Sorgsam legte er seine Kapuze ab und gab seine Identität preis.

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