
Clelia war
bereits im Kleinkindalter ein Mädchen gewesen, welches in seiner mitfühlenden
Art häufiger über die Gefühle anderer weinte als über die eigenen. War jemand
wütend, so verkroch sie sich in der hintersten Ecke der Wohnstube, oder lief
fort, um Hilfe zu holen. Später, als sie weiter heranwuchs, griff sie in
Streitigkeiten ein und schlichtete diese. Weinte irgendwer, so weinte sie still
mit, während sie Trost spendete. Verhielt sich eine Spielkameradin ängstlich,
nahm Clelia zitternd die Hand der anderen und sprach ihr Mut zu. Oft geschah
dies, noch bevor die Eltern des Kindes mitbekamen, was es bewegte. Als Clelia
acht Jahre alt war, bemerkte sie, dass sie nicht nur anders war als
Gleichaltrige. Ihre Art, sich in Mitmenschen einzufühlen, unterschied sich so
grundlegend von der anderer Personen, dass ihre (für sie) so
selbstverständliche Fähigkeit der Erwachsenenwelt womöglich unbegreiflich war.
Es geschah eines
frühen Nachmittags Mitte Juni: Clelia befand sich auf dem Heimweg, der sich
durch das opulente Aquarell der norditalienischen Landschaft zog. Rechts von
ihr thronten die Dolomiten am Himmel. Ein verwaschenes Blau in der Ferne, das
in der Sommerluft flirrte. Clelias Hand glitt an ihrer Stirn entlang, um die
feinen Schweißperlen fortzuwischen, die sie kitzelten. Die verdorrten Gräser am
Rande des Weges hatten längst aufgegeben, auf Regen zu hoffen. Knorrige
Olivenbäume reckten ihre Äste wie betende Hände in den Himmel. Hie und da
durchbrach der Triller eines einsamen Vogels die sommerliche Stille, bevor er
von der vibrierenden Dissonanz der Zikaden verschluckt wurde.
Fast eine Stunde
benötigte sie für die Strecke zwischen Schule und Heimatdorf. Meist dauerte der
Rückweg deutlich länger, denn sie verweilte gerne zwischendurch, um Tiere zu
beobachten und ihren Gedanken nachzuhängen. Eilen wollte sie sich nicht. Daheim
wartete Arbeit auf sie und ein meist mürrischer, bisweilen übellauniger Vater,
der nicht selten seinen Trübsinn über die monetäre Situation der Familie in
Wein und Grappa ertränkte. Die Mutter kam oft erst abends nach Hause, wenn sie
ihr gramgebeugtes Tagewerk auf dem Feld oder in der Scheune bei den Ziegen und
Hühnern beendet hatte, oder zuweilen kleine Aufträge als Näherin erledigt
hatte. Manchmal kehrte sie zeitiger zurück, wenn die Kinder ihr ausreichend
Arbeit abgenommen hatten.
Oft lieft Clelia
den Heimweg gemeinsam mit ihren sechs Brüdern. An Tagen wie dem heutigen waren
sie jedoch früher aufgebrochen. Bisweilen erwischten sie einen Eselskarren, auf
dem sie mitfahren durften. Auf ihre Schwester zu warten, war nicht nötig. Clelia
hatte nacharbeiten müssen, was recht häufig geschah, denn sie war mit ihren
Gedanken oft nicht bei der Sache und verpasste Arbeitsanweisungen ihrer
Lehrerin. Glücklicherweise gab es keine Züchtigung. Die Signora war
nachsichtig, bestand aber darauf, das Kind erst zu entlassen, wenn alle
Aufgaben erfüllt wären.
Als Clelia nun
auf dem Rückweg über den ausgetretenen Talweg lief, lauschte sie gerade dem
Geräusch der granulierenden Steinchen unter ihren nackten Füßen, als eine junge
Frau aus dem Dorf ihren Weg kreuzte. Clelia kannte sie flüchtig. Sie lebte
gemeinsam mit ihrem Mann auf einem schmucklosen Hof, etwa fünf Straßen hinter
der Ponte dell’Amore, auf der anderen Seite des Nastro. Zuweilen waren sie sich
begegnet, wenn sie bei der Mutter ein Stück Käse oder etwas Ziegenmilch gekauft
hatte. Sie hatte unscheinbar gewirkt, hatte sich bewegt, als wollte sie sich im
Hintergrund halten. Ein flüchtiger Schatten, der Angst hatte, gesehen zu
werden. Sie hatte stets das Nötigste gesprochen. Ein kurzer Gruß, eine knappe
Abwicklung des spärlichen Geschäftes. Ein Nicken ihres Kopfes hatte Zustimmung
verraten, ihre Lippen waren oft stumm geblieben, als ob sie ihre Gedanken
hinter einem unsichtbaren Vorhang verbarg. Kleine Gesten der Dankbarkeit hatten
ihr gereicht. Zum Abschied hatte sie einen schönen Tag und Gottes Segen gewünscht.
