4. Kapitel
„Ich schaue im Osten nach dem Rechten.
Hoffentlich sind die Schäden des Sturms nicht so schlimm“, erklärte Magrow
seiner Frau. Myana freute sich über die Mitteilung, denn sie wusste, wie
peinlich es ihm war, ihr ständig Bescheid zu geben. Trotzdem nahm er aus Liebe
Rücksicht auf ihre Ängstlichkeit. „Ich nehme Sigun mit“, setzte er nach. „Der
Weg ist nicht weit. Das schafft mein Sohn.“
Da blickte sie von ihrer
Näharbeit auf, runzelte ihre hübsche Stirn, sagte aber nichts. Ihr Gemahl würde
sich nicht davon abbringen lassen. Sie würde ihre Kräfte lieber für wirklich
wichtige Auseinandersetzungen aufsparen. Doch sie hatte nicht mit der sechsjährigen
Ryana gerechnet. „Nein, Majestät, bitte nehmt Sigun nicht mit“, rief ihre
Tochter und sah ganz verzweifelt aus. Dann bettelte das Kind wie schon seit
langem nicht mehr. Nein, fiel Myana sofort ein, eigentlich hatte Ryana noch nie
so energisch gebettelt.
„Ich habe geträumt, dass
ein Baum umstürzt und mein Bruder mit dem Pferd darunter liegt. Bitte, lasst
ihn hier.“ Ryana zupfte am Umhang ihres Vaters. Dicke Tränen rollten über ihre
Wangen. „Bitte, Sigun darf nicht sterben.“
„Quatsch“, fuhr Magrow sie
an. Sein Gesicht färbte sich rot und die Zornesader schwoll an.
Beunruhigt beobachtete
Myana, dass Ryana nicht wie sonst ängstlich zurückwich, sondern ihren Bruder in
den Arm nahm. „Er … soll … hierbleiben“, murmelte sie undeutlich, von
Schluchzern unterbrochen.
Ratsuchend blickte Myana
zu Mahila, die am Fenster stand und gerade erbleichte. Nach einem Blick in das
Gesicht ihres Neffen, eilte sie zu Ryana, beugte sich zu ihr, nahm sie in die
Arme und sagte: „Sigun wird nichts passieren. Dein Vater ist stark, er passt
auf ihn auf.“ Dabei warf sie dem König allerdings einen drohenden Blick zu.
Der wirkte überrascht,
nickte und, anstatt seine Tochter für ihr ungebärdiges Benehmen zu tadeln oder
gar zu schlagen, versprach er: „Du brauchst keine Angst zu haben, ich passe auf
Sigun auf.“
„Lasst ihn in der Mitte
reiten“, bat Mahila. Wieder nickte der König zustimmend. Myana lief ein Schauer
über den Rücken. Was hatte das alles zu bedeuten? Kaum hatte sich ihr Gemahl
aus dem Frauengemach entfernt, flüsterte sie Mahila zu: „Meint Ihr, dass Gefahr
besteht? Besitzt Ryana etwa das zweite Gesicht?“
Mahila, die noch immer
Ryana in ihren Armen wiegte, zuckte mit den Achseln. „Liebe Nichte, es ist
möglich. Schließlich stammen die Seherinnen aus unserem Geschlecht.“
Vor Myana drehte sich
alles, sie schwankte und hielt sich an einem Stuhl fest. Mahila griff nach
ihrem Arm, stützte sie und rief nach einer Magd. Dann brachten die beiden sie
zu Bett.
„Lenkt Ryana bitte ab“,
flüsterte sie noch.
Lächelnd nickte Mahila
und streichelte ihre Hand, dann drehte sie sich zu dem Kind um. „Komm Ryana,
wir sammeln Kräuter. Hole bitte den Korb.“
Kurz darauf hörte Myana
die beiden vor ihrem Fenster singen. Immer leiser wurden die Stimmen, bis sie
schließlich verstummten.
