ROVIN
Die Bäume der Hartholzaue
unter ihm waren allesamt sehr alt. Majestätisch anmutende Eschen, Eichen und
Ulmen reckten ihre gewaltigen Kronen 40 Schritt und mehr hoch in den kühlen
Herbsthimmel. Der Waldboden wurde von den mäandernden Altarmen des Noatheas durchzogen,
die im Schein der Nachmittagssonne zu ihm herauf glitzerten.
Mit seinen Raubvogelaugen
konnte er selbst kleine Details, wie auf der spiegelnden Wasseroberfläche
schwimmende Blätter, gut erkennen. Wie immer, wenn er die Welt von oben
betrachtete, erfüllte ein Hochgefühl seine Brust. Fast war er versucht, seinen
Plan fallen zu lassen, und, wie so oft in den letzten sieben Tagen seit jener
denkwürdigsten aller Nächte seines bisherigen Lebens, einfach nur diesen
Anblick zu genießen.
Doch da entdeckte sein
scharfes Auge, wonach er gesucht hatte: An einer über und über mit den blauen
Sternen der Sinithati-Blume überwucherten Uferstelle lagen zwei Elfenmädchen
und ließen sich ihre nackte, vom Schwimmen nasse Haut von der Sonne trocknen.
Lande
dort in der Ulme, Eanesja, genau neben den beiden wunderschönen Geschöpfen!
Mehrere Augenblicke lang
verlor er die Orientierung, als der Habicht sich wie ein Stein vom Himmel
fallen ließ. Der Horizont kippte dabei urplötzlich weg und die Krone des
mächtigen Baumes schoss auf ihn zu. Halb vor Entsetzen, halb vor Ekstase stieß
er einen langgezogenen Schrei aus, der schnell lauter wurde und einige
Herzschläge später sein panikerfülltes Maximum erreichte, als er in das Geäst
eintauchte und in halsbrecherischem Tempo durch die Zweige jagte. Der Flug
durch die Baumkrone war so schnell vorbei, wie er begonnen hatte, und ehe er
sich’s versah, durfte er Eanesjas zielsicheren Griff um den starken Ast
bewundern, den sein Freund sich für die Landung auserkoren hatte.
Mit einer ebenso
hektischen Bewegung ruckte der Kopf des Raubvogels herum und die Mädchen
erschienen von Neuem in seinem Gesichtsfeld, diesmal allerdings deutlich näher.
Das Bild, das er empfing, war jedoch verschwommen und unscharf, und er selbst
wurde von starkem Schwindel und Übelkeit geplagt. Er schluckte mehrmals, um den
galleartigen Geschmack aus seinem Mund zu vertreiben und fokussierte sich
erneut auf die Verbindung zu seinem Tiergefährten. Das gelang ihm mittlerweile
recht gut. Sein Blick klärte sich überraschend schnell, so dass er wieder
scharf sehen konnte.
Zu seinem allerhöchsten
Verdruss hatten die Mädchen sich beide in eine sitzende Stellung aufgerichtet,
die Arme schützend vor die Brust gelegt und blickten überrascht und irritiert
zu ihm herüber.
Verdammt,
Eanesja, musst du immer so viel Wind machen? Jetzt haben sie dich entdeckt!
Zwar konnte er nicht
hören, was die beiden miteinander redeten, aber die Art und Weise, wie sich
ihre Gesichter verfinsterten, sprach Bände.
Oh
nein, sie haben dich erkannt! Zeit zu verschwinden! Komm, zurück zu mir, mein
Freund.
Rovin öffnete seine
eigenen Augen, erhob sich langsam von seiner sitzenden Stellung und seufzte.
Tja,
ich vermute, das wird einigen Ärger geben.
Er richtete sich vollends
auf, und einen Augenblick lang empfand er freudige Erleichterung darüber, dass
er nach der Rückkehr seines Geistes in seinen eigenen Körper überhaupt nicht
wackelig auf den Beinen war, wie noch vor zwei Tagen.
Sich mit seinem
Tiergefährten Eanesja zu verbinden war etwa so, wie auf einem Baumsalamander zu
reiten. Der Turmalinhabicht behielt die Kontrolle über seinen Körper, Rovin war
lediglich ein Gast, der durch die Augen des erhabenen Vogels blicken und Aufforderungen
übermitteln konnte. Ob dieser allerdings dazu bereit war, seinen Anweisungen
Folge zu leisten, war längst nicht gesichert. Manchmal machte er einfach, was
er für besser oder erstrebenswerter hielt, ganz so wie die Baumsalamander, die
ihre Reiter ebenfalls nicht immer dorthin brachten, wo diese gerade hinwollten,
und die selbst in dem günstigen Fall, dass sie sich der Zielvorstellung ihrer
Begleiter fügten, immer ihren eigenen Weg wählten.
Dennoch machte er
Fortschritte. Eanesja verstand immer besser, was er ihm sagen wollte, obwohl er
ihm alles mit Hilfe von Bildern übermitteln musste. Wollte er zum Beispiel,
dass er leise und vorsichtig sein solle, schickte er ihm das Bild einer Eule,
die lautlos auf einen Hasen zuflog. Das war vor allem anfangs enorm schwierig
für ihn gewesen, weil er zunächst gar nicht schnell genug Ideen für geeignete
Bilder entwickeln konnte. Mittlerweile aber gelang ihm das immer intuitiver.
Trotzdem oder vielleicht
auch gerade deswegen machte er immer wieder auch Fehler. So wie eben, als er
die beiden Elfenmädchen als paarungsbereite Habichtdamen kodiert hatte. Da war
es schlicht nicht weiter verwunderlich, dass sein Freund mit einem halsbrecherischen
Manöver seine überragende Flugkunst hatte unter Beweis stellen müssen, gekrönt
von einer glanzvollen Landung, die niemandem entgehen konnte!
