»Lady!
Hallo, Lady!« In höchster Aufregung winkt Pelle die Streetworkerin zu sich.
»Kommen Sie, kommen Sie schnell!« Er trippelt von einem Bein aufs andere.
»Kom-men Sie schon. Bitte!«
Er
winkt heftiger und blickt immer wieder zurück, um sich zu überzeugen, dass das,
was er gesehen hat, keine Einbildung war.
Es
ist dunkel. Es war ein anstrengender Tag für Karo. Sie hat
nicht mehr die Kraft für einen paranoiden Schub einer ihrer Schützlinge.
Scheißdrogen! Sie schüttelt den Kopf. Eine Strähne rutscht ihr aus dem locker
hoch-gesteckten Haar. Warum können die Kids nicht einfach clean bleiben? Warum
können sich die Familien nicht besser um ihren Nachwuchs kümmern?
Karo
hat sich diese Fragen früher oft gestellt, bevor sie durch ihre Arbeit als
Streetworkerin und ihre eigenen Erfahrungen eines Besseren belehrt wurde. Sie
erinnert sich an eine konkrete Situation – ein Junge, der nach Monaten der
Abstinenz wieder rückfällig wurde. Es war nicht der fehlende Wille, sondern die
schmerz-hafte Kombination aus einem instabilen Umfeld, der Sucht, die immer
wieder ihre Klauen ausstreckte, und einer Gesellschaft, die mehr verurteilte,
als zu verstehen.
Sie
schüttelt die Gedanken aus dem Kopf. Sie weiß, dass es sinnlose Gedanken sind.
Die Realität ist viel komplexer. Es sind nicht nur die Jugendlichen oder ihre
Familien, die versagen – es sind auch die Strukturen um sie herum, die sie im
Stich lassen.
Pelle
wird immer aufgeregter. Er tänzelt um die Streetworkerin herum und lenkt sie in
Richtung der alten Schuppen, ohne sie zu berühren.
»Schauen
Sie doch, Lady! Kommen Sie schon!«
Karo streicht ihm mit zittriger Hand über den Oberarm.
Die
nächste Laterne ist hundertfünfzig Meter entfernt. Karo stolpert über die
Schwellen der stillge-legten Gleisanlagen. In diesen Teil des Viertels verirrt
sich niemand aus Versehen. Es ist Niemandsland, in dem sich Obdachlose und
Drogenabhängige hinter bröckelnden Mauern und zerborstenen Scheiben
niedergelassen haben. Die umliegenden Büsche dienen als Toilette. Der Wind weht
Karo eine verkommene Mischung aus Fäkalien, Dreck, Lumpen, Schweiß, Alkohol und
Cannabis um die Nase. Sie schaltet die Taschenlampe ihres Handys an, um nicht
zu stolpern. Da liegt etwas zwischen den Gleisen. Sie streckt ihren Arm mit dem
Licht aus, als könnte sie den Haufen Lumpen so besser erkennen.
Pelle
tänzelt hinter ihr. »Sehen Sie? Sehen Sie es?«
Karo
traut sich noch ein paar Schritte nach vorn. Das ist nicht einfach ein
Kleiderbündel. Da liegt jemand.
Pelle
beginnt zu winseln. »Ich war das nicht!« Er hüpft hinter Karo hin und her und
schaut sich nervös um. »Sie lag schon so da.«
Karos
Herz hämmert gegen die Rippen. Sie dreht sich zu dem Jungen. Er wirkt panisch.
Paranoid. Er hat einen Affen[1].
Sie schaut zurück zu dem Lumpenhaufen. Adrenalin schießt ihr durch den Kopf und
ihr wird schwindelig. Wie schlimm ist es diesmal?
Wahrscheinlich
hat Pelle den Tabak, vielleicht auch Reste von Drogen oder was sich sonst noch
verwerten lässt, geplündert. Nach einem Portemonnaie oder einem Personalausweis
braucht sie nicht zu suchen.
Ihr Blick geht zurück zu dem Jungen, der dringend einen
Schuss braucht. Nicht nur, um seine Sucht zu befriedigen. Sondern zusätzlich
einen Schuss gegen den Schrecken. Und auf den Mut, dass er Hilfe gerufen hat.