Im Burghof half Magrow seinem Sohn auf das Pony,
bevor er selbst auf seinen Rappen stieg. Mehrere Knechte und einige bewaffnete
Krieger würden sie begleiten. Als sie im Schritt durch das Burgtor ritten,
grübelte Magrow. Er drehte sich zu Sigun, der an seiner Seite ritt, und musterte
ihn. Hätte er seinen Sohn lieber daheimlassen sollen? Besaß Ryana die Gabe der
Familie? Welche Verschwendung. Eine Königstochter konnte unmöglich Seherin
werden. Sie wurde verheiratet, damit die Familie sich enger mit den Nachbarn
verbündete. Aber kein König oder Fürst wünschte sich eine Frau, die in die
Zukunft schauen konnte. Zu sehr fürchteten die Menschen die übersinnlichen
Fähigkeiten der Seherinnen.
Zuerst wirkte Sigun
ängstlich und hielt sich an der Mähne seines Ponys fest. Doch schon bald schien
er die Sorgen seiner Schwester zu vergessen, denn zum Glück lenkte ihn der
junge Tarow ab. „Schau dich genau um. Siehst du hier Felder?“, fragte Tarow.
Erst vor Kurzem war er nach dem Tod seines betagten Vaters in den Beraterkreis
aufgenommen worden. Magrow schätzte ihn sehr, da er gut mit Menschen umgehen
konnte.
Sigun schüttelte den
Kopf. „Da sind nur Schafe.“
„Richtig, die Böden sind
hier schlecht, daher wächst kein Getreide. Nur Schafe und Ziegen können das
magere Gras fressen.“ Dankbar nickte Magrow ihm zu. Durch Tarow wurde der Ritt
zu einer Schulung für seinen Sohn.
Sie kamen vorbei an
einzeln stehenden Hütten von Hirten, die vom Sturm beschädigt worden waren. Der
König versprach den Leuten, dass sie in diesem Jahr keine Abgaben leisten
mussten, damit sie ihre Katen ausbessern konnten. Dann erreichten sie den Wald.
Zu ihrer Seite hin waren die Bäume vom Unwetter niedergemäht worden. Sie
umrundeten die Sturmschneise, bis sie einen freien Pfad fanden, der in den Wald
hineinführte und dem sie folgten. Große Äste lagen auf dem Boden, aber die
Bäume standen noch. Vorsichtig bahnten sie sich einen Weg. Weil der Pfad sehr
schmal war, wurde die Gruppe weit auseinandergezogen. Wie Magrow es versprochen
hatte, ritt Sigun immer zwischen seinen Männern. Plötzlich knackte es. Dann
stürzte ein großer Baum unter lautem Getöse zu Boden, genau in den mittleren
Teil der königlichen Reitertruppe.
„Sigun, mein Sohn“,
schrie er gellend. Voller Angst sprang er vom Pferd, noch bevor seine Männer
reagierten, und wühlte sich mit den Händen durch die Zweige, die auf dem Boden
lagen.
„Majestät, macht Platz!“,
rief ein Krieger.
„Seid vorsichtig!“,
befahl Magrow. Zu seinem Entsetzen bemerkte er, dass er zitterte.
Bedächtig schlugen seine
Männer mit Streitäxten und Schwertern auf die Äste ein. Als Erstes legten sie
tote Pferde frei, dann zwei tote Knechte. Ein Reittier lebte noch. Es schrie
vor Schmerzen, sodass der König selbst es mit dem Schwert von seiner Qual
erlöste. Ein Jüngling war zur Seite geschleudert worden und hatte nur
Schürfwunden und Prellungen davongetragen. Zwei bewaffnete Begleiter konnten
ebenfalls nur tot geborgen werden.
„Hier, hier ist das Pony
des Prinzen“, rief ein junger Krieger. Der König eilte zu ihm. Unter einem
dicken Ast lag der tote Wallach seines Sohnes. Ein Stöhnen kam von dem Kopf des
Tieres. Sigun war in eine kleine Mulde gefallen, was ihm das Leben gerettet
hatte. Aber sein Bein war unter dem Tier eingeklemmt.
„Wir müssen die Äste
entfernen und dann mit unseren Pferden das Pony wegziehen“, schlug Lagun, der
älteste Knecht, vor.
