Donnerstag, 5. Mai 2022

[Schnipseltime] So dunkel das Zwielicht von Christian Tobias Krug

 

Wie so oft kurz nach dem Aufwachen, war sich Julian mittlerweile schon gar nicht mehr sicher, was er geträumt hatte. Seine Träume, soviel wusste er, zeigten meist verschiedene Orte: Einige vollkommen gewöhnlich, manche wiederum düster und andere völlig skurril, als entstammten sie einer komplett fremden Welt. Einer keineswegs friedlichen Welt. Fast immer träumte er vom Krieg. Von ihrem Krieg – kein Kampf unter Menschen. Dabei war er nicht bloß stiller Beobachter, kein schlafender Zuschauer. Er sah nicht nur das blutige Sterben, nein, er selbst tötete und vergoss Blut. In ausnahmslos jedem seiner Träume war Julian in das Geschehen verwickelt. Oft kam es ihm dabei vor, als sei er jemand anderes – und das verstörte ihn. Denn wer derjenige auch sein mochte, in den er sich nachts, während er schlief, verwandelte – ihm war klar: Dieser Fremde war ebenfalls kein Mensch.

Manchmal, wenn die Bilder verschwanden, hörte er auch die Stimme. Die flüsternde Stimme, welche die gleichen Worte immerzu wiederholte wie eine Art geheimer Vers:

Doch es kommt eine Zeit, da währt die Nacht länger als der Tag …

Rasch durchquerte Julian den Flur und betrat die Küche, wo ihm ein Duft von frischem Kaffee entgegenwehte.

»So früh schon auf?«, fragte seine Mutter erstaunt und lächelte ihm vom Frühstückstisch aus freundlich zu.

»Schlecht geschlafen«, murmelte Julian.

»Wieder ein böser Traum?« Sie nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »Das kommt in letzter Zeit aber häufig vor. Alles in Ordnung? Vielleicht solltest du mal zum Arzt …«

»Ne, ist okay. Mach dir mal keine Sorgen.«

Julian hatte schon immer viel geträumt. Als Kind litt er ständig unter Albträumen und als er noch kleiner war, hatte er im Schlaf manchmal das Bett genässt. Dann hatte es aufgehört, schlagartig. Bis vor einem Monat ungefähr. Seitdem kehrten die düsteren Träume zurück.

Er holte sich Teller, Messer und Tasse aus dem Ungetüm von Küchenschrank und setzte sich seiner Mutter gegenüber an den Tisch.

In der Ecke neben der Spüle spielte das Radio leise Musik. Vor dem Fenster hing das chinesische Windspiel, das seine Mutter vor Jahren von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Zumindest wenn er ihren Worten Glauben schenkte.

Anders als sein Bruder hatte Julian seinen Vater nie kennengelernt. Der Mann, der vor siebzehn Jahren bei einer Nummer auf dem Autorücksitz ungeschickterweise das zweite Mal Papa geworden war, hatte sich anschließend atemberaubend schnell aus dem Staub gemacht. Das jedenfalls hatte ihm seine Ma erzählt, eines Abends, als sie betrunken, im Halbschlaf, auf dem Sofa lag.

»Oh, bevor ich’s vergesse, Julian: Dennis hat gestern Abend angerufen. Soll dich grüßen.«

»Danke. Gefällt’s ihm noch drüben in Hamburg? Hoffe, er kommt klar.«

»Ach, sicher. Die Ausbildungszeit ist ja bald rum, drücken wir ihm die Daumen, dass sie ihn in der Autowerkstatt übernehmen.«

Dennis, lebte er auch nicht mehr zu Hause, blieb dennoch Julians Idol, wie es große Brüder oft sind, wenn der Vater fehlt. Da ihre Ma den Tag über arbeitete, hatte sein Bruder ihn praktisch aufgezogen – was im Klartext bedeutete, Julian durfte tun und lassen, was immer er wollte, solange er drei goldene Regeln befolgte.

