Donnerstag, 26. Oktober 2023

[Schnipseltime] Ryanas Weg - Die Macht der Sterne von Aileen O'Grian

 


4. Kapitel

 

„Ich schaue im Osten nach dem Rechten. Hoffentlich sind die Schäden des Sturms nicht so schlimm“, erklärte Magrow seiner Frau. Myana freute sich über die Mitteilung, denn sie wusste, wie peinlich es ihm war, ihr ständig Bescheid zu geben. Trotzdem nahm er aus Liebe Rücksicht auf ihre Ängstlichkeit. „Ich nehme Sigun mit“, setzte er nach. „Der Weg ist nicht weit. Das schafft mein Sohn.“

Da blickte sie von ihrer Näharbeit auf, runzelte ihre hübsche Stirn, sagte aber nichts. Ihr Gemahl würde sich nicht davon abbringen lassen. Sie würde ihre Kräfte lieber für wirklich wichtige Auseinandersetzungen aufsparen. Doch sie hatte nicht mit der sechsjährigen Ryana gerechnet. „Nein, Majestät, bitte nehmt Sigun nicht mit“, rief ihre Tochter und sah ganz verzweifelt aus. Dann bettelte das Kind wie schon seit langem nicht mehr. Nein, fiel Myana sofort ein, eigentlich hatte Ryana noch nie so energisch gebettelt.

„Ich habe geträumt, dass ein Baum umstürzt und mein Bruder mit dem Pferd darunter liegt. Bitte, lasst ihn hier.“ Ryana zupfte am Umhang ihres Vaters. Dicke Tränen rollten über ihre Wangen. „Bitte, Sigun darf nicht sterben.“

„Quatsch“, fuhr Magrow sie an. Sein Gesicht färbte sich rot und die Zornesader schwoll an.

Beunruhigt beobachtete Myana, dass Ryana nicht wie sonst ängstlich zurückwich, sondern ihren Bruder in den Arm nahm. „Er … soll … hierbleiben“, murmelte sie undeutlich, von Schluchzern unterbrochen.

Ratsuchend blickte Myana zu Mahila, die am Fenster stand und gerade erbleichte. Nach einem Blick in das Gesicht ihres Neffen, eilte sie zu Ryana, beugte sich zu ihr, nahm sie in die Arme und sagte: „Sigun wird nichts passieren. Dein Vater ist stark, er passt auf ihn auf.“ Dabei warf sie dem König allerdings einen drohenden Blick zu.

Der wirkte überrascht, nickte und, anstatt seine Tochter für ihr ungebärdiges Benehmen zu tadeln oder gar zu schlagen, versprach er: „Du brauchst keine Angst zu haben, ich passe auf Sigun auf.“

„Lasst ihn in der Mitte reiten“, bat Mahila. Wieder nickte der König zustimmend. Myana lief ein Schauer über den Rücken. Was hatte das alles zu bedeuten? Kaum hatte sich ihr Gemahl aus dem Frauengemach entfernt, flüsterte sie Mahila zu: „Meint Ihr, dass Gefahr besteht? Besitzt Ryana etwa das zweite Gesicht?“

Mahila, die noch immer Ryana in ihren Armen wiegte, zuckte mit den Achseln. „Liebe Nichte, es ist möglich. Schließlich stammen die Seherinnen aus unserem Geschlecht.“

Vor Myana drehte sich alles, sie schwankte und hielt sich an einem Stuhl fest. Mahila griff nach ihrem Arm, stützte sie und rief nach einer Magd. Dann brachten die beiden sie zu Bett.

„Lenkt Ryana bitte ab“, flüsterte sie noch.

Lächelnd nickte Mahila und streichelte ihre Hand, dann drehte sie sich zu dem Kind um. „Komm Ryana, wir sammeln Kräuter. Hole bitte den Korb.“

Kurz darauf hörte Myana die beiden vor ihrem Fenster singen. Immer leiser wurden die Stimmen, bis sie schließlich verstummten.

