
Über Pan leuchtete Arin am dunklen Nachthimmel, doch sein Licht
drang nicht bis zu ihrem Geist durch. Einst hatte ihr Eklantas erzählt, dass
Esher selbst den hellen Stern Arin erschaffen hatte. Arenlai hatte seinen Namen
von ihm, da die Welt in seinem silbernen Schimmer entstanden war. Doch nun
konnte dieses wundersam sanfte Licht ihren Geist nicht erhellen. Finsternis
hatte ihre Seele befallen, so tief wie sie sie nie gekannt hatte. Eine einzelne
silberne Träne bahnte sich ihren Weg an ihrer Wange entlang, an ihrem
Mundwinkel vorbei und über ihr Kinn. Sie löste sich nur langsam und 24 f iel
dann glänzend auf den moosbewachsenen Waldboden. Sobald die Träne das Moos
benetzte, veränderte es sich. Die dunkelgrünen Ästchen wurden silbern und
wuchsen so schnell, dass in Windeseile eine größere verästelte Pflanze daraus
entstand. Silberne Blüten formten sich an den Zweigen, starben ab und bildeten
kurz darauf ebenso silbern schimmernde Beeren. Panbeachtete es nicht. In den letzten
Wochen hatte sie dieses Schauspiel so oft gesehen, dass die Verwunderung längst
nachgelassen hatte. Seit jenem Tag, an dem die beiden Schutzgeister Ol und
Gaszra sie mit ihren silbernen Tränen vor dem Tod gerettet hatten und Pan damit
unsterblich werden ließen, waren ihre eigenen Tränen ebenfalls silbern und sie
weinte sie zu oft. Sie beweinte vor allem ihre Möglichkeit zu sterben. Die
Unendlichkeit ihres Lebens bereitete ihr eine tiefe, quälende Angst, die sie
nicht von sich schieben konnte. Der Tod war ihr immer als tröstendes Ende erschienen
und als eine Erlösung. Das Leben hingegen empfand sie oft als eine Bürde. Die
Schwermut trug sie schon lange mit sich. Doch bisher hatte Pan sie wie einen alten Bekannten behandelt, der
sie immer begleitete. Nun aber war die Traurigkeit zu einem Ungetüm gewachsen.
Sie war ein schwarzes riesiges Monster, das in ihr wohnte und drohte sie
auszulöschen. Dazu kamen die Stimmen, die sie seit ihrer Transformation
ununterbrochen in sich hörte. Pan hatte es immer geliebt, vollkommen allein zu
sein. Das waren die einzigen Momente, in denen sie sich nicht beurteilt, ja
sogar verurteilt fühlte. Nun war sie keine Sekunde ihres Lebens mehr allein.
Sie war mit den anderen Unsterblichen Arenlais auf seltsame Weise verbunden und
hörte sie ständig zu sich sprechen. Allerdings verständigten sie sich in einer
uralten Sprache, die Pan nicht verstehen konnte. Hin und wieder erkannte sie
zwei bekannte Stimmen, die Galsars und die Gaszras, die in ihrer eigenen
Sprache Kontakt aufzunehmen versuchten. Beide Schutzgeister hatte sie auf ihrer
Reise durch Arenlai kennengelernt. Gaszra war eine der Gurdor, dunkel und sanft
erschien sie ihr damals. Und Galsar hatte ihr mit ihren Wölfen zur Seite
gestanden. Wolfsfrau wurde die Nagur auch 26 genannt. Pan hörte die beiden hin und
wieder im Chaos ihres Geistes, doch sie verstand ihre Worte in dem
Stimmengewirr nicht. Es waren nicht nur die Stimmen, die auf Pan eindrangen.
Durch die Verbindung zu den Schutzgeistern konnte sie jetzt an all ihren
Erfahrungen teilnehmen. Es war eine Flut an Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühlen
und Worten, die Pan ungefiltert durchflossen. Es ließ sie fast wahnsinnig
werden. In einem Moment blitzte das Bild einer dunklen Kugel auf, die jemand in
der Hand hielt. Kurz darauf sah sie sich selbst sterben. Dann wieder wanderte
sie scheinbar endlose Schneefelder entlang. Einen Moment später hörte sie
schrille Schreie. Sie sah riesige Vögel über ein brennendes Meer fliegen.
