Wie
so oft kurz nach dem Aufwachen, war sich Julian mittlerweile schon gar nicht
mehr sicher, was er geträumt hatte. Seine Träume, soviel wusste er, zeigten
meist verschiedene Orte: Einige vollkommen gewöhnlich, manche wiederum düster
und andere völlig skurril, als entstammten sie einer komplett fremden Welt.
Einer keineswegs friedlichen Welt. Fast immer träumte er vom Krieg. Von ihrem
Krieg – kein Kampf unter Menschen. Dabei war er nicht bloß stiller
Beobachter, kein schlafender Zuschauer. Er sah nicht nur das blutige Sterben,
nein, er selbst tötete und vergoss Blut. In ausnahmslos jedem seiner Träume war
Julian in das Geschehen verwickelt. Oft kam es ihm dabei vor, als sei er jemand
anderes – und das verstörte ihn. Denn wer derjenige auch sein mochte, in den er
sich nachts, während er schlief, verwandelte – ihm war klar: Dieser Fremde war
ebenfalls kein Mensch.
Manchmal,
wenn die Bilder verschwanden, hörte er auch die Stimme. Die flüsternde Stimme,
welche die gleichen Worte immerzu wiederholte wie eine Art geheimer Vers:
Doch
es kommt eine Zeit, da währt die Nacht länger als der Tag …
Rasch
durchquerte Julian den Flur und betrat die Küche, wo ihm ein Duft von frischem
Kaffee entgegenwehte.
»So
früh schon auf?«, fragte seine Mutter erstaunt und lächelte ihm vom
Frühstückstisch aus freundlich zu.
»Schlecht
geschlafen«, murmelte Julian.
»Wieder
ein böser Traum?« Sie nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »Das kommt in
letzter Zeit aber häufig vor. Alles in Ordnung? Vielleicht solltest du mal zum
Arzt …«
»Ne,
ist okay. Mach dir mal keine Sorgen.«
Julian
hatte schon immer viel geträumt. Als Kind litt er ständig unter Albträumen und
als er noch kleiner war, hatte er im Schlaf manchmal das Bett genässt. Dann
hatte es aufgehört, schlagartig. Bis vor einem Monat ungefähr. Seitdem kehrten die
düsteren Träume zurück.
Er
holte sich Teller, Messer und Tasse aus dem Ungetüm von Küchenschrank und
setzte sich seiner Mutter gegenüber an den Tisch.
In
der Ecke neben der Spüle spielte das Radio leise Musik. Vor dem Fenster hing
das chinesische Windspiel, das seine Mutter vor Jahren von seinem Vater
geschenkt bekommen hatte. Zumindest wenn er ihren Worten Glauben schenkte.
Anders
als sein Bruder hatte Julian seinen Vater nie kennengelernt. Der Mann, der vor
siebzehn Jahren bei einer Nummer auf dem Autorücksitz ungeschickterweise das
zweite Mal Papa geworden war, hatte sich anschließend atemberaubend schnell aus
dem Staub gemacht. Das jedenfalls hatte ihm seine Ma erzählt, eines Abends, als
sie betrunken, im Halbschlaf, auf dem Sofa lag.
»Oh,
bevor ich’s vergesse, Julian: Dennis hat gestern Abend angerufen. Soll dich
grüßen.«
»Danke.
Gefällt’s ihm noch drüben in Hamburg? Hoffe, er kommt klar.«
»Ach,
sicher. Die Ausbildungszeit ist ja bald rum, drücken wir ihm die Daumen, dass
sie ihn in der Autowerkstatt übernehmen.«
Dennis,
lebte er auch nicht mehr zu Hause, blieb dennoch Julians Idol, wie es große
Brüder oft sind, wenn der Vater fehlt. Da ihre Ma den Tag über arbeitete, hatte
sein Bruder ihn praktisch aufgezogen – was im Klartext bedeutete, Julian durfte
tun und lassen, was immer er wollte, solange er drei goldene Regeln befolgte.
Erstens:
Nie vergessen, dass Dennis, wie er ihm einschärfte, der ›Boss im Hause‹ war.