 

Im Burghof half Magrow seinem Sohn auf das Pony, bevor er selbst auf seinen Rappen stieg. Mehrere Knechte und einige bewaffnete Krieger würden sie begleiten. Als sie im Schritt durch das Burgtor ritten, grübelte Magrow. Er drehte sich zu Sigun, der an seiner Seite ritt, und musterte ihn. Hätte er seinen Sohn lieber daheimlassen sollen? Besaß Ryana die Gabe der Familie? Welche Verschwendung. Eine Königstochter konnte unmöglich Seherin werden. Sie wurde verheiratet, damit die Familie sich enger mit den Nachbarn verbündete. Aber kein König oder Fürst wünschte sich eine Frau, die in die Zukunft schauen konnte. Zu sehr fürchteten die Menschen die übersinnlichen Fähigkeiten der Seherinnen.

Zuerst wirkte Sigun ängstlich und hielt sich an der Mähne seines Ponys fest. Doch schon bald schien er die Sorgen seiner Schwester zu vergessen, denn zum Glück lenkte ihn der junge Tarow ab. „Schau dich genau um. Siehst du hier Felder?“, fragte Tarow. Erst vor Kurzem war er nach dem Tod seines betagten Vaters in den Beraterkreis aufgenommen worden. Magrow schätzte ihn sehr, da er gut mit Menschen umgehen konnte.

Sigun schüttelte den Kopf. „Da sind nur Schafe.“

„Richtig, die Böden sind hier schlecht, daher wächst kein Getreide. Nur Schafe und Ziegen können das magere Gras fressen.“ Dankbar nickte Magrow ihm zu. Durch Tarow wurde der Ritt zu einer Schulung für seinen Sohn.

Sie kamen vorbei an einzeln stehenden Hütten von Hirten, die vom Sturm beschädigt worden waren. Der König versprach den Leuten, dass sie in diesem Jahr keine Abgaben leisten mussten, damit sie ihre Katen ausbessern konnten. Dann erreichten sie den Wald. Zu ihrer Seite hin waren die Bäume vom Unwetter niedergemäht worden. Sie umrundeten die Sturmschneise, bis sie einen freien Pfad fanden, der in den Wald hineinführte und dem sie folgten. Große Äste lagen auf dem Boden, aber die Bäume standen noch. Vorsichtig bahnten sie sich einen Weg. Weil der Pfad sehr schmal war, wurde die Gruppe weit auseinandergezogen. Wie Magrow es versprochen hatte, ritt Sigun immer zwischen seinen Männern. Plötzlich knackte es. Dann stürzte ein großer Baum unter lautem Getöse zu Boden, genau in den mittleren Teil der königlichen Reitertruppe.

„Sigun, mein Sohn“, schrie er gellend. Voller Angst sprang er vom Pferd, noch bevor seine Männer reagierten, und wühlte sich mit den Händen durch die Zweige, die auf dem Boden lagen.

„Majestät, macht Platz!“, rief ein Krieger.

„Seid vorsichtig!“, befahl Magrow. Zu seinem Entsetzen bemerkte er, dass er zitterte.

Bedächtig schlugen seine Männer mit Streitäxten und Schwertern auf die Äste ein. Als Erstes legten sie tote Pferde frei, dann zwei tote Knechte. Ein Reittier lebte noch. Es schrie vor Schmerzen, sodass der König selbst es mit dem Schwert von seiner Qual erlöste. Ein Jüngling war zur Seite geschleudert worden und hatte nur Schürfwunden und Prellungen davongetragen. Zwei bewaffnete Begleiter konnten ebenfalls nur tot geborgen werden.

„Hier, hier ist das Pony des Prinzen“, rief ein junger Krieger. Der König eilte zu ihm. Unter einem dicken Ast lag der tote Wallach seines Sohnes. Ein Stöhnen kam von dem Kopf des Tieres. Sigun war in eine kleine Mulde gefallen, was ihm das Leben gerettet hatte. Aber sein Bein war unter dem Tier eingeklemmt.

„Wir müssen die Äste entfernen und dann mit unseren Pferden das Pony wegziehen“, schlug Lagun, der älteste Knecht, vor.