Magrow nickte. „Seid
vorsichtig. Die Äste können zurückschnellen, wenn sie gelöst werden.“
„Ich weiß“, erwiderte
Lagun. „Mein Vater besitzt ein Stück Wald.“
Da Magrow keine Ahnung
von Waldarbeit hatte, überließ er Lagun das Kommando. Umsichtig entfernten die
Männer Zweige und Äste, einen nach dem anderen. Währenddessen hockte er bei
seinem Sohn und sprach ihm Mut zu. „Wir holen dich hier raus. Gleich haben wir
den Baum beiseitegeschafft, dann bringen wir dich nach Hause. Deine Mutter
wartet schon. Sie wird dich pflegen und Darbun wird dir ein Mittel gegen die
Schmerzen geben.“ Als ihm nichts mehr einfiel, was er noch erzählen könnte,
summte er ein paar Lieder.
Schließlich hatten die
Männer das Pony freigelegt und schlangen Seile um dessen Beine. Die Enden der
Seile banden sie an ihre Sättel. Langsam führten sie ihre Pferde, so zogen sie
das tote Tier weg. Sigun, der bisher alles tapfer ertragen hatte, schrie
gellend auf. Doch plötzlich verstummte er. „Beeilt euch!“, befahl Magrow in
herrischem Ton. Vor Schreck zuckten die Männer zusammen. Ihre staubigen
Gesichter waren von der Anstrengung gezeichnet. Zum Glück blieb Tarow besonnen.
„Es dauert nicht mehr lange, Herr“, erklärte er in ruhigem Ton. Dann ließ er
die Männer ihre Arbeit unter Laguns Anweisungen fortsetzen.
Als Sigun endlich befreit
war, beugte Magrow sich über ihn. Sein Sohn wirkte so blass und klein, dass es
ihm das Herz zusammenschnürte. Sigun atmete noch, aber er war ohnmächtig. Sein
Bein stand in einem merkwürdigen Winkel ab. Außerdem blutete er aus mehreren
offenen Wunden.
Tarow nahm seinen Umhang
ab und zerschnitt ihn mit seinem Messer. „Pechwurz eignet sich als Verband“,
sagte Lagun leise. Fragend schaute Tarow zum König. Magrow nickte und Tarow
wies ein paar Männer an, große Blätter einer Pflanze, die am Waldrand wuchs, zu
sammeln. Damit bedeckte Lagun die Wunden, bevor er die Stoffstreifen darauf
presste. Als Letztes schiente er das Bein mit zwei Ästen.
„Ich reite mit ihm
zurück. Zwei Männer begleiten mich zu Pferde, die anderen laufen“, befahl
Magrow.
„Sollten wir nicht lieber
eine Trage bauen?“, fragte Lagun.
„Nein, das dauert zu
lange.“ Er stieg aufs Pferd, ließ sich seinen Sohn hochreichen und hielt ihn
fest im Arm. Dann spornte er sein Tier an. Tarow und einer der Krieger hatten
Mühe, ihm zu folgen.
Kopfschüttelnd schaute
Lagun ihnen hinterher.
Schon den ganzen Vormittag stand Ryana auf der
Burgmauer und spähte in die Ferne. Mahila schmerzte es, wenn sie das Kind
ansah. Wie gut konnte sie ihre Großnichte verstehen.
„Es dauert, bis die
Männer zurückkommen. Du musst noch spinnen und im Gemüsegarten helfen“, sagte
Myana zu ihrer Tochter. Doch Ryana blieb stur, sie wollte den Platz nicht
verlassen. Schließlich brachte Mahila ihr die Spinnwirtel, blieb eine Weile bei
ihr und arbeitete ebenfalls fleißig. Doch dann ging sie, um die Gartenarbeit zu
überwachen. Am frühen Nachmittag kam sie wieder, zusammen mit Myana, um ihre
Großnichte zu holen.
