Sonntag, 9. Februar 2025

[Schnipseltime] Arenlai - Unsterblich von Alex C. Weiss


 

Über Pan leuchtete Arin am dunklen Nachthimmel, doch sein Licht drang nicht bis zu ihrem Geist durch. Einst hatte ihr Eklantas erzählt, dass Esher selbst den hellen Stern Arin erschaffen hatte. Arenlai hatte seinen Namen von ihm, da die Welt in seinem silbernen Schimmer entstanden war. Doch nun konnte dieses wundersam sanfte Licht ihren Geist nicht erhellen. Finsternis hatte ihre Seele befallen, so tief wie sie sie nie gekannt hatte. Eine einzelne silberne Träne bahnte sich ihren Weg an ihrer Wange entlang, an ihrem Mundwinkel vorbei und über ihr Kinn. Sie löste sich nur langsam und 24 f iel dann glänzend auf den moosbewachsenen Waldboden. Sobald die Träne das Moos benetzte, veränderte es sich. Die dunkelgrünen Ästchen wurden silbern und wuchsen so schnell, dass in Windeseile eine größere verästelte Pflanze daraus entstand. Silberne Blüten formten sich an den Zweigen, starben ab und bildeten kurz darauf ebenso silbern schimmernde Beeren. Panbeachtete es nicht. In den letzten Wochen hatte sie dieses Schauspiel so oft gesehen, dass die Verwunderung längst nachgelassen hatte. Seit jenem Tag, an dem die beiden Schutzgeister Ol und Gaszra sie mit ihren silbernen Tränen vor dem Tod gerettet hatten und Pan damit unsterblich werden ließen, waren ihre eigenen Tränen ebenfalls silbern und sie weinte sie zu oft. Sie beweinte vor allem ihre Möglichkeit zu sterben. Die Unendlichkeit ihres Lebens bereitete ihr eine tiefe, quälende Angst, die sie nicht von sich schieben konnte. Der Tod war ihr immer als tröstendes Ende erschienen und als eine Erlösung. Das Leben hingegen empfand sie oft als eine Bürde. Die Schwermut trug sie schon lange mit sich. Doch bisher hatte Pan  sie wie einen alten Bekannten behandelt, der sie immer begleitete. Nun aber war die Traurigkeit zu einem Ungetüm gewachsen. Sie war ein schwarzes riesiges Monster, das in ihr wohnte und drohte sie auszulöschen. Dazu kamen die Stimmen, die sie seit ihrer Transformation ununterbrochen in sich hörte. Pan hatte es immer geliebt, vollkommen allein zu sein. Das waren die einzigen Momente, in denen sie sich nicht beurteilt, ja sogar verurteilt fühlte. Nun war sie keine Sekunde ihres Lebens mehr allein. Sie war mit den anderen Unsterblichen Arenlais auf seltsame Weise verbunden und hörte sie ständig zu sich sprechen. Allerdings verständigten sie sich in einer uralten Sprache, die Pan nicht verstehen konnte. Hin und wieder erkannte sie zwei bekannte Stimmen, die Galsars und die Gaszras, die in ihrer eigenen Sprache Kontakt aufzunehmen versuchten. Beide Schutzgeister hatte sie auf ihrer Reise durch Arenlai kennengelernt. Gaszra war eine der Gurdor, dunkel und sanft erschien sie ihr damals. Und Galsar hatte ihr mit ihren Wölfen zur Seite gestanden. Wolfsfrau wurde die Nagur auch 26 genannt. Pan hörte die beiden hin und wieder im Chaos ihres Geistes, doch sie verstand ihre Worte in dem Stimmengewirr nicht. Es waren nicht nur die Stimmen, die auf Pan eindrangen. Durch die Verbindung zu den Schutzgeistern konnte sie jetzt an all ihren Erfahrungen teilnehmen. Es war eine Flut an Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühlen und Worten, die Pan ungefiltert durchflossen. Es ließ sie fast wahnsinnig werden. In einem Moment blitzte das Bild einer dunklen Kugel auf, die jemand in der Hand hielt. Kurz darauf sah sie sich selbst sterben. Dann wieder wanderte sie scheinbar endlose Schneefelder entlang. Einen Moment später hörte sie schrille Schreie. Sie sah riesige Vögel über ein brennendes Meer fliegen. Sofort wechselte die