Magrow nickte. „Seid vorsichtig. Die Äste können zurückschnellen, wenn sie gelöst werden.“

„Ich weiß“, erwiderte Lagun. „Mein Vater besitzt ein Stück Wald.“

Da Magrow keine Ahnung von Waldarbeit hatte, überließ er Lagun das Kommando. Umsichtig entfernten die Männer Zweige und Äste, einen nach dem anderen. Währenddessen hockte er bei seinem Sohn und sprach ihm Mut zu. „Wir holen dich hier raus. Gleich haben wir den Baum beiseitegeschafft, dann bringen wir dich nach Hause. Deine Mutter wartet schon. Sie wird dich pflegen und Darbun wird dir ein Mittel gegen die Schmerzen geben.“ Als ihm nichts mehr einfiel, was er noch erzählen könnte, summte er ein paar Lieder.

Schließlich hatten die Männer das Pony freigelegt und schlangen Seile um dessen Beine. Die Enden der Seile banden sie an ihre Sättel. Langsam führten sie ihre Pferde, so zogen sie das tote Tier weg. Sigun, der bisher alles tapfer ertragen hatte, schrie gellend auf. Doch plötzlich verstummte er. „Beeilt euch!“, befahl Magrow in herrischem Ton. Vor Schreck zuckten die Männer zusammen. Ihre staubigen Gesichter waren von der Anstrengung gezeichnet. Zum Glück blieb Tarow besonnen. „Es dauert nicht mehr lange, Herr“, erklärte er in ruhigem Ton. Dann ließ er die Männer ihre Arbeit unter Laguns Anweisungen fortsetzen.

Als Sigun endlich befreit war, beugte Magrow sich über ihn. Sein Sohn wirkte so blass und klein, dass es ihm das Herz zusammenschnürte. Sigun atmete noch, aber er war ohnmächtig. Sein Bein stand in einem merkwürdigen Winkel ab. Außerdem blutete er aus mehreren offenen Wunden.

Tarow nahm seinen Umhang ab und zerschnitt ihn mit seinem Messer. „Pechwurz eignet sich als Verband“, sagte Lagun leise. Fragend schaute Tarow zum König. Magrow nickte und Tarow wies ein paar Männer an, große Blätter einer Pflanze, die am Waldrand wuchs, zu sammeln. Damit bedeckte Lagun die Wunden, bevor er die Stoffstreifen darauf presste. Als Letztes schiente er das Bein mit zwei Ästen.

„Ich reite mit ihm zurück. Zwei Männer begleiten mich zu Pferde, die anderen laufen“, befahl Magrow.

„Sollten wir nicht lieber eine Trage bauen?“, fragte Lagun.

„Nein, das dauert zu lange.“ Er stieg aufs Pferd, ließ sich seinen Sohn hochreichen und hielt ihn fest im Arm. Dann spornte er sein Tier an. Tarow und einer der Krieger hatten Mühe, ihm zu folgen.

Kopfschüttelnd schaute Lagun ihnen hinterher.

 

Schon den ganzen Vormittag stand Ryana auf der Burgmauer und spähte in die Ferne. Mahila schmerzte es, wenn sie das Kind ansah. Wie gut konnte sie ihre Großnichte verstehen.

„Es dauert, bis die Männer zurückkommen. Du musst noch spinnen und im Gemüsegarten helfen“, sagte Myana zu ihrer Tochter. Doch Ryana blieb stur, sie wollte den Platz nicht verlassen. Schließlich brachte Mahila ihr die Spinnwirtel, blieb eine Weile bei ihr und arbeitete ebenfalls fleißig. Doch dann ging sie, um die Gartenarbeit zu überwachen. Am frühen Nachmittag kam sie wieder, zusammen mit Myana, um ihre Großnichte zu holen.

