Mittwoch, 1. November 2023

[Schnipseltime] Das Geheimnis der Ikarus-Loge von Tanya Carpenter

 

»Dad?« Catherine kehrte früher als gedacht von einem Treffen mit Cyril zurück, weil er einen wichtigen Anruf erhalten hatte. Während sie den Haustürschlüssel auf die Kommode im Flur legte und nach ihrem Vater suchte, grübelte sie noch immer darüber nach, wie seltsam sich ihr Freund verhalten hatte, nachdem der Anruf von seinem Auftraggeber gekommen war. Unaufmerksam und fahrig. Sie spürte es, wenn jemand nervös wurde, etwas nicht in Ordnung war, auch wenn derjenige vorgab, dass kein Grund zur Sorge bestünde. Man konnte sie nicht so leicht täuschen, aber aus Cyril war nichts herauszubekommen. Im Gegenteil, nachdem sie nicht aufhörte, zu bohren, hatte er das Treffen schließlich beendet, weil er noch einen dringenden Termin wahrnehmen müsse, der sich eben erst ergeben habe.

Der Wagen ihres Vaters stand bereits in der Einfahrt, was bedeutete, dass auch er schon aus dem Büro zurück war, doch sie konnte ihn weder in der Küche noch im Wohnzimmer oder in seinem Büro finden. Der Wintergarten lag ebenfalls still und einsam da.

»Dad?«, rief sie lauter.

»Ich bin unten, Liebes. Im Keller.«

Catherine hob die Augenbrauen. Was machte er um diese Zeit im Keller?

Sie stieß die Tür zur Treppe nach unten auf. Wenn sie nicht zur Tiefgarage wollte oder von dort in den Wohnbereich, benutzte sie diesen Weg nie. Er war nur spärlich beleuchtet, es war kühl und irgendwie unheimlich. Fast wie in einer Gruft. Catherine fühlte sich stets an die Friedhofskapelle erinnert, in der die kleine Messe für ihre Mutter stattgefunden hatte. Sie war ebenso kalt, karg und unpersönlich gewesen wie der Treppenaufgang und der schmale, aber dafür umso längere Kellerflur.

Ihre Schritte klangen hohl auf den Stufen.

»Links, Catherine. Nicht zur Garage. Die andere Richtung.«

Sie folgte der Stimme ihres Vaters. Dass man am Fuß der Treppe nicht nur nach rechts gehen konnte, fiel ihr heute zum ersten Mal auf. Sie erkannte aber auch den Grund dafür. Eine Schiebetür in derselben Farbe wie die Wände und der Boden versperrte für gewöhnlich diesen Weg. Ein Geheimraum?

Sie konnte ihren Vater keuchen hören, wie von großer Anstrengung. Ein Hobby- oder Fitness-Raum, schoss es ihr durch den Kopf. Aber wieso sollte man den verstecken?

In der Tat, als sie Vigos Schatten an der Wand einer großen Trainingshalle sah, schien er dort zu trainieren. Beim Eintreten erwarteten sie allerdings keine modernen Fitness-Geräte, sondern eher eine Art Museum. Ein leiser, anerkennender Pfiff kam ihr über die Lippen. »Wow! Was ist das denn?«

Ihr Vater vollführte gerade noch sehr flüssig eine kompliziert aussehende Schlagfolge mit einem Schwert, wie Catherine es zuletzt in einem Historienfilm gesehen hatte und wandte sich ihr dann lächelnd zu. »Mein privater Rückzugsort«, erklärte er gut gelaunt. Er griff nach einem Handtuch, das über einem Stuhl bereit lag, und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Es ist immer gut, in Übung zu bleiben.« Behutsam, als wäre es ein kostbares Kunstwerk – was ihr gar nicht so weit hergeholt erschien – schob er das Schwert in eine lederne Scheide, die mit allerhand Imprägnierungen verziert war. »Der antike Schwertkampf trainiert den Geist und den Körper. Solltest du auch mal versuchen. Dann hätte ich endlich wieder einen Sparringspartner.« Er lachte, als sie skeptisch das Gesicht verzog.

