Freitag, 25. Oktober 2024

[Schnipseltime] ÜberLeben LebensWert von Agatha Huxley


 

»Lady! Hallo, Lady!« In höchster Aufregung winkt Pelle die Streetworkerin zu sich. »Kommen Sie, kommen Sie schnell!« Er trippelt von einem Bein aufs andere. »Kom-men Sie schon. Bitte!«

Er winkt heftiger und blickt immer wieder zurück, um sich zu überzeugen, dass das, was er gesehen hat, keine Einbildung war.

Es ist dunkel. Es war ein anstrengender Tag für Karo. Sie hat nicht mehr die Kraft für einen paranoiden Schub einer ihrer Schützlinge. Scheißdrogen! Sie schüttelt den Kopf. Eine Strähne rutscht ihr aus dem locker hoch-gesteckten Haar. Warum können die Kids nicht einfach clean bleiben? Warum können sich die Familien nicht besser um ihren Nachwuchs kümmern?

Karo hat sich diese Fragen früher oft gestellt, bevor sie durch ihre Arbeit als Streetworkerin und ihre eigenen Erfahrungen eines Besseren belehrt wurde. Sie erinnert sich an eine konkrete Situation – ein Junge, der nach Monaten der Abstinenz wieder rückfällig wurde. Es war nicht der fehlende Wille, sondern die schmerz-hafte Kombination aus einem instabilen Umfeld, der Sucht, die immer wieder ihre Klauen ausstreckte, und einer Gesellschaft, die mehr verurteilte, als zu verstehen.

Sie schüttelt die Gedanken aus dem Kopf. Sie weiß, dass es sinnlose Gedanken sind. Die Realität ist viel komplexer. Es sind nicht nur die Jugendlichen oder ihre Familien, die versagen – es sind auch die Strukturen um sie herum, die sie im Stich lassen.

Pelle wird immer aufgeregter. Er tänzelt um die Streetworkerin herum und lenkt sie in Richtung der alten Schuppen, ohne sie zu berühren.

»Schauen Sie doch, Lady! Kommen Sie schon!«

Karo streicht ihm mit zittriger Hand über den Oberarm.

Die nächste Laterne ist hundertfünfzig Meter entfernt. Karo stolpert über die Schwellen der stillge-legten Gleisanlagen. In diesen Teil des Viertels verirrt sich niemand aus Versehen. Es ist Niemandsland, in dem sich Obdachlose und Drogenabhängige hinter bröckelnden Mauern und zerborstenen Scheiben niedergelassen haben. Die umliegenden Büsche dienen als Toilette. Der Wind weht Karo eine verkommene Mischung aus Fäkalien, Dreck, Lumpen, Schweiß, Alkohol und Cannabis um die Nase. Sie schaltet die Taschenlampe ihres Handys an, um nicht zu stolpern. Da liegt etwas zwischen den Gleisen. Sie streckt ihren Arm mit dem Licht aus, als könnte sie den Haufen Lumpen so besser erkennen.

Pelle tänzelt hinter ihr. »Sehen Sie? Sehen Sie es?«

Karo traut sich noch ein paar Schritte nach vorn. Das ist nicht einfach ein Kleiderbündel. Da liegt jemand.

Pelle beginnt zu winseln. »Ich war das nicht!« Er hüpft hinter Karo hin und her und schaut sich nervös um. »Sie lag schon so da.«

Karos Herz hämmert gegen die Rippen. Sie dreht sich zu dem Jungen. Er wirkt panisch. Paranoid. Er hat einen Affen[1]. Sie schaut zurück zu dem Lumpenhaufen. Adrenalin schießt ihr durch den Kopf und ihr wird schwindelig. Wie schlimm ist es diesmal?

Wahrscheinlich hat Pelle den Tabak, vielleicht auch Reste von Drogen oder was sich sonst noch verwerten lässt, geplündert. Nach einem Portemonnaie oder einem Personalausweis braucht sie nicht zu suchen.