„Sigun ist verletzt. Sie
bringen ihn bald zurück!“, erklärte Ryana. „Ich muss ihn rechtzeitig sehen,
damit Ihr alles vorbereiten könnt.“
Myana wollte sie schon
mit Gewalt wegziehen, doch Mahila erblasste und legte eine zitternde Hand auf
den Arm der Königin. „Das ist eine gute Idee“, meinte sie mit belegter Stimme. „Ich
lasse dir Essen und Trinken bringen.“
Daraufhin nickte Ryana
gnädig. Die Königin gab nach und folgte Mahila. Sobald sie im Burghof standen,
fragte Myana: „Ist meine Tochter normal? Muss ich mir Sorgen machen?“ Mit einem
verkrampften Lächeln schüttelte Mahila den Kopf. „Nein, meine Liebe, Zwillinge
haben häufig eine enge Bindung und spüren, wenn sie in Gefahr sind.“
Myana musterte sie. „Seid
ehrlich zu mir! Kann meine Tochter hellsehen? Ist Sigun wirklich verletzt?“
Sie zuckte mit den
Achseln. Bevor sie antwortete, schaute sie sich um, ob jemand in der Nähe war.
„Es kann sein, diese Gabe liegt in der Familie. Aber bei den engsten Verwandten
der Könige wird es geheim gehalten. Leider haben viele Menschen Angst vor den
übersinnlichen Fähigkeiten der Frauen. Prinzessinnen mit dieser Begabung würden
sich nicht mehr als Ehefrauen für Könige und Fürsten eignen.“
„Oh, ich verstehe und
werde Ryana erklären, dass sie über ihre Visionen nicht sprechen darf, weil die
Menschen Angst davor haben“, erwiderte Myana.
Sie nickte zustimmend.
„Hat sie sich heute mit
ihrer lautstarken Warnung schon verraten?“, fragte Myana besorgt. Sie zuckte,
als würde ihr ein Schauer über ihren Rücken laufen.
„Ich glaube nicht. Bei
Zwillingen kommen derartige Ahnungen häufig vor.“ Einen Augenblick überlegte
sie. „Vorsichtshalber könnten wir erklären, dass Ryana so aufgebracht war, weil
sie selbst mitreiten wollte.“
Hörbar atmete Myana aus.
„Ich werde später in der Gegenwart einer Magd meinem Gemahl gegenüber eine
entsprechende Bemerkung machen.“ Sie griff nach Mahilas Arm. „Was ist mit
Sigun? Ich habe große Angst um ihn.“
„Sicher würde Ryana viel
unruhiger sein, wenn er in Lebensgefahr wäre. Für alle Fälle werde ich Darbun
in die Burg rufen und Verbandszeug vorbereiten.“
„Ist das nicht zu
auffällig? Warum sollten wir das tun? Ich erwarte meinen Gemahl erst am Abend
zurück.“ Mahila rieb ihre Hände, es half ihr beim Nachdenken. „Am besten
erkläre ich, dass Ihr einen Schwächeanfall durch die plötzliche Hitze erlitten
habt. Dann wundert sich niemand über Darbuns Kommen.“
In Myanas Augen blitzte
es. Die Königin hatte verstanden. „Mein Kopf, er platzt gleich. Ich muss mich
hinlegen“, stöhnte sie und griff sich an die Stirn. Mahila stützte sie und rief
einen Knecht zu Hilfe. Gemeinsam schafften sie Myana in ihre Kammer. Dann
befahl Mahila einer Magd, der Königin Essigumschläge anzulegen, und ließ den
Heiler holen.
Sie war so beschäftigt,
die Königin zu versorgen, Darbun in Ryanas Vision einzuweihen und
Verbandsmaterial vorzubereiten, dass sie erst mitbekam, was los war, als es im
Burghof unruhig wurde. Hastig eilte sie hinaus.
Da kam Ryana schon auf
sie zu gerannt. „Tante Mahila, der König kommt. Sein Pferd ist völlig erschöpft
und er hält jemanden im Arm.“
Sie zog ihre Großnichte
an sich. „Beruhige dich. Es wird alles gut. Darbun ist hier, er wird deinen
Bruder behandeln und gesund pflegen.“
„Sicher?“ Jetzt liefen
Ryana Tränen über die Wangen, ängstlich schmiegte sie sich an ihre Tante.
Mit einer Hand wischte
sie die Tränen weg. „Natürlich. Sigun wird noch lange leben. Hab keine Angst.“
In diesem Moment trat
Osun zu ihnen. „Ich habe dem König zwei Knechte mit einem frischen Handpferd
entgegengeschickt“, erklärte er.