„Sigun ist verletzt. Sie bringen ihn bald zurück!“, erklärte Ryana. „Ich muss ihn rechtzeitig sehen, damit Ihr alles vorbereiten könnt.“

Myana wollte sie schon mit Gewalt wegziehen, doch Mahila erblasste und legte eine zitternde Hand auf den Arm der Königin. „Das ist eine gute Idee“, meinte sie mit belegter Stimme. „Ich lasse dir Essen und Trinken bringen.“

Daraufhin nickte Ryana gnädig. Die Königin gab nach und folgte Mahila. Sobald sie im Burghof standen, fragte Myana: „Ist meine Tochter normal? Muss ich mir Sorgen machen?“ Mit einem verkrampften Lächeln schüttelte Mahila den Kopf. „Nein, meine Liebe, Zwillinge haben häufig eine enge Bindung und spüren, wenn sie in Gefahr sind.“

Myana musterte sie. „Seid ehrlich zu mir! Kann meine Tochter hellsehen? Ist Sigun wirklich verletzt?“

Sie zuckte mit den Achseln. Bevor sie antwortete, schaute sie sich um, ob jemand in der Nähe war. „Es kann sein, diese Gabe liegt in der Familie. Aber bei den engsten Verwandten der Könige wird es geheim gehalten. Leider haben viele Menschen Angst vor den übersinnlichen Fähigkeiten der Frauen. Prinzessinnen mit dieser Begabung würden sich nicht mehr als Ehefrauen für Könige und Fürsten eignen.“

„Oh, ich verstehe und werde Ryana erklären, dass sie über ihre Visionen nicht sprechen darf, weil die Menschen Angst davor haben“, erwiderte Myana.

Sie nickte zustimmend.

„Hat sie sich heute mit ihrer lautstarken Warnung schon verraten?“, fragte Myana besorgt. Sie zuckte, als würde ihr ein Schauer über ihren Rücken laufen.

„Ich glaube nicht. Bei Zwillingen kommen derartige Ahnungen häufig vor.“ Einen Augenblick überlegte sie. „Vorsichtshalber könnten wir erklären, dass Ryana so aufgebracht war, weil sie selbst mitreiten wollte.“

Hörbar atmete Myana aus. „Ich werde später in der Gegenwart einer Magd meinem Gemahl gegenüber eine entsprechende Bemerkung machen.“ Sie griff nach Mahilas Arm. „Was ist mit Sigun? Ich habe große Angst um ihn.“

„Sicher würde Ryana viel unruhiger sein, wenn er in Lebensgefahr wäre. Für alle Fälle werde ich Darbun in die Burg rufen und Verbandszeug vorbereiten.“

„Ist das nicht zu auffällig? Warum sollten wir das tun? Ich erwarte meinen Gemahl erst am Abend zurück.“ Mahila rieb ihre Hände, es half ihr beim Nachdenken. „Am besten erkläre ich, dass Ihr einen Schwächeanfall durch die plötzliche Hitze erlitten habt. Dann wundert sich niemand über Darbuns Kommen.“

In Myanas Augen blitzte es. Die Königin hatte verstanden. „Mein Kopf, er platzt gleich. Ich muss mich hinlegen“, stöhnte sie und griff sich an die Stirn. Mahila stützte sie und rief einen Knecht zu Hilfe. Gemeinsam schafften sie Myana in ihre Kammer. Dann befahl Mahila einer Magd, der Königin Essigumschläge anzulegen, und ließ den Heiler holen.

Sie war so beschäftigt, die Königin zu versorgen, Darbun in Ryanas Vision einzuweihen und Verbandsmaterial vorzubereiten, dass sie erst mitbekam, was los war, als es im Burghof unruhig wurde. Hastig eilte sie hinaus.

Da kam Ryana schon auf sie zu gerannt. „Tante Mahila, der König kommt. Sein Pferd ist völlig erschöpft und er hält jemanden im Arm.“

Sie zog ihre Großnichte an sich. „Beruhige dich. Es wird alles gut. Darbun ist hier, er wird deinen Bruder behandeln und gesund pflegen.“

„Sicher?“ Jetzt liefen Ryana Tränen über die Wangen, ängstlich schmiegte sie sich an ihre Tante.

Mit einer Hand wischte sie die Tränen weg. „Natürlich. Sigun wird noch lange leben. Hab keine Angst.“

In diesem Moment trat Osun zu ihnen. „Ich habe dem König zwei Knechte mit einem frischen Handpferd entgegengeschickt“, erklärte er.