Wahrscheinlich
hat er seinen Sturzflug sogar mit einem dieser schrillen Schreie eingeleitet,
die dir das Blut in den Adern gefrieren lassen. Ilma! Bloß gut, dass der
ehrwürdige Elander gerade nicht hier ist, sonst würden Anaviel und Jurwen
gleich wieder zu ihm rennen.
Mit leichten, federnden
Laufschritten setzte er sich in Bewegung, und jeder, der ihn dort auf jene so
typisch elfische Art hätte laufen sehen können, wäre überzeugt davon gewesen,
einen wahren Angehörigen des Alten Volkes zu erblicken.
So,
wie die Dinge stehen, werden sie sich wohl an meine Mutter wenden. Das ist zwar
auch keine berauschende Aussicht, aber immerhin kann sie mir nicht mit einem
Wahrzauber auf den Zahn fühlen.
Rovin lebte seit er
denken konnte mit seiner Mutter Sovenna Ruthrunya in Silma Ethella, jener
kleinen elfischen Siedlung, die für die edle Sovenna ein Ort des Friedens und
der Heilung geworden war. Die Elfen dort hatten die von der Geburt ihres Sohnes
und der Trauer über den Verlust ihres Gatten geschwächte Elfe aus Kaltharia vor
über zwanzig Wintern mit einer warmherzigen Selbstverständlichkeit bei sich
aufgenommen, die Sovenna immer noch tief bewegte. Aus diesem Grund bemühte sie
sich von Herzen, den Bewohnern die unendliche Dankbarkeit zu zeigen, die ihre
Seele erfüllte.
Um so mehr belastete sie
das, nun ja, nichtelfische und wenig respektvolle Verhalten, das ihr Sohn ihrer
Ansicht nach viel zu häufig an den Tag legte. Aber egal, wie oft sie ihn zur
Seite nahm und ihm erklärte, was er falsch gemacht hatte, egal wie sehr sie
sich bemühte, ihm in ihrem eigenen Verhalten ein leuchtendes Vorbild zu sein,
und gleichgültig, an wie vielen Annan en Laer, den Lieder- und Geschichtentagen
der Elfen, sie ihn teilhaben ließ, er änderte sich nicht.
Genau genommen wollte er
sich auch gar nicht ändern. Er würde nie ein „richtiger” Elf sein. Damit hatte
er sich längst abgefunden. Und irgendwann, da war er sich ganz sicher, würde
sich auch seine Mutter damit abfinden. Zumindest hoffte er das. Denn dann würde
sie endlich damit aufhören, ihn mit ihren großen Augen so unendlich traurig
anzuschauen. Alles andere konnte er ertragen, zum Beispiel, dass die anderen
Kinder hinter seinem Rücken über ihn herzogen, weil seine Hände so groß waren
und seine Finger so dick.
Dabei hatte er die
übernatürliche Geschicklichkeit seiner Mutter geerbt. Keines der anderen
Elfenkinder konnte so schnell flechten, so flüssig und elegant schreiben, oder
so behände einem nach ihm geworfenen Stein ausweichen. Und was für ihn noch
viel, viel wichtiger war: Niemand war so geschickt wie er beim Finden des
lautlosen Pfades. Gilrond dor Elenath, der Schütze Mirats von Silma Ethella,
bei dem alle Kinder den Umgang mit Bogen und Schwert erlernten, hatte ihn
deswegen vor allen anderen gelobt.
„Nehmt euch in Acht,
Rovin wandelt auf dem dritten Weg als wäre er dafür geboren. Wenn er es nicht
will, werdet ihr große Schwierigkeiten haben, ihn kommen zu hören.”
Ein Lächeln huschte über
seine Lippen, als er sich an diesen Moment erinnerte. Oh, wie hatte er
gestrahlt, als Gilrond ihn derart mit Anerkennung überschüttet hatte! Die
anderen hatten sich allerdings nicht mit ihm gefreut. Ihre Reaktion war
eigenartigerweise recht verhalten, nachdenklich und sogar feindselig
ausgefallen. Wenn er so darüber nachdachte, dann war es wohl weniger ein Lob
für ihn als vielmehr eine Warnung für die anderen gewesen.
Das Lächeln verschwand
aus seinem Gesicht.
Ha,
das ist ja mal wieder typisch! Eigentlich weiß ich doch ganz genau, dass
Gilrond mich nicht besonders gut leiden kann. Wer sollte es ihm auch verübeln?
Bei Mirat, Anaviel hat ganz recht, wenn sie immer sagt, ich hätte so viel
Empathie wie ein Kieselstein. Gilrond hat sich vermutlich halbtot gelacht
darüber, dass ich mich auch noch so über seine Worte gefreut habe. Dabei hat er
doch nur zum Ausdruck gebracht, dass ich nicht im Mindesten vertrauenswürdig
bin!
Aber natürlich hatte
Gilrond dabei gelächelt und ihm freundschaftlich auf die Schulter geklopft.
Kein Wunder also, dass er das Gesagte als Lob interpretiert hatte. Ihm fehlte
einfach das instinktive Gespür für die feinen Nuancierungen innerhalb der elfischen
Kommunikation. Dieses hatte ihm seine Mutter, die in diesem Bereich eine wahre
Meisterin war, leider nicht vererbt. Ganz offensichtlich hatte sich hier sein
Vater durchgesetzt.
Sein menschlicher Vater.
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