„Sehr gut, danke!“ Mahila
schaute ihn prüfend an. Sie konnte erkennen, dass er genauso besorgt war wie
sie selbst, es aber Ryana gegenüber nicht zeigen wollte.
Hand in Hand stiegen
Mahila und Ryana wieder auf die Burgmauer. Die beiden Männer mit dem Handpferd
hatten inzwischen den König erreicht. Magrow wechselte das Pferd und ritt in
höchster Geschwindigkeit weiter. Ein Knecht folgte ihm, der andere nahm das
erschöpfte Tier des Königs und kam langsam hinterher. In weiter Entfernung näherten
sich zwei Reiter.
Kurz bevor der König das
Burgtor erreichte, stieg Mahila mit Ryana hinunter. Sie beugte sich zu ihrer
Großnichte und sagte leise: „Auch wenn du Angst hast und aufgeregt bist, bleibe
bitte ruhig, wie es sich für eine Prinzessin gehört. Dann können sich alle gut
um Sigun kümmern.“
Mit großen Augen schaute
Ryana sie an und nickte. Mahila drückte ihre Hand und schritt weiter über den
Burghof. Inzwischen hatten sich Königin Myana, Darbun, mehrere Mägde und
Knechte im Hof vor dem Hauptgebäude versammelt und warteten.
Endlich preschte der
König heran. Vor dem Eingang des Gebäudes zügelte er sein Pferd und wandte sich
an Darbun. „Sigun wurde durch einen umstürzenden Baum verletzt. Sein Bein ist
gebrochen und er blutet aus mehreren Wunden“, stieß er atemlos hervor. Dann
ließ er seinen Sohn vorsichtig in die Arme zweier Männer gleiten.
„In meine Kammer“, befahl
die Königin.
Die Knechte hasteten ins
Gebäude, gefolgt von Darbun und Myana. Erschöpft und verschwitzt stieg der
König vom Pferd und wollte sich ihnen anschließen. In diesem Moment riss Ryana
sich von Mahilas Hand los und wollte hinterher stürzen. Doch die Stimme ihres
Vaters hielt sie zurück. „Halt, Ryana, du nicht!“
Ryana hörte nicht auf
ihn, aber Magrow war schneller. Mit einem energischen Griff riss er sie zurück,
sodass sie zu Boden fiel. Dann zog er sie wieder hoch und schlug ihr ins
Gesicht.
Mahila konnte nicht
fassen, was sich da gerade abgespielt hatte. Erschrocken sah Ryana ihren Vater
an. Tränen traten in ihre Augen, aber sie weinte nicht, obwohl der Schlag
heftig gewesen sein musste. Deutlich war der Handabdruck auf ihrer Wange
sichtbar.
Nun eilte Mahila zu ihr
und nahm sie in die Arme. Dabei funkelte sie ihren Neffen voller Wut an, sagte
aber nichts. „Ihr habt sicher Durst nach dem langen Ritt“, brachte sie mühsam
hervor, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte. Auf ihren Wink reichte eine Magd
dem König einen Wasserbecher. Zum Glück ließ Magrow sich ablenken. Er nahm den
Becher und leerte ihn in einem Zug, bevor er der Königin folgte. Trotz allem
wollte Ryana ihrem Vater hinterherlaufen, doch sie hielt ihre Großnichte eisern
fest. „Du hattest mir etwas versprochen“, murmelte sie. Ryana senkte den Kopf.
„Komm, wir gehen in das
Frauengemach. Dort hören wir am ehesten, was passiert ist und wie es Sigun
geht“, flüsterte sie.
Ryana folgte ihr brav,
obwohl sie es vor lauter Sorge bestimmt kaum noch aushielt. Oben im
Frauengemach schob Mahila sie in eine dunkle Ecke und kühlte die Wange mit
Wasser.
„Dein Vater hat große
Angst um Sigun. Deshalb war er so unbeherrscht!“, erklärte sie leise, sorgsam
darauf achtend, dass sie nicht in der benachbarten Kammer der Königin gehört
wurde. Von dem großen Frauengemach gingen die Schlafkammern der Frauen ab.