„Sehr gut, danke!“ Mahila schaute ihn prüfend an. Sie konnte erkennen, dass er genauso besorgt war wie sie selbst, es aber Ryana gegenüber nicht zeigen wollte.

Hand in Hand stiegen Mahila und Ryana wieder auf die Burgmauer. Die beiden Männer mit dem Handpferd hatten inzwischen den König erreicht. Magrow wechselte das Pferd und ritt in höchster Geschwindigkeit weiter. Ein Knecht folgte ihm, der andere nahm das erschöpfte Tier des Königs und kam langsam hinterher. In weiter Entfernung näherten sich zwei Reiter.

Kurz bevor der König das Burgtor erreichte, stieg Mahila mit Ryana hinunter. Sie beugte sich zu ihrer Großnichte und sagte leise: „Auch wenn du Angst hast und aufgeregt bist, bleibe bitte ruhig, wie es sich für eine Prinzessin gehört. Dann können sich alle gut um Sigun kümmern.“

Mit großen Augen schaute Ryana sie an und nickte. Mahila drückte ihre Hand und schritt weiter über den Burghof. Inzwischen hatten sich Königin Myana, Darbun, mehrere Mägde und Knechte im Hof vor dem Hauptgebäude versammelt und warteten.

Endlich preschte der König heran. Vor dem Eingang des Gebäudes zügelte er sein Pferd und wandte sich an Darbun. „Sigun wurde durch einen umstürzenden Baum verletzt. Sein Bein ist gebrochen und er blutet aus mehreren Wunden“, stieß er atemlos hervor. Dann ließ er seinen Sohn vorsichtig in die Arme zweier Männer gleiten.

„In meine Kammer“, befahl die Königin.

Die Knechte hasteten ins Gebäude, gefolgt von Darbun und Myana. Erschöpft und verschwitzt stieg der König vom Pferd und wollte sich ihnen anschließen. In diesem Moment riss Ryana sich von Mahilas Hand los und wollte hinterher stürzen. Doch die Stimme ihres Vaters hielt sie zurück. „Halt, Ryana, du nicht!“

Ryana hörte nicht auf ihn, aber Magrow war schneller. Mit einem energischen Griff riss er sie zurück, sodass sie zu Boden fiel. Dann zog er sie wieder hoch und schlug ihr ins Gesicht.

Mahila konnte nicht fassen, was sich da gerade abgespielt hatte. Erschrocken sah Ryana ihren Vater an. Tränen traten in ihre Augen, aber sie weinte nicht, obwohl der Schlag heftig gewesen sein musste. Deutlich war der Handabdruck auf ihrer Wange sichtbar.

Nun eilte Mahila zu ihr und nahm sie in die Arme. Dabei funkelte sie ihren Neffen voller Wut an, sagte aber nichts. „Ihr habt sicher Durst nach dem langen Ritt“, brachte sie mühsam hervor, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte. Auf ihren Wink reichte eine Magd dem König einen Wasserbecher. Zum Glück ließ Magrow sich ablenken. Er nahm den Becher und leerte ihn in einem Zug, bevor er der Königin folgte. Trotz allem wollte Ryana ihrem Vater hinterherlaufen, doch sie hielt ihre Großnichte eisern fest. „Du hattest mir etwas versprochen“, murmelte sie. Ryana senkte den Kopf.

„Komm, wir gehen in das Frauengemach. Dort hören wir am ehesten, was passiert ist und wie es Sigun geht“, flüsterte sie.

Ryana folgte ihr brav, obwohl sie es vor lauter Sorge bestimmt kaum noch aushielt. Oben im Frauengemach schob Mahila sie in eine dunkle Ecke und kühlte die Wange mit Wasser.

„Dein Vater hat große Angst um Sigun. Deshalb war er so unbeherrscht!“, erklärte sie leise, sorgsam darauf achtend, dass sie nicht in der benachbarten Kammer der Königin gehört wurde. Von dem großen Frauengemach gingen die Schlafkammern der Frauen ab.