»Lass mal, Dad. Ich bin in Schusswaffen geübter. Und die sind heutzutage glaube ich auch sicherer als so ein Ding.« Sie deutete auf ein weiteres Schwert, das neben vielen anderen an der Wand hing. »Sammelst du so ein Zeug?«

Er schien ein wenig gekränkt, dass sie den Kostbarkeiten nicht die Bewunderung zollte, die sie seiner Meinung nach verdienten, doch er griff nach der Waffe, auf die sie gewiesen hatte und reichte sie ihr mit dem Heft voran. »Probier es einmal. Mir zuliebe.«

Seufzend fügte sie sich in ihr Schicksal. Sie konnte ihrem Vater kaum eine Bitte abschlagen, es war ja auch nichts dabei, solange sie sich nur vor ihm blamierte und nicht in aller Öffentlichkeit. Ihre Waffe war leichter als die ihres Vaters, was für sie allein schon zur Unterlegenheit ausreichte, doch als Vigo den ersten Schlag führte, parierte sie diesen automatisch und war über ihre eigene Reaktion ebenso verblüfft wie über die Widerstandkraft ihrer Klinge.

»Ein Schwert, Cat, ist eine sehr edle und traditionsreiche Waffe. Gut geschmiedet und von geschulter Hand geführt, steht es einer Pistole oder einem Gewehr zumindest im Nahkampf in nichts nach. Es wurden Kriege damit geführt und gewonnen. Der Kampf Mann gegen Mann hat etwas weitaus Ehrenvolleres an sich, als jemanden mit einer Kugel niederzustrecken.« Noch während er ihr dies erklärte, führte er bereits den nächsten Hieb, der sie zwar leicht aus dem Gleichgewicht brachte, aber dennoch konterte sie auch diesen.

Mehr noch, sie gab einem inneren Impuls nach und griff mit zwei Schlägen nun ihrerseits an, was ihr ein anerkennendes Nicken ihres Vaters einbrachte, auch wenn dieser ihre Attacke mühelos abwehrte. Sie war über sich selbst verblüfft, denn sie hielt zum ersten Mal ein Schwert in der Hand, aber es fühlte sich so vertraut an, als sei sie damit großgeworden.

»Sehr gut, Catherine. Du hast es im Blut.«

Sie hob beschwichtigend die Hände und hielt ihm das Schwert hin, als wäre es ein ekelerregendes Subjekt. »Ganz wie du meinst. Aber mir sind diese Dinger zu umständlich. Die mögen ja früher ihre Daseinsberechtigung gehabt haben, heutzutage würden sich ein Verbrecher wohl eher kaputtlachen, wenn ihn ein Polizist mit Schwert in Schach halten wollte.«

Sie verschwieg ihm bewusst, dass ihr eigenes intuitives Verhalten im Umgang mit der ungewohnten Waffe sie zutiefst schockierte und erschreckte. Für einen Moment hatte sie fast das Gefühl gehabt, mit ihr zu verschmelzen und eine lebendige Einheit zu bilden. Sie schauderte.

Vigo lächelte väterlich und nahm ihr das Schwert wieder aus der Hand, um es an seinen Platz zurückzustellen. Danach führte er Catherine zu einer Vitrine. »Komm, sieh.« Er schloss den Glaskasten auf und fuhr liebevoll über eines der verzierten Hefte. »Das sind echte Templerschwerter, mein Kind. Ihr historischer Wert ist unermesslich. Kunstschätze der besonderen Art. Das Blut, das diese Klingen getränkt hat, wurde in einem heiligen Krieg vergossen.«

Unangenehm berührt senkte Catherine den Blick. »Es waren Menschen, die durch diese Waffen starben, Dad. Töten ist immer schlimm. Es sollte nie etwas anderes sein als der allerletzte Ausweg. Egal, ob mit einer Kugel oder einer Klinge. Über diese Zeiten sind wir heute doch gottlob hinaus.«

»Ach, sind wir das wirklich?« Nachdenklich ruhte sein Blick auf ihr. Eine Ewigkeit lang schwieg er, ehe er schließlich lächelte und einen Arm um ihre Schultern legte, um sie auf die Stirn zu küssen. »Du hast recht, Cat. Töten darf nur der Verteidigung dienen, wenn es keinen anderen Weg mehr gibt. Doch allzu oft in der Geschichte ging es genau darum und mancherorts haben Menschen auch heute noch keine Wahl. Kennst du eigentlich die Hintergründe des Templer-Ordens und ihr Wirken in der Welt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Eine sehr interessante Studie, ich kann sie dir nur empfehlen. Längst nicht nur von Gewalt und Tod geprägt. Hingegen waren auch die Römer sehr geübt mit dem Schwert und viele asiatische Völker haben eine wahre Kunst daraus gemacht. Denke nur an die Samurai.«