Erstens: Nie vergessen, dass Dennis, wie er ihm einschärfte, der ›Boss im Hause‹ war. Zwar bezogen sich seine Anweisungen nur aufs Grundsätzliche – beim Essen nicht zu schmatzen wie ein Ferkel, nach dem Abwasch das Abtrocknen zu übernehmen oder den Müll rauszutragen – dennoch hatte Julian zu gehorchen, andernfalls konnte Dennis verdammt sauer werden.

Noch wütender wurde er, brach Julian Regel Nummer Zwei und riskierte seinem Bruder gegenüber eine allzu große Klappe. Dennis hatte das brüderliche Miteinander weiß Gott nicht zur Schimpfwort-freien Zone erklärt, allerdings, patzige Antworten oder dumme Sprüche von einem Dreikäsehoch duldete er in keinem Fall.

Zu guter Letzt, das Allerwichtigste: Er sollte sich gefälligst wie ein ganzer Kerl benehmen. Nicht jammern, nicht rumheulen. Schließlich, das Leben war hart und man musste sich durchsetzen. Siehst ja, kannst dich nicht mal auf den eigenen Papa verlassen – ein Thema, über das Dennis ansonsten nie ein weiteres Wort verlor.

Als Julian noch kleiner war, hatte er sich manchmal gefürchtet, in den Keller zu gehen – etwa weil Ma ihn bat, ein Glas der selbst gekochten Marmelade hochzuholen, die sie früher dort bunkerte. Wer wusste, ob nicht irgendwo dort unten in dem dunklen, muffigen Gewölbe ein Ungeheuer lauerte? Die meisten Leute mochten über solche Kinderfantasien lachen. Dennis nicht. Sein Bruder wurde böse, jedes Mal, wenn er sich vor dem verhassten Keller gruselte. Sei nicht so ein Waschlappen!

Bis heute erinnerte sich Julian, wie er in der ersten Klasse einmal völlig verweint zu Dennis nach Haus gerannt war, weil ihn ein Junge auf dem Heimweg verprügelt hatte – in sich die kindliche Hoffnung, sein großer Bruder würde gleich losziehen und den Fiesling ordentlich verdreschen. Weit gefehlt. Stattdessen – Watsch! Batsch! – fing er sich von Dennis links und rechts zwei schallende Ohrfeigen, als ihn dieser wie ein Mädchen flennen sah.

Wieso hast du dem Typen nicht eins vor die Glocke gegeben?! Läufst heulend weg – also echt! Bist du eine Schwuchtel, oder was?!

Julian brachte kein Wort heraus, so erschrocken war er gewesen. Krampfhaft hatte er gegen neue Tränen angekämpft, verängstigt, von Dennis sonst womöglich noch eine Tracht Prügel zusätzlich zu kassieren.

Ja, sein dreiteiliges Regelwerk setzte sein Bruder mit konsequenter Strenge durch – wenngleich er ihm, was Regeln allgemein betraf, alle Freiheiten ließ. Die Wochenenden durfte Julian meist bei Dennis im Zimmer schlafen und mit ihm zusammen all die schönen schaurigen Horrorfilme schauen, die Ma ihm verboten hätte, wäre sie dahintergekommen. Oft nahm ihn sein Bruder auf dem Moped mit – wie wild fegten sie über die Landstraße – und zu zweit verbrachten sie Abende lang vorm PC; Dennis ließ ihn alle Spiele zocken, für die er noch zu jung war, und gab ihm einen Klaps auf die Schulter, sobald er ein Monster per gezieltem Kopfschuss ins virtuelle Grab schickte.

Geiler Schuss, Kleiner!

Dinge, die Julian heute wusste, hatte sein Bruder ihm beigebracht – coole und nützliche Sachen: Wie man mit einem Taschenmesser Figuren aus Holz schnitzt, bei Klassenarbeiten erfolgreich spickt, einen Joint dreht, wie man sich behauptet und jemanden im Notfall windelweich schlägt.

Zu seinem dreizehnten Geburtstag bekam er von Dennis ein Geschenk, auf das er stolz war: Seine erste eigene Lederjacke – schwarz, die Ärmel etwas ausgebeult, die Brusttaschen verziert mit Aufnähern und bunten Buttons. Er hatte sie aufbewahrt, lange noch, nachdem sie ihm allmählich zu eng geworden war.

