Leseprobe: Mortal Immortal – Schattenblut Chroniken Episode
01
Ilay
Oktober 1989, Atlanta
Ein grelles Licht blendet Ilay durch
seine geschlossenen Lider hindurch und bunte Lichter tanzen vor seinen Augen.
Sein Körper fühlt sich steif an und hinter seinen Schläfen pocht ein quälender
Schmerz, als würde jemand das Gehirn mit einem Hammer bearbeiten.
Was zur Hölle ist passiert? Wie Bruchstücke eines Films flimmern Bilder
durch seinen Kopf. Er auf seinem Motorrad. Die rasante Fahrt. Die rutschige
Straße. Der LKW. Ein Krachen, Splittern. Und dann - nichts. Nur die vertraute,
immer wiederkehrende Dunkelheit des Todes.
Enttäuschung macht sich in ihm breit, wie so oft, wenn er wieder ins
Leben zurückkehrt. Sie nagt an ihm, quält ihn und versetzt ihm jedes Mal wieder
einen Stich.
Es ist nicht so, dass ihm sein Leben nicht gefällt. Zumindest momentan
tut es das durchaus. Aber nach all dieser Zeit, nach all den Verlusten, der
Trauer und den langen Phasen der Einsamkeit, hofft etwas in ihm jedes Mal, dass
es vorbei ist und er endlich Ruhe finden kann. Aber anscheinend ist es noch
nicht so weit. Wieder einmal.
Bittere Galle steigt seine Kehle hinauf, sein Magen verkrampft sich und
rebelliert. Mühsam kämpft er gegen das Erbrechen an und schluckt.
Er hasst das. Warum immer diese dämliche Übelkeit? Missmutig wendet er
seine Aufmerksamkeit seinem Körper zu, konzentriert sich auf das Gefühl in den
Gliedmaßen, den regelmäßigen Schlägen seines Herzens und die Muskeln, die sich
langsam entspannen. So weit, so gut.
Er liegt auf etwas Hartem, Kühlem. Metall. Auf seiner nackten Haut spürt
er die Berührung von glattem Stoff. Die Luft ist erfüllt von dem Geruch nach
Desinfektionsmittel, Seife und dem süß-säuerlichen Aroma des Todes.
Schöne Scheiße.
Ein Telefon klingelt. Kurz darauf nähern sich ihm Schritte und die lauter
werdende Stimme einer Frau. Sie klingt genervt. »Wer ruft denn bitte um diese
Uhrzeit hier an? Jetzt mach ich schon extra die Nachtschicht, um meine Ruhe zu
haben und dann wird man trotzdem gestört!«
Es klingelt erneut, dann ertönt ein Klicken, als der Hörer abgenommen
wird.
»Pathologie Northside Hospital, Doktor Sophie Montgomery.«
Dem Klang nach muss sie ganz in seiner Nähe sein.
Kurze Stille.
»Kann das nicht bis morgen warten?«
Ilay dreht den Kopf und blinzelt. Sachte zupft er an dem Laken und zieht
es so weit hinunter, dass es seinen Kopf frei gibt.
Das grelle Licht der Lampe direkt über ihm treibt ihm die Tränen in die
Augen und seine Sicht verschwimmt für einen Moment, bis seine Augen sich
angepasst haben. Sein Verdacht bestätigt sich. Er liegt auf einem der
Metalltische in einem Sektionssaal.
Ein paar Meter von ihm entfernt steht eine kräftige Frau mit braunen,
leicht gelockten Haaren, den Rücken ihm zugewandt. Sie trägt einen weißen
Kittel und presst sich einen Telefonhörer gegen das Ohr, das geringelte Kabel
um einen Finger gewickelt.
Perfekt. Einfach perfekt.
»Nein, Sie können das jetzt nicht ausfüllen! Kommen Sie morgen früh
vorbei und melden Sie sich am Empfang. Ich muss jetzt weiterarbeiten. Meine
Leiche wartet nicht ewig auf mich!«
Knallend landet der Hörer wieder auf der Gabel.
»Das darf doch nicht wahr sein! Die Leute werden auch immer dreister.
Wenigstens du machst mir keinen Ärg-«
Im Sprechen dreht sie sich um und erstarrt. Ihre Augen hinter den
Brillengläsern weiten sich und ihr Mund bildet ein O.
Mist. Mist. Mist. Was jetzt? Davonschleichen ist nicht mehr. Ilay presst
die Lippen zusammen, setzt sich auf und schwingt die Beine über die Kante, so
dass seine Füße über dem Boden baumeln. Bevor er es festhalten kann, rutscht
das weiße Laken an seinen Beinen herab und gleitet zu Boden. Egal.
