Dienstag, 3. Oktober 2023

[Schnipseltime] Mittsommerlegende - Plötzlich Wolf von Sabine Reifenstahl

 

Sasha schwamm heran und streckte Nick die Hand hin. Als er das schelmische Grinsen bemerkte, war es zu spät. Mit einem Ruck wurde er ins Wasser befördert. Er schnappte nach Luft, Kälte brannte auf der Haut.

Lachend trat Sasha auf der Stelle. »Es ist nur am Anfang kalt.« Selbstsicher kraulte er zur Mitte des Sees, wo die Sonne Lichtreflexe auf die Wasseroberfläche zauberte. Tropfen rannen von seinen Wangen, hingen wie Perlen in seinem Haar. Der kräftige Nacken, die muskulösen Arme, der feste Hintern. Natürlich war Nick schon vorher aufgefallen, wie gut die Zwillinge aussahen. Doch zum ersten Mal nahm er diese Tatsache bewusst wahr.

In den tiefblauen Augen blitzte der Schalk. Mit wenigen Zügen war Sasha da, legte Nick die Hände auf die Schultern und zog ihn mit sich in die Tiefe.

Als sie prustend wieder auftauchten, schwamm Sasha zum Ufer und setzte sich ein Stück entfernt auf einen sonnenbeschienenen Flecken Gras. Den Blick auf einen Punkt am gegenüberliegenden Seeufer gerichtet, sagte er: »Dort sind Menschen. Wir müssen warten, bis sie weg sind.«

Nick folgte ihm und kletterte umständlich aus dem Wasser. Schwerfällig ließ er sich neben seinem Freund nieder und zog die Knie an. »Na wunderbar. Und unsere Klamotten liegen irgendwo unter einem Busch.«

»Nur nicht so genierlich. Du musst dich nicht verstecken«, versetzte Sasha und drehte sich auf den Bauch. Er wirkte entspannt, doch unter den halb geschlossenen Lidern musterte er die Umgebung aufmerksam. »Das war verdammt unvorsichtig von mir. Die Gesetze verlangen Geheimhaltung, am helllichten Tag die Gestalt zu ändern, ist damit nicht gemeint.«

»Glaubst du, sie haben was gesehen?«

»Vermutlich wären sie dann schreiend weggerannt. Ich denke, für sie sind wir nur zwei Männer, die nackt baden und vielleicht noch etwas anderes vorhaben. Hoffentlich bleiben sie weg.«

Das hoffte Nick gleichfalls. Angespannt beobachtete er, wie eine Frau den rechten Fuß ins Wasser tauchte, quietschte und einen Rückzieher machte.

Innerlich rollte er mit den Augen und betrachtete Sashas Kehrseite. Die Grübchen über den Pobacken verlockten, sie zu küssen. Was würde wohl geschehen, wenn Nick über den feinen Flaum auf der Wirbelsäule strich? Seine Finger entwickelten ein Eigenleben. Erschrocken riss er sie zurück und fragte sich, was mit ihm nicht stimmte. Obwohl die Trennung von Jo nur Tage zurücklag, saß er hier und gierte danach, diesen Mann zu berühren, malte sich aus …

»Du denkst schon wieder an ihn!«, unterbrach Sasha die Gedanken. »Lass die Vergangenheit ruhen. Wölfe leben in der Gegenwart, sie trauern verpassten Chancen nicht nach. Das Hier und Heute ist, was zählt. Versuch, dich daran zu gewöhnen.«

»Ich bin eben ein Mensch. Das lässt sich nicht einfach abstellen.« Nick betrachtete seine rechte Hand und drehte sie. »Ich dachte, die Verwandlung würde wehtun. In Wirklichkeit habe ich nichts davon bemerkt.«

»Du solltest nicht alles glauben, was du in Horrorschinken siehst. Wenn es so geschähe, wären wir längst ausgestorben. Du hattest es doch bei mir erlebt und gesehen, dass das nichts mit brechenden Knochen und aufplatzender Haut wie in den Filmen zu tun hat.«

»Damals ging alles viel zu schnell. Was denkst du, woher diese Vorstellung kommt.«

»Was weiß denn ich? Weil sie gruseliger ist als die Wirklichkeit.«

»Habt ihr keine Angst vor Entdeckung? Immerhin wissen Menschen von euch.«

Ein belustigtes Schnauben folgte. »Sie wissen nichts von unserer Existenz, denn wir sind keine Werwölfe. Die Menschen lieben Spukgeschichten, sie erzählen sich von Vampiren, hybriden Raubtieren und Zombies, weil es ihnen einen wohligen Schauer über den Rücken jagt. Das sind die unausgegorenen Ausdünstungen irgendwelcher Fantasten. Und dann diese romantischen Geschichten von Alphas und Omegas, bei denen sich mir die Krallen hochrollen. Was sollte ein Anführer mit einem Schwächling anfangen? Außerdem …«

»Ja?«

»Muss man eben mögen. Ich finde nichts reizvoll an jemanden, der mir unterlegen ist.«

Nick dachte über die Worte nach. Ihn hatte Jos zierlicher Körperbau angezogen, er liebte es, wie er sich an ihn schmiegte, wenn sie nebeneinander gingen, und konnte ihn mühelos hochheben. Jo schien wie für ihn geschaffen.

Ein leises Knurren riss Nick aus den Erinnerungen. Blaue Augen ruhten auf ihm, ein Blick, der das Herz zu seltsamen Sprüngen animierte. Mit tiefen Atemzügen beruhigte er den galoppierenden Puls und schüttelte verwirrt den Kopf. Was geschah da zwischen ihnen?


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