Szene. Winzige Blüten, die im Dunkel leuchteten, erblühten in Windeseile. Auch dieses Bild zerbrach und Pan sah vier menschliche Leichen neben einem Fluss liegen. Dazu redeten ununterbrochen zahlreiche Stimmen auf sie ein. Ein Kauderwelsch, dass nicht zu verstehen war. Es fiel Pan schwer, zu unterscheiden, was Realität war und was sie durch die Verbindung zu den Unsterblichen sah. Zusätzlich hatte sie dieselbe geistige Wechselbeziehung zu der Katze, die an jenem Tag während ihrer Transformation auf sie gesprungen war und ihr Schicksal teilte. Schatten war ihr Name. Pan hatte sie einst nach dem Spitznamen Gaszras so getauft. Diese Verbindung hingegen verschaffte Pan zumindest manchmal ein wenig Ruhe. Wenn sie sich auf die Katze konzentrierte, wurden die anderen Stimmen in ihr leiser. Schatten war von wildem Gemüt, voll auf ihre eigenen Triebe ausgerichtet. Pan lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Tier, um einen Moment auszuruhen. Zusammen mit der Katze witterte sie die Moose des Waldes und die feuchten Spuren einer kleinen Maus, der Schatten nachjagte. Durch die Augen der Katze sah sie den Waldboden dahinrasen. Sie setzte zum Sprung an und landete genau auf der Beute. Die Tatzen hatten das kleine Tier erfasst und nun begann das Spiel, das Pan früher angeekelt beobachtet hatte. Jetzt, da sie die Triebe des Tieres selbst fühlte, da sie den Durst nach Blut kannte und den instinktiven Jagdtrieb, den die Bewegungen des Beutetieres hervorriefen, ekelte es Pan nicht mehr. Die Maus wurde hochgeworfen, wieder eingefangen. Die Katze biss leicht, fast spielerisch in das graue Fell des Tieres, schleuderte es dann von sich, nur um es zum wiederholten Male einzufangen. Erst als die Maus reglos am Boden lag, fanden die Zähne der Katze endlich ihr Ziel und Pan schmeckte Blut. Sie schüttelte sich und ihre Aufmerksamkeit ließ nach. Sofort wurden die Stimmenwiederlauter. Rastlos wanderte Pan durch den Wald auf der Suche nach eben jenem Trost, den er ihr in früheren Zeiten immer gespendet hatte. Doch diesmal übertrug sich die Ruhe des Ortes nicht auf sie. Sie presste die Hände auf ihre Ohren, um die Stimmen zum Schweigen zu bringen. „Hört auf!“, flüsterte sie immer wieder. „Bitte hört auf!“ Wie so oft seit jenem Tag versuchte sie sich zu entmaterialisieren und zu Gaszra zu gelangen. Ein einziges Mal war es ihr gelungen, so zu reisen, gleich nach ihrer Rettung, aber damals war es vollkommen unbewusst geschehen und Pan versuchte es seitdem vergebens. So wanderte sie zwischen den hilflosen Versuchen immer weiter, doch zu Fuß würde sie niemals nach Zurna gelangen. Wenn nur diese Stimmen nicht wären, sie konnte keinen klaren Gedankenfassen. „Panrah!“ Pan sah auf. Woher war das gekommen? Verwirrt blinzelte sie in die Dunkelheit des nächtlichen Waldes. Nur eine der Stimmen in ihr. Doch da war es wieder: „Panrah!“ Sie hörte Äste knacken, in den Bäumen näherte sich etwas. Da sah sie gelbe Augen leuchten und fiel erleichtert Eklantas um den dünnen Hals. Sofort befiel eine Flut aus Gedanken und Erinnerungen des Nachtalben Pan. Sie sah ihn gemeinsam mit Gaszra über zwei tote Artgenossen gebeugt. Das Bild wechselte. Neben ihm stand eine Nachtalbenfrau. Sie strich ihm liebevoll über die Wange. „Lass das!“, zischte Eklantas erschrocken. Pan ließ ihn abrupt los. „Entschuldige, ich weiß nicht, wie man das kontrolliert!“, wieder liefen die Tränen, fielen auf den Boden und verursachten erneut das Wachstum silberner Pflanzen.  Der dunkle Alb stützte die Hände in die Hüften. Sein langer Schwanz bewegte sich ungeduldig hin und her. Sein sehniger dünner Körper war so dunkel, dass er im nächtlichen Wald kaum zu sehen war. Nur die gelben schmalen Augen ließen ihn sichtbar werden. „Was machst du? Hör auf damit Panrah!