„Ich habe es doch gesagt! Sigun hätte nicht mitreiten dürfen“, jammerte Ryana. Geräuschvoll zog sie die Nase hoch und wischte mit einer Hand die Tränen weg.

„Schatz, du besitzt eine besondere Gabe, aber du musst sehr vorsichtig damit umgehen. Erzähle außer mir, deiner Mutter und der Seherin niemanden von deinen Ahnungen. Versprich es mir!“, forderte Mahila.

Überrascht schaute Ryana sie an. „Warum?“

„Viele halten Visionen für etwas Böses und könnten dir deshalb wehtun. Bitte, versprich es!“

Da überlegte Ryana einen Augenblick. Dann nickte sie. Mahila wusste, dass ihre Großnichte sie liebte und ihr vertraute. Obwohl sie erst so klein war, würde sie sich ihr Leben lang an dieses Versprechen halten.

„Hast du noch mehr gesehen?“, fragte sie. „Weißt du, ob Sigun bleibende Verletzungen davonträgt?“

Verständnislos blickte Ryana sie an.

„Hast du gesehen, ob dein Bruder wieder gesund wird oder ob er vielleicht humpelt?“, fügte sie hinzu.

Ryana schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe nur gesehen, wie er unter dem Baum lag und das machte mir Angst.“

„Unser Heiler ist gut. Er versteht sein Handwerk und wird Sigun wieder gesund machen“, tröstete Mahila, obwohl sie selbst ihre Zweifel hatte. „Lass uns sticken“, schlug sie anschließend vor, aus Sorge, Magrow noch mehr zu verärgern, wenn er mitbekam, dass sie sich unterhielten. Brav nahm Ryana ihre ungeliebte Handarbeit auf und versuchte, Mahilas Anweisungen umzusetzen. Aber auch Mahila war unkonzentriert. Zu spät bemerkte sie, wie unordentlich Ryanas Arbeit aussah. Seufzend trennte sie die Stiche wieder auf und stickte schnell etwas weiter. Ryana sah sie überrascht an. Sie zwinkerte ihr zu und legte einen Finger auf ihre Lippen.

Nach einer Weile trat Magrow aus Myanas Kammer. Mahila warf ihm einen fragenden Blick zu, aber er beachtete sie nicht, sondern verließ die Räume. Sobald er die Treppe hinunter gegangen war, eilten sie und Ryana zur Königin. Myana saß tränenüberströmt auf einem Stuhl neben Siguns Bett. Darbun hatte sich in eine Zimmerecke zurückgezogen.

„Dürfen wir nähertreten?“, fragte Mahila leise.

Myana nickte. Ryana schlüpfte unter ihrem Arm hindurch und schlich zum Bett ihres Bruders.

„Sigun, du musst gesund werden. Du kannst mich doch nicht allein lassen“, flüsterte sie und strich ihrem Bruder über Stirn und Wangen. Mahila holte ihr einen Hocker. Sie selbst setzte sich an das Fußende von Siguns Bett.

„Wie geht es ihm?“, fragte Mahila die Königin. Aber die war so aufgelöst, dass sie nicht in der Lage war, zu sprechen. Fragend schaute Mahila zu Darbun. Als er nickte, ging sie zu ihm.

„Das Bein ist gebrochen. Ich habe Splitter entfernt, es gerichtet und geschient. Mit Hilfe der Sterne wird es gut heilen, der Prinz ist noch jung. Die Wunden habe ich genäht und mit Kräutern behandelt, damit sie sich nicht entzünden. Zum Glück hat der Reitknecht, der den König begleitete, Erfahrung mit Verletzungen. Er hat den Prinzen gut versorgt. Trotzdem wird es eine Weile dauern, bis die Wunden verheilen und die Kopfschmerzen verschwinden. So lange muss er ruhig im Bett liegen.“

Erleichtert atmete sie auf. „Seine Zwillingsschwester tut ihm gut“, fuhr der Heiler fort. „Seit sie den Raum betreten hat, ist er viel ruhiger.“

  

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