»Dad, tut mir leid, aber ich fürchte, für Krieger, Söldner und deren Waffen werde ich mich nie mehr interessieren, als es mein Job erfordert.«

Gottlob zeigte er Verständnis dafür, dass sie keinen Draht zu dieser speziellen Leidenschaft von ihm besaß und wechselte lieber zu anderen Antiquitäten, die er in diesem Raum aufbewahrte. Um ihn nicht erneut vor den Kopf zu stoßen, gab sie sich interessiert, obwohl sie auch die religiösen Ikonen und antiken Schmuckstücke nur wenig reizten.

Sie war erleichtert, als sie endlich wieder nach oben gingen.

»Mein Angebot steht. Wenn du den Umgang mit dem Schwert einmal erlernen willst, werde ich dir gern Unterricht erteilen. Deine Mutter hat es übrigens einige Male versucht.«

»Meine Mama?« Sie versuchte, sich Mama Silvia vorzustellen, wie sie das schwere Eisenschwert schwang, mit dem ihr Vater vorhin seine Übungen vollzogen hatte. Das Ding hätte ihre zierliche Mutter schlicht von den Füßen gerissen.

»Es ist nur ein Angebot. Ich würde dich nie dazu überreden wollen.«

Während ihr Vater duschen ging, bereitete Catherine ein leichtes Abendessen für sie beide zu, das sie im Wintergarten auftischte.

»Ah, meine Meisterköchin. Nelli muss aufpassen, dass ich sie nicht entlasse, wenn du mich weiterhin so gut versorgst«, scherzte er. »Aber sag, du warst heute früh zurück. Das Liebespaar hat sich doch hoffentlich nicht zerstritten?«

Sie schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Nein, Dad, keine Sorge. Cyril hatte lediglich noch einen Termin. Sein Boss hat ihn angerufen und da musste er schnell weg.«

»Ah!«

Mehr sagte ihr Vater nicht dazu.

»Übrigens habe ich unten auch eine nette kleine Bibliothek, falls du dich mal für ein paar Stunden zurückziehen und in Ruhe schmökern willst. Ich weiß zwar nicht, was du gern liest, aber ich habe mir sagen lassen, meine Regale seien gut bestückt. Der Raum liegt direkt hinter dem Trainingsbereich.«

»Danke, ich komme vielleicht darauf zurück. Eine eigene Kapelle hast du aber nicht, oder?«

Jetzt lachte er lauthals. »Wie kommst du denn auf den Gedanken?«

»Na ja, bei den ganzen Heiligenbildern und –figuren, die du da unten stehen hast, finde ich das nicht abwegig.«

Er schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Ich bin kein religiöser Mensch, Cat. Dafür kenne ich die Religionen dieser Welt und ihre Schwächen zu gut.«

»Und bewunderst dennoch die Krieger, die für sie gekämpft haben.«

»Das ist etwas anderes. Eine Kapelle wirst du hier nicht finden. Ich bewundere die Kampfkunst und die Geschichte, nicht die Lügen einer Religion, die nur dazu dienen sollte, sich die Menschen gefügig zu machen, indem sie ihre Urängste schürte.«

Catherine holte tief Luft. »Mein Vater, der Philosoph. Na sieh mal einer an.«

Ehe er darauf antworten konnte, fragte sie ihn geschickt nach dem Meeting in der Firma, das für diesen Morgen angesetzt gewesen war. Zu ihrem Glück ging er auf den Themenwechsel ein und ihr blieben weitere tiefschürfende Analysen der Menschheitsgeschichte erspart. Eines war ihr allerdings klar geworden. Sie kannte ihren Vater noch immer sehr wenig und entdeckte jeden Tag neue Seiten an ihm, von denen einige ein vages Gefühl der inneren Unruhe in ihr zurückließen. Wenn sie auch nicht genau sagen konnte, woher dies rührte. Aber es war wie ein ferner Sturm, der sich zusammenbraute und sie unweigerlich mit sich reißen würde, wenn er sie erst erreicht hatte.


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