Freitag, 8. August 2025

[Schnipseltime] Die Menschenfängerin von Nina Pilckmann

 

Clelia war bereits im Kleinkindalter ein Mädchen gewesen, welches in seiner mitfühlenden Art häufiger über die Gefühle anderer weinte als über die eigenen. War jemand wütend, so verkroch sie sich in der hintersten Ecke der Wohnstube, oder lief fort, um Hilfe zu holen. Später, als sie weiter heranwuchs, griff sie in Streitigkeiten ein und schlichtete diese. Weinte irgendwer, so weinte sie still mit, während sie Trost spendete. Verhielt sich eine Spielkameradin ängstlich, nahm Clelia zitternd die Hand der anderen und sprach ihr Mut zu. Oft geschah dies, noch bevor die Eltern des Kindes mitbekamen, was es bewegte. Als Clelia acht Jahre alt war, bemerkte sie, dass sie nicht nur anders war als Gleichaltrige. Ihre Art, sich in Mitmenschen einzufühlen, unterschied sich so grundlegend von der anderer Personen, dass ihre (für sie) so selbstverständliche Fähigkeit der Erwachsenenwelt womöglich unbegreiflich war.

 

Es geschah eines frühen Nachmittags Mitte Juni: Clelia befand sich auf dem Heimweg, der sich durch das opulente Aquarell der norditalienischen Landschaft zog. Rechts von ihr thronten die Dolomiten am Himmel. Ein verwaschenes Blau in der Ferne, das in der Sommerluft flirrte. Clelias Hand glitt an ihrer Stirn entlang, um die feinen Schweißperlen fortzuwischen, die sie kitzelten. Die verdorrten Gräser am Rande des Weges hatten längst aufgegeben, auf Regen zu hoffen. Knorrige Olivenbäume reckten ihre Äste wie betende Hände in den Himmel. Hie und da durchbrach der Triller eines einsamen Vogels die sommerliche Stille, bevor er von der vibrierenden Dissonanz der Zikaden verschluckt wurde.

Fast eine Stunde benötigte sie für die Strecke zwischen Schule und Heimatdorf. Meist dauerte der Rückweg deutlich länger, denn sie verweilte gerne zwischendurch, um Tiere zu beobachten und ihren Gedanken nachzuhängen. Eilen wollte sie sich nicht. Daheim wartete Arbeit auf sie und ein meist mürrischer, bisweilen übellauniger Vater, der nicht selten seinen Trübsinn über die monetäre Situation der Familie in Wein und Grappa ertränkte. Die Mutter kam oft erst abends nach Hause, wenn sie ihr gramgebeugtes Tagewerk auf dem Feld oder in der Scheune bei den Ziegen und Hühnern beendet hatte, oder zuweilen kleine Aufträge als Näherin erledigt hatte. Manchmal kehrte sie zeitiger zurück, wenn die Kinder ihr ausreichend Arbeit abgenommen hatten.

Oft lieft Clelia den Heimweg gemeinsam mit ihren sechs Brüdern. An Tagen wie dem heutigen waren sie jedoch früher aufgebrochen. Bisweilen erwischten sie einen Eselskarren, auf dem sie mitfahren durften. Auf ihre Schwester zu warten, war nicht nötig. Clelia hatte nacharbeiten müssen, was recht häufig geschah, denn sie war mit ihren Gedanken oft nicht bei der Sache und verpasste Arbeitsanweisungen ihrer Lehrerin. Glücklicherweise gab es keine Züchtigung. Die Signora war nachsichtig, bestand aber darauf, das Kind erst zu entlassen, wenn alle Aufgaben erfüllt wären.  

 

Als Clelia nun auf dem Rückweg über den ausgetretenen Talweg lief, lauschte sie gerade dem Geräusch der granulierenden Steinchen unter ihren nackten Füßen, als eine junge Frau aus dem Dorf ihren Weg kreuzte. Clelia kannte sie flüchtig. Sie lebte gemeinsam mit ihrem Mann auf einem schmucklosen Hof, etwa fünf Straßen hinter der Ponte dell’Amore, auf der anderen Seite des Nastro. Zuweilen waren sie sich begegnet, wenn sie bei der Mutter ein Stück Käse oder etwas Ziegenmilch gekauft hatte. Sie hatte unscheinbar gewirkt, hatte sich bewegt, als wollte sie sich im Hintergrund halten. Ein flüchtiger Schatten, der Angst hatte, gesehen zu werden. Sie hatte stets das Nötigste gesprochen. Ein kurzer Gruß, eine knappe Abwicklung des spärlichen Geschäftes. Ein Nicken ihres Kopfes hatte Zustimmung verraten, ihre Lippen waren oft stumm geblieben, als ob sie ihre Gedanken hinter einem unsichtbaren Vorhang verbarg. Kleine Gesten der Dankbarkeit hatten ihr gereicht. Zum Abschied hatte sie einen schönen Tag und Gottes Segen gewünscht. Alsbaldig war sie wieder ihrer Wege gegangen.