Ihr Blick geht zurück zu dem Jungen, der dringend einen Schuss braucht. Nicht nur, um seine Sucht zu befriedigen. Sondern zusätzlich einen Schuss gegen den Schrecken. Und auf den Mut, dass er Hilfe gerufen hat. Karo geht die letzten drei Meter auf den Lumpenhaufen zu. Ihr Herz schlägt ihr bis in den Hals, als sie sich über den Körper beugt. Sie sieht verklebte Haare. Karo hält den Atem an, als sie den Körper an der Schulter berührt.

»Hallo!« Sie rüttelt. »Kannst du mich hören?«

Es ist ein Mädchen. Karo wird schwarz vor Augen. Ist das Isabella? Die Streetworkerin sackt auf die Knie. Wut brodelt in ihr auf und sie schüttelt stärker. »Isi, mach die Augen auf!«

Pelle wimmert.

Karo fährt über die Haare des Mädchens. Sie sind feucht und verkrustet. Das ist mehr als nur fettiges Haar. Sie nimmt die Handylampe zur Unterstützung. Ist das Blut? Sie kniet nun vor dem Mädchen und tastet mit Zeige- und Mittelfinger nach der Halsschlagader. Kein Puls.

»Scheiße!«

Karo verliert das Gleichgewicht beim Aufstehen und stützt sich auf der kalten Erde ab, um nicht umzufallen. Spitze Kieselsteinchen bohren sich in ihre Handfläche. Sie drückt sich mit einem Ruck nach oben und reibt die Hände aneinander, während sie sich zu Pelle umdreht. Sie legt die Hände auf seine Schultern und schaut in seine riesigen Pupillen. Pelle trippelt immer unruhiger. Karo übt behutsam Druck auf seine Schultern aus in der Hoffnung, ihn zu beruhigen.

»Wie hast du sie gefunden?«, fragt sie mit einer Mi-schung aus Verzweiflung und Besorgnis.

»Sie lag schon da.« Er dreht den Kopf über seine Schulter. Die Anstrengung, die Streetworkerin hierher-zubringen, spiegeln sich in seiner Unruhe wider, er hat mehr Einsatz gezeigt, als er Ressourcen hat. Er wollte, dass das Mädchen gefunden wird. Er wollte sie nicht einfach so liegen lassen. Aber was er noch viel weniger wollte, war, mit der Polizei zu tun zu be-kommen. Nun hat er den Staffelstab der Verantwor-tung an Karo weitergegeben.

»Hey, Lady, ich muss jetzt echt los.« Er zappelt immer wilder und schaut in Richtung Stadtzentrum, bis er ihren Blick fahrig wieder aufnimmt. »Ich muss noch was besorgen, okay?«

Karo nickt Pelle zu und bedeutet ihm damit zu verschwinden. Sie sieht sich um. Leuchtet zu den maroden Lagerhallen. Die Büsche um sie herum sind schwarz, eine Schwärze, die sich in ihrem Körper ausbreitet und die Brust verengt. Ihr Herz schlägt wild gegen die innere Dunkelheit, da hilft auch kein Handylicht.

Was ist das für ein Rascheln? Das Handy rutscht aus ihren zitternden Händen. Es versagt ihr den Atem, als sie sich zu dem Boden bückt, um das Licht wieder aufzuheben. Die Dunkelheit verstärkt die unheimlichen Geräusche. Sie zuckt zusammen. Ist das ein Vogel im Gebüsch? Jemand hinter den verfallenen Mauern? Ihr schwindelt es bei dem Gedanken, nachts allein in diesem abgelegenen Teil des alten Bahnhofs herumzu-streifen. Hier liegt eine tote junge Frau, da ist sie sich auch ohne Arztausbildung sicher. Sie nimmt ihren letzten Mut zusammen und wählt die 112. Wenn sie schon so leichtsinnig ist, an diesem Ort zu bleiben, dann wenigstens mit der Polizei am Ohr. »Hallo! Ich habe eine Leiche gefunden.«



[1]   im Milieu-Slang bedeutet »Affig sein« oder »einen Affen haben«, wenn etwa nach Heroinkonsum Entzugserscheinungen (»turkey«) auftreten

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