Berufsbedingt sieht die Gerichtsmedizinerin bestimmt dauernd nackte Leute. Das
wird vermutlich nicht der Grund sein, warum sie ihn anstarrt, als hätte sie
einen Geist gesehen. Liegt wohl eher daran, dass er nicht mehr ganz so tot ist.
Erneut überfällt ihn eine Welle der Übelkeit. Dieses Mal lässt sie sich
nicht aufhalten. Stöhnend presst er sich den Unterarm gegen den krampfenden
Bauch und beugt sich vor, während ihm sein Mageninhalt die Kehle hinaufschießt.
Mit einem Platschen ergießt er sich auf den weiß gekachelten Boden und verfehlt
nur knapp das Laken.
Ächzend wischt Ilay sich mit dem Handrücken über den Mund. Der Geschmack
ist widerlich. Säuerlich und bitter.
»Das ... ist mir jetzt irgendwie peinlich und unangenehm.« Ilay räuspert
sich.
Verlegen reibt er sich mit der anderen Hand über den Nacken und verzieht
das Gesicht zu einem kläglichen Lächeln. Das ist der berühmte Tropfen, der das
Fass zum Überlaufen bringt.
Der gellende Schrei der Pathologin zerreißt die Luft. Durchdringend
klingelt er in Ilays Ohren und fügt dem dumpfen Pochen in seinem Schädel ein
Stechen hinzu.
Sie fährt herum, stößt gegen einen Tisch und tastet sich zitternd daran
vorbei. Stolpernd und nach Luft schnappend stürzt sie zur Tür.
»Scheiße, verdammt!«, stößt er knurrend aus.
Leise vor sich her fluchend rutscht Ilay von dem Tisch. Warum müssen die
Leute immer weglaufen?
Seine Zehen berühren etwas Warmes, Schmieriges und er erschauert. Die
Schultern nach oben gezogen sieht er nach unten. Sein Erbrochenes. Sind das da
Bröckchen? Was zur Hölle hat er zuletzt gegessen? Egal. Die Pathologietante
darf nicht den Raum verlassen.
Mit einem gewaltigen Sprung setzt er über einen Edelstahltisch hinweg und
gleitet geschmeidig an ihr vorbei. Entschlossen wirft er sich zwischen sie und
die Tür, die Arme weit ausgebreitet. Fest hält er den Blick auf ihre Züge
gerichtet, nach Kräften bemüht harmlos zu wirken. Es hilft, dass sie einen
halben Kopf größer ist als er. Manchmal ist es auch ein Vorteil, eine halbe
Portion zu sein.
»Stopp. Bitte. Ich will dir nichts tun, wirklich. Aber ich kann dich so
auch nicht gehen lassen.« Beschwichtigend hebt er die Hände und lächelt.
Beruhigend, wie er hofft.
Die Pathologin keucht auf und weicht zurück, die Augen hinter der dicken
Brille weit aufgerissen. »Was- das- ich- Nein«, stottert sie und schüttelt
entsetzt den Kopf. Langsam und ohne den Blick von ihm abzuwenden, weicht sie
zurück. »Was passiert hier?«
Ilay blinzelt und überdenkt rasch seine Worte. Ups.
»Also, ich will dich schon gehen lassen, keine Angst.«
Er seufzt.
»Ach verdammt, das wäre so viel einfacher, wenn ich dein Gedächtnis
löschen könnte!«
Die Stirn gerunzelt hält er inne und verzieht das Gesicht. »Mist. Nein,
natürlich will ich das nicht, also schon, aber nur damit ich dich nicht
umbringen muss.«
Nope. Auch nicht besser.
Entgeistert starrt sie ihn an.
Warum schmerzt sein Kopf so höllisch? Außerdem fällt es ihm schwer, einen
klaren Gedanken zu fassen. Es fühlt sich an, als wäre sein Gehirn in Watte
gepackt.
»Ich will dich nicht umbringen. Ich will reden, okay? Nur reden. Bitte!
Ich bin noch nicht wieder ganz klar. Manchmal ist alles so verwirrend, wenn ich
wieder aufwache. Vor allem wenn der Kopf etwas abbekommen hat. Der braucht
etwas länger, um sich zu erholen.« Seine Stimme klingt flehend.
Ja, das war besser. Reden ist gut, oder?
Sie schluckt trocken, während sich ihr Brustkorb panisch hebt und senkt.
»Was ... Wa- was redest du zum Teufel? Ge- Gedächtnis a- auslöschen, umbringen
... was meinst du damit? Was willst du von mir?«
»Nein. Eben nicht. Ich-«, stammelt Ilay auf der Suche nach den richtigen
Worten. Verdammte Scheiße. Das läuft ja super. Er ist wirklich in Höchstform.
Nicht.