Zwar bezogen sich seine Anweisungen nur aufs Grundsätzliche – beim Essen nicht
zu schmatzen wie ein Ferkel, nach dem Abwasch das Abtrocknen zu übernehmen oder
den Müll rauszutragen – dennoch hatte Julian zu gehorchen, andernfalls konnte
Dennis verdammt sauer werden.
Noch
wütender wurde er, brach Julian Regel Nummer Zwei und riskierte seinem Bruder
gegenüber eine allzu große Klappe. Dennis hatte das brüderliche Miteinander
weiß Gott nicht zur Schimpfwort-freien Zone erklärt, allerdings, patzige
Antworten oder dumme Sprüche von einem Dreikäsehoch duldete er in keinem Fall.
Zu
guter Letzt, das Allerwichtigste: Er sollte sich gefälligst wie ein ganzer Kerl
benehmen. Nicht jammern, nicht rumheulen. Schließlich, das Leben war hart und
man musste sich durchsetzen. Siehst ja, kannst dich nicht mal auf den
eigenen Papa verlassen – ein Thema, über das Dennis ansonsten nie ein
weiteres Wort verlor.
Als
Julian noch kleiner war, hatte er sich manchmal gefürchtet, in den Keller zu
gehen – etwa weil Ma ihn bat, ein Glas der selbst gekochten Marmelade
hochzuholen, die sie früher dort bunkerte. Wer wusste, ob nicht irgendwo dort
unten in dem dunklen, muffigen Gewölbe ein Ungeheuer lauerte? Die meisten Leute
mochten über solche Kinderfantasien lachen. Dennis nicht. Sein Bruder wurde
böse, jedes Mal, wenn er sich vor dem verhassten Keller gruselte. Sei nicht
so ein Waschlappen!
Bis
heute erinnerte sich Julian, wie er in der ersten Klasse einmal völlig verweint
zu Dennis nach Haus gerannt war, weil ihn ein Junge auf dem Heimweg verprügelt
hatte – in sich die kindliche Hoffnung, sein großer Bruder würde gleich
losziehen und den Fiesling ordentlich verdreschen. Weit gefehlt. Stattdessen – Watsch!
Batsch! – fing er sich von Dennis links und rechts zwei schallende
Ohrfeigen, als ihn dieser wie ein Mädchen flennen sah.
Wieso
hast du dem Typen nicht eins vor die Glocke gegeben?! Läufst heulend weg – also
echt! Bist du eine Schwuchtel, oder was?!
Julian
brachte kein Wort heraus, so erschrocken war er gewesen. Krampfhaft hatte er
gegen neue Tränen angekämpft, verängstigt, von Dennis sonst womöglich noch eine
Tracht Prügel zusätzlich zu kassieren.
Ja,
sein dreiteiliges Regelwerk setzte sein Bruder mit konsequenter Strenge durch –
wenngleich er ihm, was Regeln allgemein betraf, alle Freiheiten ließ. Die
Wochenenden durfte Julian meist bei Dennis im Zimmer schlafen und mit ihm
zusammen all die schönen schaurigen Horrorfilme schauen, die Ma ihm verboten
hätte, wäre sie dahintergekommen. Oft nahm ihn sein Bruder auf dem Moped mit –
wie wild fegten sie über die Landstraße – und zu zweit verbrachten sie Abende
lang vorm PC; Dennis ließ ihn alle Spiele zocken, für die er noch zu jung war,
und gab ihm einen Klaps auf die Schulter, sobald er ein Monster per gezieltem
Kopfschuss ins virtuelle Grab schickte.
Geiler
Schuss, Kleiner!
Dinge,
die Julian heute wusste, hatte sein Bruder ihm beigebracht – coole und
nützliche Sachen: Wie man mit einem Taschenmesser Figuren aus Holz schnitzt,
bei Klassenarbeiten erfolgreich spickt, einen Joint dreht, wie man sich
behauptet und jemanden im Notfall windelweich schlägt.
Zu
seinem dreizehnten Geburtstag bekam er von Dennis ein Geschenk, auf das er
stolz war: Seine erste eigene Lederjacke – schwarz, die Ärmel etwas ausgebeult,
die Brusttaschen verziert mit Aufnähern und bunten Buttons. Er hatte sie
aufbewahrt, lange noch, nachdem sie ihm allmählich zu eng geworden war.