“, rief der dunkle Alb empört. „Du verschwendest deine Kraft sinnlos!“ Sie blaffte ihn wütend an. „Meine Kraft? Sinnlos? Das sind nur ein paar Tränen! Darf ich jetzt nicht mal mehr heulen, wenn mir danach ist?“ „Du machst das schon viel zu lange Panrah! Jetzt wird es Zeit nach vorne zu sehen und etwas gegen die weiße Königin zu unternehmen. Was machst du denn hier in diesem Wald?“ Pan riss die Augen auf. „Was ich hier mache? Frag das doch am besten Gaszra! Sie hat mich verwandelt und nun hab ich keine Ahnung wie man mit diesem Körper und mit diesen angeblich so wunderbaren Fähigkeiten überhaupt umgeht! Ich komm nicht mal hier weg! Und dauernd hab ich diese Stimmen in mir und diese Bilder! Ich kann dich nicht mal umarmen. Ich will das nicht! Ich will nur Pan sein! So wie früher!“ Sie konnte die Tränen erneut nicht zurückhalten und sank hilflos auf den Boden. Aller Ärger war verraucht und zurück blieb nur die Verzweiflung und die Angst. Der Alb kniete sich vor sie hin. „Panrah, du bist doch immer noch Pan. Du musst dir nur vertrauen! Dann kannst du das alles schaffen.“ „Ich kann gar nichts schaffen! Ich will das einfach nicht! Bitte bring mich zu Gaszra! Sie muss mir helfen.“ Der Alb schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Es ist zu weit für uns beide. Du musst es selbst machen und kannst mich dann mitnehmen.“ „Ich kann es nicht!“, schrie Pan Eklantas an. Sanft berührte er mit seiner Stirn die ihre. Sofort mischten sich seine Bilder wieder mit den Stimmen. „Ich helfe dir!“, flüsterte er in ihrem Kopf. „Hör mir zu, folge einfach meiner Stimme. Konzentriere dich nur auf mich. Nur Panrah und Eklantas Genefirat!“ Ausgerechnet dieser Name riss Pan aus ihrer Lethargie. Genefirat! Er hatte immer auf  diesen zweiten Namen bestanden und sie hatte ihn nur Eklantas genannt. Ein einsames Lächeln huschte über ihr gequältes Gesicht. „So ist es gut, Panrah. Nur wir beide. Alle anderen werden leiser. Sie sind nicht von Bedeutung. Nur du und ich.“ Die Stimmen wurden ruhiger und die des Alben trat in den Vordergrund. Es war eine Erlösung für Pan. Es tat so unbeschreiblich gut, dass sie aufpassen musste, diesmal nicht vor Erleichterung zu weinen. Doch sie hielt die Tränen zurück und konzentrierte sich auf Eklantas. Er zeigte ihr die dunklen Nebel rund um Zurna. Er führte sie in die Höhlen im Gebirge und rief ihr Gaszras Gesicht in Erinnerung. „Nun musst du dich auf Gaszra konzentrieren. Suche ihre Stimme! Zwischen den anderen ist auch ihre. Wenn du sie findest, kann sie uns beide zu sich holen!“ Pan horchte auf die Sprachmelodien, die leiser im Hintergrund murmelten. Eklantas löste seine Stirn, von der ihren und die Stimmen wurden lauter. Es tobte ein Chaos in ihr, das kaum zu bewältigen war. Warum nur mussten sie alle durcheinandersprechen? Wo war Gaszra? Pan versuchte, die Bilder auszublenden und sich nur auf die Stimmen zu konzentrieren. Sie schloss die Augen und blieb völlig unbeweglich auf dem Waldboden sitzen. Eine Ewigkeit suchte sie in sich, folgte mal der einen, mal einer anderen Stimme, bis sie endlich die der Gurdor fand. Den Schatten nannten die Menschen sie, Schutzgeist der Dunkelheit. Gaszra. Sie hörte sie plötzlich deutlich. Die Gurdor suchte nach ihr. „Gaszra! Hier bin ich doch! Bitte hol mich zu dir.“, flüsterte sie in ihrem Kopf. Gerade noch konnte Eklantas ihre Hand ergreifen, um mit ihr zu reisen, da löste sich Pan auch schon auf und verschwand.

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