„Ich habe es doch gesagt!
Sigun hätte nicht mitreiten dürfen“, jammerte Ryana. Geräuschvoll zog sie die
Nase hoch und wischte mit einer Hand die Tränen weg.
„Schatz, du besitzt eine
besondere Gabe, aber du musst sehr vorsichtig damit umgehen. Erzähle außer mir,
deiner Mutter und der Seherin niemanden von deinen Ahnungen. Versprich es
mir!“, forderte Mahila.
Überrascht schaute Ryana
sie an. „Warum?“
„Viele halten Visionen
für etwas Böses und könnten dir deshalb wehtun. Bitte, versprich es!“
Da überlegte Ryana einen
Augenblick. Dann nickte sie. Mahila wusste, dass ihre Großnichte sie liebte und
ihr vertraute. Obwohl sie erst so klein war, würde sie sich ihr Leben lang an
dieses Versprechen halten.
„Hast du noch mehr
gesehen?“, fragte sie. „Weißt du, ob Sigun bleibende Verletzungen davonträgt?“
Verständnislos blickte
Ryana sie an.
„Hast du gesehen, ob dein
Bruder wieder gesund wird oder ob er vielleicht humpelt?“, fügte sie hinzu.
Ryana schüttelte den
Kopf. „Nein, ich habe nur gesehen, wie er unter dem Baum lag und das machte mir
Angst.“
„Unser Heiler ist gut. Er
versteht sein Handwerk und wird Sigun wieder gesund machen“, tröstete Mahila,
obwohl sie selbst ihre Zweifel hatte. „Lass uns sticken“, schlug sie
anschließend vor, aus Sorge, Magrow noch mehr zu verärgern, wenn er mitbekam,
dass sie sich unterhielten. Brav nahm Ryana ihre ungeliebte Handarbeit auf und
versuchte, Mahilas Anweisungen umzusetzen. Aber auch Mahila war unkonzentriert.
Zu spät bemerkte sie, wie unordentlich Ryanas Arbeit aussah. Seufzend trennte
sie die Stiche wieder auf und stickte schnell etwas weiter. Ryana sah sie
überrascht an. Sie zwinkerte ihr zu und legte einen Finger auf ihre Lippen.
Nach einer Weile trat
Magrow aus Myanas Kammer. Mahila warf ihm einen fragenden Blick zu, aber er
beachtete sie nicht, sondern verließ die Räume. Sobald er die Treppe hinunter
gegangen war, eilten sie und Ryana zur Königin. Myana saß tränenüberströmt auf
einem Stuhl neben Siguns Bett. Darbun hatte sich in eine Zimmerecke
zurückgezogen.
„Dürfen wir nähertreten?“,
fragte Mahila leise.
Myana nickte. Ryana
schlüpfte unter ihrem Arm hindurch und schlich zum Bett ihres Bruders.
„Sigun, du musst gesund
werden. Du kannst mich doch nicht allein lassen“, flüsterte sie und strich
ihrem Bruder über Stirn und Wangen. Mahila holte ihr einen Hocker. Sie selbst
setzte sich an das Fußende von Siguns Bett.
„Wie geht es ihm?“,
fragte Mahila die Königin. Aber die war so aufgelöst, dass sie nicht in der
Lage war, zu sprechen. Fragend schaute Mahila zu Darbun. Als er nickte, ging sie
zu ihm.
„Das Bein ist gebrochen.
Ich habe Splitter entfernt, es gerichtet und geschient. Mit Hilfe der Sterne
wird es gut heilen, der Prinz ist noch jung. Die Wunden habe ich genäht und mit
Kräutern behandelt, damit sie sich nicht entzünden. Zum Glück hat der
Reitknecht, der den König begleitete, Erfahrung mit Verletzungen. Er hat den
Prinzen gut versorgt. Trotzdem wird es eine Weile dauern, bis die Wunden
verheilen und die Kopfschmerzen verschwinden. So lange muss er ruhig im Bett
liegen.“
Erleichtert atmete sie
auf. „Seine Zwillingsschwester tut ihm gut“, fuhr der Heiler fort. „Seit sie
den Raum betreten hat, ist er viel ruhiger.“
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