Alsbaldig war sie wieder ihrer Wege gegangen.
Die Frau war
schlank, hochgewachsen, hatte schulterlanges, schwarzes Haar und trug ein
ebenso unauffälliges wie zweckdienliches Kleid mit Schürze, dessen Farben das
Leben im Laufe der Jahre herausgewaschen hatte. Auf die meisten Menschen hätte
sie einen völlig gewöhnlichen Eindruck gemacht, ja vielleicht wäre sie in ihrer
bescheidenen Kärglichkeit sogar übersehen worden, selbst als sie einen
freundlichen Gruß vernehmen ließ. Clelia aber spürte, dass von
ihr etwas ausging, was sich in ihrem eigenen Leib als leichter Gänsehautschauer
bemerkbar machte, knapp unter der Epidermis ihrer Unterarme. Es fühlte sich
elektrisierend an und beunruhigte sie. Wie ein zudringliches Kribbeln, welches
gleich den phrenetisch wimmelnden Tentakeln eines gallertartigen Sepias rasch
in weitere Areale ihres Körpers vordrang. Unrast erfasste das Mädchen und ließ
es erschaudern.
Als sich ihre
Blicke trafen, stieg die namenlose Regung in Clelias Innerem übersättigend an.
Sie trat an die Frau heran und blickte ihr ins Antlitz. Der Ausdruck ihrer
Augen verstärkte das Gefühl, welches nun als Woge grünlicher Übelkeit in
Clelias Brust und in ihren Kopf strömte.
„Möchtest
du eine Aprikose haben?“, fragte die Frau und lächelte freundlich.
Clelia zögerte.
Ihr Blick fixierte weiterhin die Augen der Fremden. Sie hatte das Gefühl,
beinahe greifen zu können, was die Quelle dieser abstoßenden
Empfindungen war.
„Trau dich
ruhig“, ermutigte sie die Signora mit leiser Stimme. „Du darfst unbesorgt etwas
von mir annehmen. Wir hatten eine reiche Ernte und ich gebe dir gerne etwas
ab.“
„Danke“,
erwiderte Clelia und nahm die rosig schimmernde Frucht entgegen. Als sich ihre
Finger berührten, verkrampfte sich Clelias Magen. Schlingernde Gänsehautströme
fuhren ihre Wirbelsäule hinab.
Wieder blickte
sie in das Gesicht der Frau und augenblicklich setzten sich ihre Beobachtungen
und die Gefühle, die ihr Instinkt ihr verrieten, wie ein Puzzle zu einer
folgenschweren Erkenntnis zusammen. „Geht es dir nicht gut? Brauchst du Hilfe
für dein Baby?“, fragte sie.
Die Fremde sah
sie an, als stünde sie einem Geist gegenüber. Ihre Augen weiteten sich. Die
Farbe wich aus ihrem Gesicht. Mit so viel plötzlichem Schrecken war Clelia nie
zuvor angeschaut worden. Sie selbst zuckte unwillkürlich zusammen.
„Wieso sagst du
so etwas? Woher weißt du von dem Baby?“
„Ich kann es dir
ansehen“, antwortete Clelia wahrheitsgemäß.
„Woher weißt du,
dass ich Hilfe brauche?“ Die Brauen der Signora zogen sich zusammen und
drängten aufwärts, als wollten sie dem Moment entfliehen. Clelia fühlte, dass
sie sich vor ihr fürchtete.
„Ich kann es
spüren“, setzte sie an.
Im Gesicht der
Frau schien eine Fehde zwischen beherrschtem Habitus und haltloser Verzweiflung
zu entbrennen. Dann fiel die Geplagte vor Clelia auf die Knie und umklammerte
ihre Hüfte, legte den Kopf an ihren Bauch und weinte: „Du liebes Kind! Woher
hast du diese Gabe? Spricht Gott zu dir?“
Jetzt war es
Clelia, die erschrak. Sie fuhr herum, warf den Kopf nach allen Seiten. Ihre
Blicke suchten in der Landschaft nach Halt, vielleicht in der Hoffnung, Hilfe
zu finden, wie immer diese hätte aussehen können. Sie wünschte sich, die Frau
möge von ihr ablassen. Der Strom der fremden Gefühle überrollte sie mit aller
Macht: Angst, Unsicherheit, Verzweiflung, Einsamkeit. Die Intensität raubte ihr
fast den Atem.
