Samstag, 5. April 2025

[Schnipseltime] Ragnamar - Im Reich der Nachtschatten von Kaja Paulan


»Erkennst du deine Gemächer wieder?«, fragte Denna.

Ich nickte. Wie so oft, seit ich Ragnamar verloren und wiedergefunden hatte, kamen die Erinnerungen schubweise, wurden ausgelöst durch Bilder oder Geräusche. Oder durch Gerüche, so wie jetzt. Der honigsüße Duft des Himmelsschlüssels, mit dem Denna die Tür öffnete, brachte einen Schwall an Erinnerungen.

An den Kleiderschrank, in dem merkwürdige Figuren hausten, die nachts hervorkamen, um mit mir zu spielen, das Schaukelpferd, mit dem ich durch die Palastgärten geritten war. Das Tauschdich, mit dem ich meine Wünsche erfüllen und das ich gegen etwas anderes einwechseln konnte und der Spiegel, der mit mir redete, wenn ich meine Haare kämmte. Damals hatten sie noch nicht golden geschimmert, so wie jetzt, nachdem ich durch das Tor der Frau Holle geschritten war.

Ein grünes Licht flackerte über die Wände, vermischte sich mit wolkenartigen Gebilden an der Decke, den Polarlichtern des Nordens, die sich im Magicarium spiegelten, einem kleinen Zimmerbrunnen mitten im Raum. Er war umringt von den Märchenfiguren Ragnamars, gefüllt mit Anpolariswasser und schien von bodenloser Tiefe zu sein. Der schwarze Spiegel seines Wassers roch nach bitteren Mandeln. Doch wenn ich lange genug hineinblickte und höflich darum bat, klarte er auf und offenbarte mir die Geschichten Ragnamars.

Stundenlang hatte ich früher hier auf dem Brunnenrand gesessen und auf seine Wasseroberfläche geschaut wie in einen Film.

Hier hatte ich die Tauffeier der Prinzessin am Hof der Dornen verfolgt und mich fürchterlich erschrocken, als die dunkle Fee hereingekommen war, um sie zu verfluchen. Ich hatte mit Aschenputtel mitgelitten, als sie von ihrer Stiefmutter und deren Töchtern gemobbt wurde. Ich hatte inständig darum gebeten, dass Brüderchen nicht aus dem verzauberten Brunnen trinken würde. Ich hatte das Mädchen, deren Brüder zu Raben verwandelt worden waren, auf ihrem Weg um die Welt, zur Sonne, zum Mond und zu den Sternen begleitet. Doch jetzt wusste ich die Worte nicht mehr, die mir einen Blick in seine Geheimnisse ermöglichten.


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