»Du ... du ... das KANN NICHT
sein. Du kannst nicht lebendig sein. Ich habe die ... deine ... Leiche in
Empfang genommen. D- Dein Schädel ... dein Gehirn«, zählt sie von Sekunde zu
Sekunde verwirrter auf. Ihre Stimme bricht und sie schlägt die zitternden Hände
vor das Gesicht.
Ah, darum diese Kopfschmerzen. Sein Gehirn war Matsch. Das verursacht
manchmal diese Nebenwirkungen, neben gelegentlichen Erinnerungslücken und
Verwirrung.
Langsam und vorsichtig tritt er auf die Gerichtsmedizinerin zu und sieht
zu ihr hinauf. Das ist einer der Nachteile eine halbe Portion zu sein. Dauernd
muss er zu Leuten hinaufblicken.
»Sophie, oder?«
Zumindest hatte sie sich vorhin am Telefon so vorgestellt.
Sie nickt schwach und senkt langsam die bebenden Hände. Die Augen hinter
den Brillengläsern sind groß wie Untertassen und schimmern feucht. Sie wirkt
wie ein panisches Reh im Scheinwerferlicht.
»Können wir uns nicht irgendwo hinsetzen, gemütlich einen Kaffee trinken,
etwas essen und uns unterhalten? Ich verspreche dir, ich erkläre alles, so gut
ich kann.« Ilay bemüht sich darum ruhig zu sprechen, um ihr nicht noch mehr
Angst zu machen.
Sophie kneift die Augen zusammen und beißt sich auf die Unterlippe. Sie
bebt noch immer am ganzen Leib und atmet hektisch. Schließlich geht ein Ruck
durch ihren Körper und sie strafft die Schultern. Entschlossen rückt sie ihre
Brille zurecht und lässt den Blick über ihn gleiten. Tief atmet sie durch,
bückt sich nach dem Laken und reicht es Ilay.
»Könntest du das bitte umlegen? Ich muss das-«, sie wedelt mit der Hand
in Richtung seines Schritts, »nicht die ganze Zeit vor meinen Augen baumeln
haben.«
Ilay nimmt das Laken und sieht an sich hinunter. Sieht normal aus. Alles
da, wo es hingehört. Aber okay, wenn sie sich dann wohler fühlt.
Schulterzuckend wickelt er sich den Stoff um die Hüften. »Besser? Vorhin war es
doch auch kein Problem.«
Sie nickt und atmet zitternd ein.
Gut. Sie scheint bereit zu sein, sich mit den veränderten Tatsachen
auseinanderzusetzen. Aber er spürt ihre Panik und Hysterie, die noch immer
unter der Oberfläche lauern und jederzeit wieder ausbrechen können.
»Vorhin warst du auch noch tot!«, entgegnet sie empört und ihre Wangen
färben sich rot. Süß.
»Also magst du das Gebaumel nur bei Toten? Aber nicht bei Lebenden?
Schräg, aber jeder hat einen anderen Geschmack.« Ilay neigt den Kopf zur Seite
und mustert sie prüfend.
»Nein! So meine ich das nicht!«, wehrt sie ab. Jetzt glühen auch noch
ihre Ohren.
»Also magst du grundsätzlich kein Gebaumel? Ist auch kein Ding, jedem das
Seine. Ich mag zum Beispiel Gebaumel. Bevorzugt Lebendes und an einem Körper
befestigt.«
»Doch. Argh!« Sophie rauft sich die braunen Locken. »Stopp. Mein Kopf
explodiert gleich!«
Sie spreizt mit einer ruckartigen Geste die Finger und streckt die Arme
aus, um ihre Worte zu unterstreichen. »Das ist mit Abstand das verrückteste
Gespräch, das ich je geführt habe. Und das hat etwas zu bedeuten. Das kannst du
mir glauben!«
Ilay schmunzelt und massiert sich mit einer Hand den steifen Nacken.
Prüfend mustert er sie.
»Du siehst jetzt nicht mehr so aus, als ob du gleich schreiend wegrennen
würdest. Fühlst du dich besser?«
Sophie blinzelt und starrt ihn an, senkt dann den Blick auf ihre Hände.
Sie zittern nicht mehr so stark. Nickend atmet sie tief durch und rückt die
Brille zurecht. »Ja. Besser. Und jetzt?«
»Ich weiß nicht, was
du vorhast, aber ich will jetzt etwas essen und trinken.« Suchend sieht er sich
um und steuert eine Tür an, die so aussieht, als ob sie in den Aufenthaltsraum
führen könnte. Er öffnet sie und sieht hinein. Jackpot! Ein großer Tisch, Stühle,
Küchenzeile mit Kühlschrank und in einer Ecke sterben ein paar Pflanzen vor
sich hin.
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