Sofort wechselte die Szene. Winzige Blüten, die im Dunkel leuchteten, erblühten
in Windeseile. Auch dieses Bild zerbrach und Pan sah vier menschliche Leichen
neben einem Fluss liegen. Dazu redeten ununterbrochen zahlreiche Stimmen auf
sie ein. Ein Kauderwelsch, dass nicht zu verstehen war. Es fiel Pan schwer, zu
unterscheiden, was Realität war und was sie durch die Verbindung zu den
Unsterblichen sah. Zusätzlich hatte sie dieselbe geistige Wechselbeziehung zu der
Katze, die an jenem Tag während ihrer Transformation auf sie gesprungen war und
ihr Schicksal teilte. Schatten war ihr Name. Pan hatte sie einst nach dem
Spitznamen Gaszras so getauft. Diese Verbindung hingegen verschaffte Pan
zumindest manchmal ein wenig Ruhe. Wenn sie sich auf die Katze konzentrierte,
wurden die anderen Stimmen in ihr leiser. Schatten war von wildem Gemüt, voll
auf ihre eigenen Triebe ausgerichtet. Pan lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das
Tier, um einen Moment auszuruhen. Zusammen mit der Katze witterte sie die Moose
des Waldes und die feuchten Spuren einer kleinen Maus, der Schatten nachjagte.
Durch die Augen der Katze sah sie den Waldboden dahinrasen. Sie setzte zum
Sprung an und landete genau auf der Beute. Die Tatzen hatten das kleine Tier
erfasst und nun begann das Spiel, das Pan früher angeekelt beobachtet hatte.
Jetzt, da sie die Triebe des Tieres selbst fühlte, da sie den Durst nach Blut
kannte und den instinktiven Jagdtrieb, den die Bewegungen des Beutetieres
hervorriefen, ekelte es Pan nicht mehr. Die Maus wurde hochgeworfen, wieder
eingefangen. Die Katze biss leicht, fast spielerisch in das graue Fell des
Tieres, schleuderte es dann von sich, nur um es zum wiederholten Male
einzufangen. Erst als die Maus reglos am Boden lag, fanden die Zähne der Katze
endlich ihr Ziel und Pan schmeckte Blut. Sie schüttelte sich und ihre
Aufmerksamkeit ließ nach. Sofort wurden die Stimmenwiederlauter. Rastlos
wanderte Pan durch den Wald auf der Suche nach eben jenem Trost, den er ihr in
früheren Zeiten immer gespendet hatte. Doch diesmal übertrug sich die Ruhe des
Ortes nicht auf sie. Sie presste die Hände auf ihre Ohren, um die Stimmen zum Schweigen
zu bringen. „Hört auf!“, flüsterte sie immer wieder. „Bitte hört auf!“ Wie so
oft seit jenem Tag versuchte sie sich zu entmaterialisieren und zu Gaszra zu
gelangen. Ein einziges Mal war es ihr gelungen, so zu reisen, gleich nach ihrer
Rettung, aber damals war es vollkommen unbewusst geschehen und Pan versuchte es
seitdem vergebens. So wanderte sie zwischen den hilflosen Versuchen immer
weiter, doch zu Fuß würde sie niemals nach Zurna gelangen. Wenn nur diese
Stimmen nicht wären, sie konnte keinen klaren Gedankenfassen. „Panrah!“ Pan sah
auf. Woher war das gekommen? Verwirrt blinzelte sie in die Dunkelheit des
nächtlichen Waldes. Nur eine der Stimmen in ihr. Doch da war es wieder:
„Panrah!“ Sie hörte Äste knacken, in den Bäumen näherte sich etwas. Da sah sie
gelbe Augen leuchten und fiel erleichtert Eklantas um den dünnen Hals. Sofort
befiel eine Flut aus Gedanken und Erinnerungen des Nachtalben Pan. Sie sah ihn
gemeinsam mit Gaszra über zwei tote Artgenossen gebeugt. Das Bild wechselte.
Neben ihm stand eine Nachtalbenfrau. Sie strich ihm liebevoll über die Wange.
„Lass das!“, zischte Eklantas erschrocken. Pan ließ ihn abrupt los.
„Entschuldige, ich weiß nicht, wie man das kontrolliert!“, wieder liefen die
Tränen, fielen auf den Boden und verursachten erneut das Wachstum silberner Pflanzen. Der dunkle Alb stützte die Hände in die
Hüften. Sein langer Schwanz bewegte sich ungeduldig hin und her. Sein sehniger
dünner Körper war so dunkel, dass er im nächtlichen Wald kaum zu sehen war. Nur
die gelben schmalen Augen ließen ihn sichtbar werden. „Was machst du? Hör auf
damit Panrah!“, rief der dunkle Alb empört. „Du verschwendest deine Kraft sinnlos!“
Sie blaffte ihn wütend an. „Meine Kraft? Sinnlos? Das sind nur ein paar Tränen!
