Mittwoch, 20. September 2023

[Schnipseltime] Die Rächer des Lichts von Christian Berner

 

 

ROVIN

Die Bäume der Hartholzaue unter ihm waren allesamt sehr alt. Majestätisch anmutende Eschen, Eichen und Ulmen reckten ihre gewaltigen Kronen 40 Schritt und mehr hoch in den kühlen Herbsthimmel. Der Waldboden wurde von den mäandernden Altarmen des Noatheas durchzogen, die im Schein der Nachmittagssonne zu ihm herauf glitzerten.

Mit seinen Raubvogelaugen konnte er selbst kleine Details, wie auf der spiegelnden Wasseroberfläche schwimmende Blätter, gut erkennen. Wie immer, wenn er die Welt von oben betrachtete, erfüllte ein Hochgefühl seine Brust. Fast war er versucht, seinen Plan fallen zu lassen, und, wie so oft in den letzten sieben Tagen seit jener denkwürdigsten aller Nächte seines bisherigen Lebens, einfach nur diesen Anblick zu genießen.

Doch da entdeckte sein scharfes Auge, wonach er gesucht hatte: An einer über und über mit den blauen Sternen der Sinithati-Blume überwucherten Uferstelle lagen zwei Elfenmädchen und ließen sich ihre nackte, vom Schwimmen nasse Haut von der Sonne trocknen.

Lande dort in der Ulme, Eanesja, genau neben den beiden wunderschönen Geschöpfen!

Mehrere Augenblicke lang verlor er die Orientierung, als der Habicht sich wie ein Stein vom Himmel fallen ließ. Der Horizont kippte dabei urplötzlich weg und die Krone des mächtigen Baumes schoss auf ihn zu. Halb vor Entsetzen, halb vor Ekstase stieß er einen langgezogenen Schrei aus, der schnell lauter wurde und einige Herzschläge später sein panikerfülltes Maximum erreichte, als er in das Geäst eintauchte und in halsbrecherischem Tempo durch die Zweige jagte. Der Flug durch die Baumkrone war so schnell vorbei, wie er begonnen hatte, und ehe er sich’s versah, durfte er Eanesjas zielsicheren Griff um den starken Ast bewundern, den sein Freund sich für die Landung auserkoren hatte.

Mit einer ebenso hektischen Bewegung ruckte der Kopf des Raubvogels herum und die Mädchen erschienen von Neuem in seinem Gesichtsfeld, diesmal allerdings deutlich näher. Das Bild, das er empfing, war jedoch verschwommen und unscharf, und er selbst wurde von starkem Schwindel und Übelkeit geplagt. Er schluckte mehrmals, um den galleartigen Geschmack aus seinem Mund zu vertreiben und fokussierte sich erneut auf die Verbindung zu seinem Tiergefährten. Das gelang ihm mittlerweile recht gut. Sein Blick klärte sich überraschend schnell, so dass er wieder scharf sehen konnte.

Zu seinem allerhöchsten Verdruss hatten die Mädchen sich beide in eine sitzende Stellung aufgerichtet, die Arme schützend vor die Brust gelegt und blickten überrascht und irritiert zu ihm herüber.

Verdammt, Eanesja, musst du immer so viel Wind machen? Jetzt haben sie dich entdeckt!

Zwar konnte er nicht hören, was die beiden miteinander redeten, aber die Art und Weise, wie sich ihre Gesichter verfinsterten, sprach Bände.

Oh nein, sie haben dich erkannt! Zeit zu verschwinden! Komm, zurück zu mir, mein Freund.

Rovin öffnete seine eigenen Augen, erhob sich langsam von seiner sitzenden Stellung und seufzte.

Tja, ich vermute, das wird einigen Ärger geben.

Er richtete sich vollends auf, und einen Augenblick lang empfand er freudige Erleichterung darüber, dass er nach der Rückkehr seines Geistes in seinen eigenen Körper überhaupt nicht wackelig auf den Beinen war, wie noch vor zwei Tagen.

Sich mit seinem Tiergefährten Eanesja zu verbinden war etwa so, wie auf einem Baumsalamander zu reiten. Der Turmalinhabicht behielt die Kontrolle über seinen Körper, Rovin war lediglich ein Gast, der durch die Augen des erhabenen Vogels blicken und Aufforderungen übermitteln konnte. Ob dieser allerdings dazu bereit war, seinen Anweisungen Folge zu leisten, war längst nicht gesichert. Manchmal machte er einfach, was er für besser oder erstrebenswerter hielt, ganz so wie die Baumsalamander, die ihre Reiter ebenfalls nicht immer dorthin brachten, wo diese gerade hinwollten, und die selbst in dem günstigen Fall, dass sie sich der Zielvorstellung ihrer Begleiter fügten, immer ihren eigenen Weg wählten.

Dennoch machte er Fortschritte. Eanesja verstand immer besser, was er ihm sagen wollte, obwohl er ihm alles mit Hilfe von Bildern übermitteln musste. Wollte er zum Beispiel, dass er leise und vorsichtig sein solle, schickte er ihm das Bild einer Eule, die lautlos auf einen Hasen zuflog. Das war vor allem anfangs enorm schwierig für ihn gewesen, weil er zunächst gar nicht schnell genug Ideen für geeignete Bilder entwickeln konnte. Mittlerweile aber gelang ihm das immer intuitiver.

Trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen machte er immer wieder auch Fehler. So wie eben, als er die beiden Elfenmädchen als paarungsbereite Habichtdamen kodiert hatte. Da war es schlicht nicht weiter verwunderlich, dass sein Freund mit einem halsbrecherischen Manöver seine überragende Flugkunst hatte unter Beweis stellen müssen, gekrönt von einer glanzvollen Landung, die niemandem entgehen konnte!

Wahrscheinlich hat er seinen Sturzflug sogar mit einem dieser schrillen Schreie eingeleitet, die dir das Blut in den Adern gefrieren lassen. Ilma! Bloß gut, dass der ehrwürdige Elander gerade nicht hier ist, sonst würden Anaviel und Jurwen gleich wieder zu ihm rennen.

Mit leichten, federnden Laufschritten setzte er sich in Bewegung, und jeder, der ihn dort auf jene so typisch elfische Art hätte laufen sehen können, wäre überzeugt davon gewesen, einen wahren Angehörigen des Alten Volkes zu erblicken.

So, wie die Dinge stehen, werden sie sich wohl an meine Mutter wenden. Das ist zwar auch keine berauschende Aussicht, aber immerhin kann sie mir nicht mit einem Wahrzauber auf den Zahn fühlen.

Rovin lebte seit er denken konnte mit seiner Mutter Sovenna Ruthrunya in Silma Ethella, jener kleinen elfischen Siedlung, die für die edle Sovenna ein Ort des Friedens und der Heilung geworden war. Die Elfen dort hatten die von der Geburt ihres Sohnes und der Trauer über den Verlust ihres Gatten geschwächte Elfe aus Kaltharia vor über zwanzig Wintern mit einer warmherzigen Selbstverständlichkeit bei sich aufgenommen, die Sovenna immer noch tief bewegte. Aus diesem Grund bemühte sie sich von Herzen, den Bewohnern die unendliche Dankbarkeit zu zeigen, die ihre Seele erfüllte.

Um so mehr belastete sie das, nun ja, nichtelfische und wenig respektvolle Verhalten, das ihr Sohn ihrer Ansicht nach viel zu häufig an den Tag legte. Aber egal, wie oft sie ihn zur Seite nahm und ihm erklärte, was er falsch gemacht hatte, egal wie sehr sie sich bemühte, ihm in ihrem eigenen Verhalten ein leuchtendes Vorbild zu sein, und gleichgültig, an wie vielen Annan en Laer, den Lieder- und Geschichtentagen der Elfen, sie ihn teilhaben ließ, er änderte sich nicht.

Genau genommen wollte er sich auch gar nicht ändern. Er würde nie ein „richtiger” Elf sein. Damit hatte er sich längst abgefunden. Und irgendwann, da war er sich ganz sicher, würde sich auch seine Mutter damit abfinden. Zumindest hoffte er das. Denn dann würde sie endlich damit aufhören, ihn mit ihren großen Augen so unendlich traurig anzuschauen. Alles andere konnte er ertragen, zum Beispiel, dass die anderen Kinder hinter seinem Rücken über ihn herzogen, weil seine Hände so groß waren und seine Finger so dick.

Dabei hatte er die übernatürliche Geschicklichkeit seiner Mutter geerbt. Keines der anderen Elfenkinder konnte so schnell flechten, so flüssig und elegant schreiben, oder so behände einem nach ihm geworfenen Stein ausweichen. Und was für ihn noch viel, viel wichtiger war: Niemand war so geschickt wie er beim Finden des lautlosen Pfades. Gilrond dor Elenath, der Schütze Mirats von Silma Ethella, bei dem alle Kinder den Umgang mit Bogen und Schwert erlernten, hatte ihn deswegen vor allen anderen gelobt.

„Nehmt euch in Acht, Rovin wandelt auf dem dritten Weg als wäre er dafür geboren. Wenn er es nicht will, werdet ihr große Schwierigkeiten haben, ihn kommen zu hören.”

Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er sich an diesen Moment erinnerte. Oh, wie hatte er gestrahlt, als Gilrond ihn derart mit Anerkennung überschüttet hatte! Die anderen hatten sich allerdings nicht mit ihm gefreut. Ihre Reaktion war eigenartigerweise recht verhalten, nachdenklich und sogar feindselig ausgefallen. Wenn er so darüber nachdachte, dann war es wohl weniger ein Lob für ihn als vielmehr eine Warnung für die anderen gewesen.

Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht.

Ha, das ist ja mal wieder typisch! Eigentlich weiß ich doch ganz genau, dass Gilrond mich nicht besonders gut leiden kann. Wer sollte es ihm auch verübeln? Bei Mirat, Anaviel hat ganz recht, wenn sie immer sagt, ich hätte so viel Empathie wie ein Kieselstein. Gilrond hat sich vermutlich halbtot gelacht darüber, dass ich mich auch noch so über seine Worte gefreut habe. Dabei hat er doch nur zum Ausdruck gebracht, dass ich nicht im Mindesten vertrauenswürdig bin!

Aber natürlich hatte Gilrond dabei gelächelt und ihm freundschaftlich auf die Schulter geklopft. Kein Wunder also, dass er das Gesagte als Lob interpretiert hatte. Ihm fehlte einfach das instinktive Gespür für die feinen Nuancierungen innerhalb der elfischen Kommunikation. Dieses hatte ihm seine Mutter, die in diesem Bereich eine wahre Meisterin war, leider nicht vererbt. Ganz offensichtlich hatte sich hier sein Vater durchgesetzt.

Sein menschlicher Vater.

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