Karo geht die letzten drei Meter auf den Lumpenhaufen zu. Ihr Herz schlägt ihr
bis in den Hals, als sie sich über den Körper beugt. Sie sieht verklebte Haare.
Karo hält den Atem an, als sie den Körper an der Schulter berührt.
»Hallo!«
Sie rüttelt. »Kannst du mich hören?«
Es
ist ein Mädchen. Karo wird schwarz vor Augen. Ist das Isabella? Die
Streetworkerin sackt auf die Knie. Wut brodelt in ihr auf und sie schüttelt
stärker. »Isi, mach die Augen auf!«
Pelle
wimmert.
Karo
fährt über die Haare des Mädchens. Sie sind feucht und verkrustet. Das ist mehr
als nur fettiges Haar. Sie nimmt die Handylampe zur Unterstützung. Ist das
Blut? Sie kniet nun vor dem Mädchen und tastet mit Zeige- und Mittelfinger nach
der Halsschlagader. Kein Puls.
»Scheiße!«
Karo
verliert das Gleichgewicht beim Aufstehen und stützt sich auf der kalten Erde
ab, um nicht umzufallen. Spitze Kieselsteinchen bohren sich in ihre Handfläche.
Sie drückt sich mit einem Ruck nach oben und reibt die Hände aneinander,
während sie sich zu Pelle umdreht. Sie legt die Hände auf seine Schultern und
schaut in seine riesigen Pupillen. Pelle trippelt immer unruhiger. Karo übt
behutsam Druck auf seine Schultern aus in der Hoffnung, ihn zu beruhigen.
»Wie
hast du sie gefunden?«, fragt sie mit einer Mi-schung aus Verzweiflung und
Besorgnis.
»Sie
lag schon da.« Er dreht den Kopf über seine Schulter. Die Anstrengung, die
Streetworkerin hierher-zubringen,
spiegeln sich in seiner Unruhe wider, er hat mehr Einsatz gezeigt, als er
Ressourcen hat. Er wollte, dass das Mädchen gefunden wird. Er wollte sie nicht
einfach so liegen lassen. Aber was er noch viel weniger wollte, war, mit der
Polizei zu tun zu be-kommen. Nun hat
er den Staffelstab der Verantwor-tung
an Karo weitergegeben.
»Hey,
Lady, ich muss jetzt echt los.« Er zappelt immer wilder und schaut in Richtung
Stadtzentrum, bis er ihren Blick fahrig wieder aufnimmt. »Ich muss noch was
besorgen, okay?«
Karo nickt Pelle zu und bedeutet ihm damit zu
verschwinden. Sie sieht sich um. Leuchtet zu den maroden Lagerhallen. Die
Büsche um sie herum sind schwarz, eine Schwärze, die sich in ihrem Körper
ausbreitet und die Brust verengt. Ihr
Herz schlägt wild gegen die innere Dunkelheit, da hilft auch kein Handylicht.
Was
ist das für ein Rascheln? Das Handy rutscht aus ihren zitternden Händen. Es
versagt ihr den Atem, als sie sich zu dem Boden bückt, um das Licht wieder
aufzuheben. Die Dunkelheit verstärkt die unheimlichen Geräusche. Sie zuckt
zusammen. Ist das ein Vogel im Gebüsch? Jemand hinter den verfallenen Mauern?
Ihr schwindelt es bei dem Gedanken, nachts allein in diesem abgelegenen Teil
des alten Bahnhofs herumzu-streifen. Hier liegt eine tote junge Frau, da ist
sie sich auch ohne Arztausbildung sicher. Sie nimmt ihren letzten Mut zusammen
und wählt die 112. Wenn sie schon so leichtsinnig ist, an diesem Ort zu
bleiben, dann wenigstens mit der Polizei am Ohr. »Hallo! Ich habe eine Leiche
gefunden.«
[1] im Milieu-Slang bedeutet »Affig
sein« oder »einen Affen haben«, wenn etwa nach Heroinkonsum
Entzugserscheinungen (»turkey«) auftreten
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