Darf ich jetzt nicht mal mehr heulen, wenn mir danach ist?“ „Du machst das
schon viel zu lange Panrah! Jetzt wird es Zeit nach vorne zu sehen und etwas
gegen die weiße Königin zu unternehmen. Was machst du denn hier in diesem Wald?“
Pan riss die Augen auf. „Was ich hier mache? Frag das doch am besten Gaszra!
Sie hat mich verwandelt und nun hab ich keine Ahnung wie man mit diesem Körper
und mit diesen angeblich so wunderbaren Fähigkeiten überhaupt umgeht! Ich komm
nicht mal hier weg! Und dauernd hab ich diese Stimmen in mir und diese Bilder!
Ich kann dich nicht mal umarmen. Ich will das nicht! Ich will nur Pan sein! So
wie früher!“ Sie konnte die Tränen erneut nicht zurückhalten und sank hilflos
auf den Boden. Aller Ärger war verraucht und zurück blieb nur die Verzweiflung und
die Angst. Der Alb kniete sich vor sie hin. „Panrah, du bist doch immer noch
Pan. Du musst dir nur vertrauen! Dann kannst du das alles schaffen.“ „Ich kann
gar nichts schaffen! Ich will das einfach nicht! Bitte bring mich zu Gaszra!
Sie muss mir helfen.“ Der Alb schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Es ist
zu weit für uns beide. Du musst es selbst machen und kannst mich dann
mitnehmen.“ „Ich kann es nicht!“, schrie Pan Eklantas an. Sanft berührte er mit
seiner Stirn die ihre. Sofort mischten sich seine Bilder wieder mit den
Stimmen. „Ich helfe dir!“, flüsterte er in ihrem Kopf. „Hör mir zu, folge
einfach meiner Stimme. Konzentriere dich nur auf mich. Nur Panrah und Eklantas
Genefirat!“ Ausgerechnet dieser Name riss Pan aus ihrer Lethargie. Genefirat!
Er hatte immer auf diesen zweiten Namen
bestanden und sie hatte ihn nur Eklantas genannt. Ein einsames Lächeln huschte über
ihr gequältes Gesicht. „So ist es gut, Panrah. Nur wir beide. Alle anderen
werden leiser. Sie sind nicht von Bedeutung. Nur du und ich.“ Die Stimmen wurden
ruhiger und die des Alben trat in den Vordergrund. Es war eine Erlösung für
Pan. Es tat so unbeschreiblich gut, dass sie aufpassen musste, diesmal nicht
vor Erleichterung zu weinen. Doch sie hielt die Tränen zurück und konzentrierte
sich auf Eklantas. Er zeigte ihr die dunklen Nebel rund um Zurna. Er führte sie
in die Höhlen im Gebirge und rief ihr Gaszras Gesicht in Erinnerung. „Nun musst
du dich auf Gaszra konzentrieren. Suche ihre Stimme! Zwischen den anderen ist
auch ihre. Wenn du sie findest, kann sie uns beide zu sich holen!“ Pan horchte
auf die Sprachmelodien, die leiser im Hintergrund murmelten. Eklantas löste
seine Stirn, von der ihren und die Stimmen wurden lauter. Es tobte ein Chaos in
ihr, das kaum zu bewältigen war. Warum nur mussten sie alle
durcheinandersprechen? Wo war Gaszra? Pan versuchte, die Bilder auszublenden
und sich nur auf die Stimmen zu konzentrieren. Sie schloss die Augen und blieb
völlig unbeweglich auf dem Waldboden sitzen. Eine Ewigkeit suchte sie in sich,
folgte mal der einen, mal einer anderen Stimme, bis sie endlich die der Gurdor
fand. Den Schatten nannten die Menschen sie, Schutzgeist der Dunkelheit.
Gaszra. Sie hörte sie plötzlich deutlich. Die Gurdor suchte nach ihr. „Gaszra!
Hier bin ich doch! Bitte hol mich zu dir.“, flüsterte sie in ihrem Kopf. Gerade
noch konnte Eklantas ihre Hand ergreifen, um mit ihr zu reisen, da löste sich
Pan auch schon auf und verschwand.
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