…„Ich glaube, Daniel möchte, dass wir zu ihm kommen. Ich hab so ein
Gefühl.“
Dein Vater zögert keine Sekunde. Er
stellt solche Aussagen nie in Frage. Er weiß, dass man nicht alles rational
erklären kann. Schon gar nicht meine Gefühle. Wir greifen uns eine neue
Grabkerze und ein Feuerzeug und laufen los. Auf dem Friedhof ist es ruhig an
diesem Freitag. Die Sonne scheint noch immer und als wir auf dein Grab zugehen,
beugt sich ein Fremder darüber und entziffert die Inschrift auf deiner
Grabtafel. Als ich ihn höflich grüße, läuft er, ohne ein Wort zu sagen, weg.
Ein seltsamer Kauz. Aber ich denke nicht, dass er der Grund war, warum du uns
bei dir haben wolltest. Das Grab sieht traumhaft aus. Auch heute leuchten die
vielen weißen Blüten in der Sonne. Rund herum brennen wohl zwanzig weiße
Grabkerzen. Große, kleine, aus Glas, in Windlichtern. Ich rede mit dir, etwas,
das mir leichtfällt. Ich habe da wenig Hemmungen, interessant wird es, wenn du
mir direkt antwortest. Schaffst du das? Wir zupfen ein paar Schleifen und
Bänder zurecht, die der Nachtwind verweht hat. Dann setze ich mich auf die Bank
direkt vor dem Grab und lasse die friedliche Atmosphäre auf mich wirken. Dein
Vater fotografiert das Grab, aber das Bild wird der Realität kaum gerecht.
Hättest du zu deinen Lebzeiten gedacht, dass du in den Herzen von so vielen
Menschen bist? In den letzten beiden Jahren sicher nicht. Du konntest es nicht
mehr verstehen. Die zahllosen Drogen hatten dein Hirn zerfressen,
Panik-Attacken wirkten sich auf dein Verhalten aus. Das, was das Gift dir in
deinen Albträumen vorgegaukelt hat, war für dich Realität. Du hast nur noch in
Finsternis gelebt, du, mein Sonnenkind. Die dunklen Träume wurden mehr und mehr
zu deiner Realität. Beigetragen zu diesem verqueren Denken haben auch einige
deiner neuen „Freunde“, die dich nur noch mehr in die Sucht und in diese schmutzige
Szene gezogen haben.
„Jung sterben ist cool.“ Was für ein
schrecklicher und grenzenlos dummer Satz. So etwas sagen Menschen, die es nie
in ihrem Leben zu etwas bringen werden, die schon immer auf der Verliererseite
des Lebens standen. Menschen, die ohne Charakter und Schuldgefühle hervorragend
zu leben verstehen. Aber das konntest du nicht mehr erkennen.
Du warst nie auf dieser
Verliererseite. Du hattest alles. Dir stand die ganze Welt offen.
Mir bleibt nur die Hoffnung, dass du
es jetzt verstehst, dass du erkennst, wie deine Welt wirklich aussah. Also die
Welt, deren Tür du hinter dir zugezogen hast, als du dich für die Drogen
entschieden hattest. …(Ende Leseprobe)
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