Julian
griff nach der Kanne vor ihm auf dem Tisch und goss sich et-was Kaffee in seine
Tasse. »Ich vermisse ihn.«
»Bald
kriegt er Urlaub, dann kommt er uns bestimmt besuchen.« Lächelnd hielt ihm
seine Mutter die Tüte vom Bäcker entgegen. »Wie wär’s mit ‘nem Brötchen?«
»Ja,
danke.«
»Was
macht die Englischklausur? Fit für übermorgen? Du und Kyu-Min habt ja am
Wochenende eifrig gelernt.«
Kyu-Min
… Gegen seinen Willen musste er
lächeln.
Ein
Großer Dämon wird erscheinen, viel mächtiger als alle anderen Dämonen …
»Wird
schon schiefgehen. Ich glaub, im Moment hat eh keiner so wirklich ‘nen Kopf für
die Prüfungen.« Er biss von seiner Brötchenhälfte ab, die er mit
Erdbeermarmelade beschmiert hatte. »In der Schule ist die Stimmung grad echt
nur noch im Keller. Seit der Sache mit Miriam, du weißt ja …«
»Kann
ich mir vorstellen«, antwortete seine Mutter bestürzt und packte sich eine
Scheibe Schinken auf ihr zweites Brötchen. »Gestern in den Nachrichten lief
auch wieder was über diesen Mörder … Ein-fach nur furchtbar!«
Julian
nickte düster. Verstohlen blickte er auf die leere Rotweinflasche, die am
Tischrand stand. Daneben lag ein großer Bogen Papier. Seine Ma malte und
zeichnete gern. Häufig kam es vor, dass sie am Abend bis in die Nacht hinein am
Küchentisch saß, an einem Bild arbeitete und reichlich dabei trank.
Wenn
sie gestern die ganze Flasche gekippt hat, muss sie jetzt ziemlich verkatert
sein, dachte er und seufzte
innerlich.
Er
sah seine Mutter an. Das Gesicht wirkte tatsächlich etwas müde, aber ansonsten
war ihr nichts anzumerken.
»Hast
du gezeichnet?«, fragte er und deutete auf das Blatt Papier, während er sich
den Rest seines Brötchens in den Mund schob.
»Ja,
willst du’s sehen?« Sie reichte ihm die Zeichnung.
Das
Bild zeigte einen verschlungenen Pfad, der sich zwischen hohen Bäumen durch
einen dichten Wald schlängelte. Der darüber gezeichnete Himmel war dunkel
bewölkt und es schien zu gewittern.
Sieht
irgendwie verwunschen aus …
»Echt
cool!«
»Danke!«
Ein Strahlen huschte über ihr zartes Gesicht.
Schon
immer war Julian der Meinung, dass seine Mutter sehr schön sei. Jetzt, wo sie
in ihrem weißen Nachthemd am Küchentisch saß, fielen die morgendlichen
Sonnenstrahlen durchs Fenster und ließen ihre langen Haare noch heller
erscheinen, die ebenso blond waren wie seine eigenen.
Fast
wie ein Engel …
»Also,
ich zieh mich an. Muss los zur Arbeit«, sagte sie, trank ihren Kaffee aus und
erhob sich vom Tisch.
»Dann
wünsch ich dir einen schönen Tag!«
»Ich
dir auch! Mach bitte das Radio aus, wenn du gehst!«
Die
Pforten des Himmels wird er zerstören, er wird Gott und all seine Engel
vernichten …
Die
grüne Matte fühlte sich weich unter seinen Füßen an, als er ins Badezimmer
ging. Der kreisrunde Spiegel über dem Waschbecken zeigte das markante Gesicht
eines Siebzehnjährigen, tiefblaue Augen und einen strähnigen Wuschelkopf.
Er
wird das Dämonenvolk retten …
Nachdem
er sich gewaschen hatte, schlüpfte er in eine abgeschnittene, ausgefranste
Jeans und zog eines seiner Metal-T-Shirt an. Über der Brust prangte in blutig
zerfließenden Lettern der Name der Band: The Devil’s Child.
Anschließend
machte er sich auf den Weg zur Schule.
… und führt uns aus der Dunkelheit zurück ins Licht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Mit dem Abschicken des Kommentars bin ich mit den Datenschutzrichtlinien des Blogs einverstanden.