
Die Sonne verschwand gerade hinter den Gräbern der Totenstadt, als ich
mich aus meinem Versteck schlich. Heute würde ich alles auf eine Karte setzen.
So leise wie möglich schlich ich an der hohen Mauer entlang.
Durch meine Beobachtungen kannte ich den kleinen
Geheimgang, den die privilegierten Schüler hinter einer Rankpflanze versteckt
hielten. Oft genug hatte ich gesehen, wie sie sich davonschlichen, um die
Mädchen des benachbarten Dorfes mit ihren gesäuselten Lügen um den Verstand zu
bringen. Es graute mir, als ich daran dachte, dass aus diesen gewissenlosen
Menschen einmal die Führungselite unseres ägyptischen Reiches werden sollte.
Sie würden sich nicht um das Los der Dschinda scheren. Im Gegenteil. Diese Männer
hatten Freude daran, die Schwächeren zu schikanieren. Deshalb hatte ich auch
nicht sie für mein Vorhaben erwählt.
Der Vorhang aus trockenen Blättern raschelte leise, als ich ihn zur
Seite schob und in den Tempelgarten schlüpfte. Der abnehmende Mond warf nur
wenig Licht auf die ordentlich angelegten Beete. Ausschließlich das Weiß der
Wege zog sich wie ein filigranes Labyrinth durch die Dunkelheit, ganz so, als
würden die Götter mir den Weg weisen.
Mein Herz klopfte laut und der Puls raste in meinen Ohren. Nicht
auszumalen, wenn mich jemand erwischen würde.
Vorsichtig lugte ich hinter einen Torbogen, der ins Innere des Tempels
führte. Ich traute meinen Augen kaum. Der Anblick war atemberaubend. Hunderte
Kerzen flackerten dort, einige ganz neu, andere fast bis zur Gänze
heruntergebrannt. Sie säumten einen runden Saal, an dessen Stirnseite eine drei
Mann hohe Statue des Totengottes Osiris wohlwollend in den Raum herabsah.
Während der Körper des Gottes aus einem Stück riesigen Basaltgesteins
geschlagen war, leuchtete sein Gesicht in Jadegrün. Eine Krone aus weißem
Marmor, verziert mit goldenem Schmuck, bedeckte sein Haupt. In den schlanken
Händen hielt er ein goldenes Was-Zepter, einen langen Stab mit dem Kopf einer
Antilope, und den Krummstab mit Geißel. Erhaben. Das war das Wort, was mir bei
seinem Anblick als Erstes in den Sinn kam.
Auch zu Füßen der Statue leuchteten die Kerzen, deren flackernde Lichter
tanzende Schatten auf das Gesicht des Gottes warfen. Sie ließen ihn in der
einen Sekunde lächeln und in der nächsten fast wütend dreinblicken. Beinahe
konnte ich glauben, Osiris würde jeden Augenblick zum Leben erwachen.
Vor dem Abbild lag Kadir ausgebreitet auf dem Bauch. Arme und Beine
hielt er so weit wie möglich von sich gestreckt. Seine Augen waren geschlossen
und der Rücken bewegte sich in gleichmäßigen Atemzügen auf und ab. War er etwa
eingeschlafen? Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um nicht zu lachen. Das
hier war das erste Zeichen von Widerstand, das ich an ihm sah, wenn auch ein
unfreiwilliges.
Auf Zehenspitzen schlich ich neben ihn. Noch einmal fragte ich mich, ob
ich ihm wirklich vertrauen sollte, ob ich das Leben oder auch das Sterben
meines Volkes in die Hände dieses jungen Mannes legen wollte. Aber ich hatte
keine andere Wahl. Also atmete ich tief durch und kniete mich neben ihn auf den
kühlen Marmor nieder. Schnell schickte ich noch ein Stoßgebet zu Osiris und es
schien mir, als würde der Gott mir aufmunternd zunicken.
Egal! Jetzt oder nie. Ich pikte meinen Finger in die Rippen des jungen
Mannes. Er nuschelte etwas im Schlaf und drehte den Kopf zur anderen Seite. Ich
lächelte. Noch nie hatte ich ihn so friedlich gesehen. Gern hätte ich ihm die
Ruhe gegönnt, aber mir rannte die Zeit davon.
Vorsichtig legte ich meine Hand auf seine Schulter und rüttelte ihn
leicht. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Wie von der Tarantel gestochen,
sprang er auf die Knie.
»Ich hab nicht … Es sah nur so aus, als ob ich …«, stammelte er und
schaute sich panisch um. Erst als sein Blick auf mir hängen blieb, wurde aus
Panik Verwirrung. Er zog die Stirn kraus.
»Wer bist du und was machst du hier?«
»Nett, dass du fragst. Mein Name ist Samira und ich bin hier, weil ich
deine Hilfe brauche.«
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