„Mein Ehemann
schlägt mich. Es stimmt: Ich bin schwanger. Ich habe Angst um mein Kind … Ich
bete jeden Tag zu Gott, er möge mir einen Ausweg zeigen. Wenn er zu dir
spricht, sagt mir bitte, was ich tun soll!“
Clelia suchte in
den entlegensten Winkeln ihres Geistes nach einer Idee, wie sie der Situation
entfliehen könnte. Kaum möglich war es, sich dem Schwindel des Mitgefühls für
diese Fremde nicht zu ergeben. Doch gleichzeitig hatte sie die Empfindung, an
den Erwartungen der Frau zu ersticken. Woher sollte sie wissen, was zu tun war?
Sie war acht Jahre alt und wusste nicht viel vom Leben. Der Allmächtige, so es
ihn überhaupt gab, hatte niemals zu ihr gesprochen. Und sollte es ihn geben,
was Clelia bezweifelte, so würde er ihr gegenüber stumm bleiben, dessen war sie
sicher, denn sie hatte bisher kaum zu ihm gebetet. Diese Frau aber schien in
ihr eine Art Botin Gottes zu sehen, suchte einen Ausweg in ihrem Glauben.
Vielleicht war dies aus ihrer Sicht die einzig nachvollziehbare Erklärung,
weshalb Clelia ihre Situation erfasst hatte. Dabei war es offensichtlich: Die
leichte Blässe im Gesicht bei der sonst so sonnengegerbten Haut, die dezente
Unsicherheit in jedem Schritt, die hauchzarte Art, wie sie sich bewegte …
Clelia hatte oft
Frauen beobachtet, die ein neues Leben in sich trugen. Wenn die Frucht jung
war, war der Unterleib zwar flach, die Körperhaltung aber änderte sich gleich
einer nebulösen Verheißung über dem verschwiegenen Korpus. Die Mimik wandelte
sich fast unmerklich zu einem Schimmer, dessen Fragilität Clelia mühelos
erkannte.
Die Fremde
vergrub ihr Gesicht weiter schluchzend in Clelias Schoß. Indes erwuchs in
dieser ein Gedanke. Sie erinnerte sich an einen Moment, in dem sie ihren Vater
– es mochte Jahre her sein – überraschend hilfsbereit und engagiert erlebt
hatte. Nüchtern. Selbstbewusst. Stark. Er hatte einem Nachbarn zu seinem Recht
verholfen, ein Stück Land zu behalten, das ein anderer ihm abnötigen wollte.
Der Nachbar hatte dem Druck kaum mehr standgehalten, das hatte Clelia
seinerzeit gespürt. Obgleich sie damals zu jung gewesen war, die Einzelheiten
zu begreifen oder die diffizilen Zusammenhänge zu erfassen. Aber sie erinnerte
sich umso deutlicher an die unvertraute Anteilnahme und das Engagement, die
sich in ihrem Vater entfaltet hatten – und was sie bewirkt hatten.
„Ich weiß, was zu
tun ist“, sprach sie. „Komm mit. Ich hole Hilfe.“
Die Fremde war
Clelia an jenem Tag nach Hause gefolgt, hatte die Hand des Mädchens umfasst
gehalten, bis sie in der Wohnstube des alten Hofes gesessen hatte. Bis der
Vater gekommen und eindringlich mit ihr gesprochen hatte. Clelia hatte an
diesem Tag recht behalten: Ihr Padre hatte sich ähnlich ausgewechselt gezeigt
wie damals, als es um das Land des Nachbarn gegangen war. Wenn er auch ein
maliziöser Säufer war, ein Choleriker, selbst nicht frei von unkontrollierbarer
Aggression und unredlichem Handeln: Ging es um andere, besaß er feine
moralische Antennen und ein tugendhaftes Auftreten. Womöglich war auch in
seinem Fall die durchdringende Gottesfürchtigkeit der Grund dafür, dass er sich
so beflissen zeigte, die bedürftige Fremde aus der Gewalt des eigenen Ehemannes
zu erretten. Letztlich verhalf er ihr zur Flucht, weit fort. Clelia wusste
nicht, wohin er sie schickte, aber sie sah das dankbare Leuchten in den Augen
der Signora, das Funkeln, das, befreit vom Dunkel der Furcht, an Intensität
gewann. Sie wusste, dass es ihr gut gehen würde.
In jener Nacht
lang Clelia lange wach und fragte sich, weshalb die Frau sie so fest umklammert
hatte und warum das für sie so Offensichtliche für andere so unersichtlich
war.
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