Die Frau war schlank, hochgewachsen, hatte schulterlanges, schwarzes Haar und trug ein ebenso unauffälliges wie zweckdienliches Kleid mit Schürze, dessen Farben das Leben im Laufe der Jahre herausgewaschen hatte. Auf die meisten Menschen hätte sie einen völlig gewöhnlichen Eindruck gemacht, ja vielleicht wäre sie in ihrer bescheidenen Kärglichkeit sogar übersehen worden, selbst als sie einen freundlichen Gruß vernehmen ließ. Clelia aber spürte, dass von ihr etwas ausging, was sich in ihrem eigenen Leib als leichter Gänsehautschauer bemerkbar machte, knapp unter der Epidermis ihrer Unterarme. Es fühlte sich elektrisierend an und beunruhigte sie. Wie ein zudringliches Kribbeln, welches gleich den phrenetisch wimmelnden Tentakeln eines gallertartigen Sepias rasch in weitere Areale ihres Körpers vordrang. Unrast erfasste das Mädchen und ließ es erschaudern.

Als sich ihre Blicke trafen, stieg die namenlose Regung in Clelias Innerem übersättigend an. Sie trat an die Frau heran und blickte ihr ins Antlitz. Der Ausdruck ihrer Augen verstärkte das Gefühl, welches nun als Woge grünlicher Übelkeit in Clelias Brust und in ihren Kopf strömte.

 „Möchtest du eine Aprikose haben?“, fragte die Frau und lächelte freundlich.

Clelia zögerte. Ihr Blick fixierte weiterhin die Augen der Fremden. Sie hatte das Gefühl, beinahe greifen zu können, was die Quelle dieser abstoßenden Empfindungen war. 

„Trau dich ruhig“, ermutigte sie die Signora mit leiser Stimme. „Du darfst unbesorgt etwas von mir annehmen. Wir hatten eine reiche Ernte und ich gebe dir gerne etwas ab.“

„Danke“, erwiderte Clelia und nahm die rosig schimmernde Frucht entgegen. Als sich ihre Finger berührten, verkrampfte sich Clelias Magen. Schlingernde Gänsehautströme fuhren ihre Wirbelsäule hinab.

Wieder blickte sie in das Gesicht der Frau und augenblicklich setzten sich ihre Beobachtungen und die Gefühle, die ihr Instinkt ihr verrieten, wie ein Puzzle zu einer folgenschweren Erkenntnis zusammen. „Geht es dir nicht gut? Brauchst du Hilfe für dein Baby?“, fragte sie. 

Die Fremde sah sie an, als stünde sie einem Geist gegenüber. Ihre Augen weiteten sich. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. Mit so viel plötzlichem Schrecken war Clelia nie zuvor angeschaut worden. Sie selbst zuckte unwillkürlich zusammen.

„Wieso sagst du so etwas? Woher weißt du von dem Baby?“

„Ich kann es dir ansehen“, antwortete Clelia wahrheitsgemäß.

„Woher weißt du, dass ich Hilfe brauche?“ Die Brauen der Signora zogen sich zusammen und drängten aufwärts, als wollten sie dem Moment entfliehen. Clelia fühlte, dass sie sich vor ihr fürchtete. 

„Ich kann es spüren“, setzte sie an.

Im Gesicht der Frau schien eine Fehde zwischen beherrschtem Habitus und haltloser Verzweiflung zu entbrennen. Dann fiel die Geplagte vor Clelia auf die Knie und umklammerte ihre Hüfte, legte den Kopf an ihren Bauch und weinte: „Du liebes Kind! Woher hast du diese Gabe? Spricht Gott zu dir?“

Jetzt war es Clelia, die erschrak. Sie fuhr herum, warf den Kopf nach allen Seiten. Ihre Blicke suchten in der Landschaft nach Halt, vielleicht in der Hoffnung, Hilfe zu finden, wie immer diese hätte aussehen können. Sie wünschte sich, die Frau möge von ihr ablassen. Der Strom der fremden Gefühle überrollte sie mit aller Macht: Angst, Unsicherheit, Verzweiflung, Einsamkeit. Die Intensität raubte ihr fast den Atem.

