Sonntag, 17. Januar 2021

[Schnipseltime] Die Flüchtlings-Chroniken I und II von Michael Knabe

  

 



Mit energischen Bewegungen streifte Shevon seine Sandalen ab und warf sie hinüber auf die andere Seite. So konnte er die glatten Stellen besser erfühlen.

Moospolster lösten sich vom Stamm, sobald er einen Fuß darauf stellte. Das Holz der Oberfläche glänzte nass von der Gischt und Algen machten sich darauf breit. Die Krallen wilder Tiere hatten feine Löcher in der moderigen Masse hinterlassen.

Krallen müsste man haben.

Shevon scheuerte Moos und Algen vor sich weg und setzte einen Fuß auf den Stamm. So musste es gehen: immer das Holz sauberwischen, bevor er einen Fuß belastete.

Er breitete die Arme aus und balancierte mit zusammengepressten Kiefern los. Die Wurzeln blieben zurück, dann die Felsen. Unter ihm waren zehn Spannen leere Luft, durch die Dunstschleier zogen. Darunter tobte das Wasser. Die Wände der Schlucht schienen das Rauschen noch zu verstärken. Jedes Mal, wenn Shevon einen Halt für den nächsten Fuß suchte, brachte der Anblick des fließenden Wassers seinen Gleichgewichtssinn durcheinander, als flösse nicht der Bach, sondern der Baumstamm dahin. Er ruderte mit den Armen und versuchte sein jagendes Herz zu beruhigen. Lieber fixierte er die Felsen der gegenüberliegenden Wand, aber so konnte er kaum sehen, worauf seine Füße traten. Er atmete auf, als er die ersten Äste erreichte, die in allen Richtungen vom Stamm abstanden. Eine Pause gestattete er sich nicht. Womöglich würde er dann nicht mehr den Mut aufbringen, dieses selbstmörderische Unternehmen fortzusetzen.

Einmal wagte er einen Blick auf Regul, der am anderen Ufer stand und jeden von Shevons Schritten mit Kennermiene verfolgte, als wartete er nur darauf, seinen Gegenspieler in die Schlucht stürzen zu sehen.

Dieser Blick war einer zu viel. Shevons Fuß rutschte von dem Algenteppich ab. Ein eiskalter Blitz der Panik schoss durch seinen Leib. Gefahr!, schrie jede Muskelfaser. Aber alles Armkreisen half nichts, er neigte sich unaufhaltsam über das Wasser. Der zweite Fuß verlor den Halt. Sein Schienbein knallte gegen einen Aststumpf, der unter ihm aus dem Stamm ragte. Panisch griff er zu und krallte sich an das glitschige Holz. Drunten toste das Wasser.

Shevon schlang krampfhaft die Arme um den Ast. Aber auch hier wuchsen Algen und der Stumpf zeigte in schrägem Winkel nach unten. Langsam und doch unhaltbar rutschte er vom Stamm weg und auf das Ende des Astes zu. Genau unter ihm ragte ein Felsblock aus dem Wasser. Dort würde er zerschmettern. Und vor ihm, fast auf Augenhöhe und nur wenige Schritte entfernt, hockte Regul am Ufer und betrachtete interessiert den Überlebenskampf seines Konkurrenten.


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