Julian griff nach der Kanne vor ihm auf dem Tisch und goss sich et-was Kaffee in seine Tasse. »Ich vermisse ihn.«

»Bald kriegt er Urlaub, dann kommt er uns bestimmt besuchen.« Lächelnd hielt ihm seine Mutter die Tüte vom Bäcker entgegen. »Wie wär’s mit ‘nem Brötchen?«

»Ja, danke.«

»Was macht die Englischklausur? Fit für übermorgen? Du und Kyu-Min habt ja am Wochenende eifrig gelernt.«

Kyu-Min … Gegen seinen Willen musste er lächeln.

Ein Großer Dämon wird erscheinen, viel mächtiger als alle anderen Dämonen …

»Wird schon schiefgehen. Ich glaub, im Moment hat eh keiner so wirklich ‘nen Kopf für die Prüfungen.« Er biss von seiner Brötchenhälfte ab, die er mit Erdbeermarmelade beschmiert hatte. »In der Schule ist die Stimmung grad echt nur noch im Keller. Seit der Sache mit Miriam, du weißt ja …«

»Kann ich mir vorstellen«, antwortete seine Mutter bestürzt und packte sich eine Scheibe Schinken auf ihr zweites Brötchen. »Gestern in den Nachrichten lief auch wieder was über diesen Mörder … Ein-fach nur furchtbar!«

Julian nickte düster. Verstohlen blickte er auf die leere Rotweinflasche, die am Tischrand stand. Daneben lag ein großer Bogen Papier. Seine Ma malte und zeichnete gern. Häufig kam es vor, dass sie am Abend bis in die Nacht hinein am Küchentisch saß, an einem Bild arbeitete und reichlich dabei trank.

Wenn sie gestern die ganze Flasche gekippt hat, muss sie jetzt ziemlich verkatert sein, dachte er und seufzte innerlich.

Er sah seine Mutter an. Das Gesicht wirkte tatsächlich etwas müde, aber ansonsten war ihr nichts anzumerken.

»Hast du gezeichnet?«, fragte er und deutete auf das Blatt Papier, während er sich den Rest seines Brötchens in den Mund schob.

»Ja, willst du’s sehen?« Sie reichte ihm die Zeichnung.

Das Bild zeigte einen verschlungenen Pfad, der sich zwischen hohen Bäumen durch einen dichten Wald schlängelte. Der darüber gezeichnete Himmel war dunkel bewölkt und es schien zu gewittern.

Sieht irgendwie verwunschen aus …

»Echt cool!«

»Danke!« Ein Strahlen huschte über ihr zartes Gesicht.

Schon immer war Julian der Meinung, dass seine Mutter sehr schön sei. Jetzt, wo sie in ihrem weißen Nachthemd am Küchentisch saß, fielen die morgendlichen Sonnenstrahlen durchs Fenster und ließen ihre langen Haare noch heller erscheinen, die ebenso blond waren wie seine eigenen.

Fast wie ein Engel …

»Also, ich zieh mich an. Muss los zur Arbeit«, sagte sie, trank ihren Kaffee aus und erhob sich vom Tisch.

»Dann wünsch ich dir einen schönen Tag!«

»Ich dir auch! Mach bitte das Radio aus, wenn du gehst!«

Die Pforten des Himmels wird er zerstören, er wird Gott und all seine Engel vernichten …

Die grüne Matte fühlte sich weich unter seinen Füßen an, als er ins Badezimmer ging. Der kreisrunde Spiegel über dem Waschbecken zeigte das markante Gesicht eines Siebzehnjährigen, tiefblaue Augen und einen strähnigen Wuschelkopf.

Er wird das Dämonenvolk retten …

Nachdem er sich gewaschen hatte, schlüpfte er in eine abgeschnittene, ausgefranste Jeans und zog eines seiner Metal-T-Shirt an. Über der Brust prangte in blutig zerfließenden Lettern der Name der Band: The Devil’s Child.

Anschließend machte er sich auf den Weg zur Schule.

… und führt uns aus der Dunkelheit zurück ins Licht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Mit dem Abschicken des Kommentars bin ich mit den Datenschutzrichtlinien des Blogs einverstanden.