„Mein Ehemann schlägt mich. Es stimmt: Ich bin schwanger. Ich habe Angst um mein Kind … Ich bete jeden Tag zu Gott, er möge mir einen Ausweg zeigen. Wenn er zu dir spricht, sagt mir bitte, was ich tun soll!“

Clelia suchte in den entlegensten Winkeln ihres Geistes nach einer Idee, wie sie der Situation entfliehen könnte. Kaum möglich war es, sich dem Schwindel des Mitgefühls für diese Fremde nicht zu ergeben. Doch gleichzeitig hatte sie die Empfindung, an den Erwartungen der Frau zu ersticken. Woher sollte sie wissen, was zu tun war? Sie war acht Jahre alt und wusste nicht viel vom Leben. Der Allmächtige, so es ihn überhaupt gab, hatte niemals zu ihr gesprochen. Und sollte es ihn geben, was Clelia bezweifelte, so würde er ihr gegenüber stumm bleiben, dessen war sie sicher, denn sie hatte bisher kaum zu ihm gebetet. Diese Frau aber schien in ihr eine Art Botin Gottes zu sehen, suchte einen Ausweg in ihrem Glauben. Vielleicht war dies aus ihrer Sicht die einzig nachvollziehbare Erklärung, weshalb Clelia ihre Situation erfasst hatte. Dabei war es offensichtlich: Die leichte Blässe im Gesicht bei der sonst so sonnengegerbten Haut, die dezente Unsicherheit in jedem Schritt, die hauchzarte Art, wie sie sich bewegte …

Clelia hatte oft Frauen beobachtet, die ein neues Leben in sich trugen. Wenn die Frucht jung war, war der Unterleib zwar flach, die Körperhaltung aber änderte sich gleich einer nebulösen Verheißung über dem verschwiegenen Korpus. Die Mimik wandelte sich fast unmerklich zu einem Schimmer, dessen Fragilität Clelia mühelos erkannte. 

Die Fremde vergrub ihr Gesicht weiter schluchzend in Clelias Schoß. Indes erwuchs in dieser ein Gedanke. Sie erinnerte sich an einen Moment, in dem sie ihren Vater – es mochte Jahre her sein – überraschend hilfsbereit und engagiert erlebt hatte. Nüchtern. Selbstbewusst. Stark. Er hatte einem Nachbarn zu seinem Recht verholfen, ein Stück Land zu behalten, das ein anderer ihm abnötigen wollte. Der Nachbar hatte dem Druck kaum mehr standgehalten, das hatte Clelia seinerzeit gespürt. Obgleich sie damals zu jung gewesen war, die Einzelheiten zu begreifen oder die diffizilen Zusammenhänge zu erfassen. Aber sie erinnerte sich umso deutlicher an die unvertraute Anteilnahme und das Engagement, die sich in ihrem Vater entfaltet hatten – und was sie bewirkt hatten. 

„Ich weiß, was zu tun ist“, sprach sie. „Komm mit. Ich hole Hilfe.“

Die Fremde war Clelia an jenem Tag nach Hause gefolgt, hatte die Hand des Mädchens umfasst gehalten, bis sie in der Wohnstube des alten Hofes gesessen hatte. Bis der Vater gekommen und eindringlich mit ihr gesprochen hatte. Clelia hatte an diesem Tag recht behalten: Ihr Padre hatte sich ähnlich ausgewechselt gezeigt wie damals, als es um das Land des Nachbarn gegangen war. Wenn er auch ein maliziöser Säufer war, ein Choleriker, selbst nicht frei von unkontrollierbarer Aggression und unredlichem Handeln: Ging es um andere, besaß er feine moralische Antennen und ein tugendhaftes Auftreten. Womöglich war auch in seinem Fall die durchdringende Gottesfürchtigkeit der Grund dafür, dass er sich so beflissen zeigte, die bedürftige Fremde aus der Gewalt des eigenen Ehemannes zu erretten. Letztlich verhalf er ihr zur Flucht, weit fort. Clelia wusste nicht, wohin er sie schickte, aber sie sah das dankbare Leuchten in den Augen der Signora, das Funkeln, das, befreit vom Dunkel der Furcht, an Intensität gewann. Sie wusste, dass es ihr gut gehen würde.

In jener Nacht lang Clelia lange wach und fragte sich, weshalb die Frau sie so fest umklammert hatte und warum das für sie so Offensichtliche für andere so unersichtlich war. 


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