Sonntag, 17. August 2025

[Schnipseltime] Der Wille der Zauberin von Katharina Fröhlich


 

Prolog

Drei bunt angestrichene Planwagen ratterten über eine gepflasterte Straße. Sie waren mit Monden und Sternen, Flammenzungen, fliegenden Bällen und Blumen bemalt. Das Rattern der Holzräder wurde unterlegt vom Klingeln der Schellen und dem Rufen der Menschen auf den Wagen. Dieser Lärm war von Weitem zu hören. Auffällig waren die Reisenden auf den bunten Wagen. Das war ihr Geschäft, denn es waren Spielleute.

Sie waren zu siebt. Auf dem vorderen Wagen saß Joselyn auf dem Bock. Er war Messerwerfer – ein verdammt guter – und der Anführer der Schar. Zumindest entschied er, wohin die Reise ging, wo sie auftraten und wo nicht. Seit seiner Geburt lebte er auf den bunten Wagen. Neben ihm saß seine Frau und Partnerin beim Messerwerfen, Ginni. Im Wagen lümmelte der zehnjährige Falkan.

Zur Truppe gehörten noch Basso und Jarn, der Possenreißer und der Muskelprotz, und Selma und Marek, die Seiltänzerin und der Musiker. Basso lenkte den mittleren Wagen und sah ein Flackern unter der Plane vor sich.

„Hey Falkan!“, brüllte er über das Rumpeln hinweg. „Fackel den Wagen nicht ab!“

Das Gesicht des Jungen erschien in der Öffnung. Auf seinem Finger tanzte eine etwa zündholzgroße Flamme.

„Keine Sorge! Ich pass schon auf!“, rief er zurück.

Schließlich kannte er das Feuer nun viel besser als damals, als er den Wagen beinahe wirklich abgefackelt hätte … Trotzdem blies er das Flämmchen aus und kroch nach vorne zu Joselyn und Ginni. Die beiden waren in ein Gespräch vertieft, doch sie unterbrachen es, sobald Falkan sich zwischen sie auf den Bock quetschte.

„Wo sollen wir dich nur hinstecken, wenn du weiter so wächst?“, neckte Ginni ihn.

Falkan schmiegte sich an sie. „Ich könnte reiten.“

„Das würde dir so passen!“ Joselyn lachte und verstrubbelte ihm die feuerroten Haare. „Nach einem ganzen Tag im Sattel würde dir der Hintern wehtun, glaub mir.“

Ein Pferd war Falkans neuester Wunsch. Die Ochsen, die die Wagen zogen, waren zwar praktisch, aber zum Reiten vollkommen ungeeignet – er hatte es ausprobiert. Die sonst so gutmütigen Tiere hatten alles versucht, um dieses Kind auf ihrem Rücken schnellstmöglich loszuwerden. Ein Pferd konnten sie sich allerdings nicht leisten, das war Falkan klar, daher wechselte er das Thema.

„Wann sind wir da?“

„Es wird schon noch ein paar Stunden dauern“, antwortete Joselyn.

„Die Hauptstadt … Ist sie groß? Gibt es da eine Burg? Und Soldaten?“

Ginni lächelte angesichts Falkans Aufregung. „Nicht nur eine Burg, sondern einen Palast. Alle Soldaten des Landes werden in der Hauptstadt ausgebildet. Du warst sogar schon mal dort.“

Die Hauptstadt war damals ihr erster Halt gewesen, nachdem sie das Findelkind am Wegesrand aufgesammelt hatten.

„Wohnt in dem Palast ein König?“

„Nur eine böse Zauberin.“

Mit großen Augen blickte Falkan seinen Ziehvater an.

„Jos!“, schalt Ginni ihn. „Erzähl dem Jungen keine Dummheiten.“ Sich Falkan zuwendend fügte sie hinzu: „Sie ist eine Zauberin, aber du wirst sie niemals böse nennen. Hörst du?“

„In Ordnung.“ Falkan spürte, dass es seiner Ziehmutter ernst war, auch wenn er den Grund nicht verstand. „Wie sind die Leute in der Hauptstadt? Mögen sie Spielleute?“

„Na klar. Sie warten nur auf uns. Du wirst es bald sehen.“

Joselyn erzählte Falkan wie so oft Geschichten über glorreiche Spielleute, die Königreiche retteten, Schätze fanden und schöne Frauen liebten. Der Junge hing an seinen Lippen.

Ginni zog sich derweil unter die Plane zurück. Die böse Zauberin … Diese Worte hatten ihre Sorge noch verstärkt. Sie hatte nicht in die Hauptstadt gewollt, doch keiner hatte auf sie gehört. Die anderen wollten dort unbedingt auftreten, es winkte viel Geld. Obendrein kam Selma aus der Hauptstadt und wollte mal wieder nach Hause. Marek wollte die Gelegenheit nutzen, um neue Musikstücke zu lernen. Und Falkan … Der Junge war neugierig auf die größte Stadt des Landes.

Nur sie selbst hatte ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Schon seit Längerem gab es Gerüchte, die Zauberin suche vier besondere Kinder. Ihr kleiner Falkan war ein besonderes Kind, keine Frage. Sie hatte ihre Sorgen mit den anderen geteilt, doch die hatten sie weggewischt. Keinem würde auffallen, was der Junge wirklich konnte, falls doch, wären sie längst wieder auf der Straße. Sei unbesorgt, Ginni, und denk an das Geld. Der Winter kommt. Also hatte sie nichts mehr gesagt.

Schließlich erklang der Ruf: „Stadt in Sicht!“

Falkan stand auf dem Bock, um mehr sehen zu können. Am Ende der gepflasterten Straße erhob sich eine hohe Mauer mit bemannten Zinnen, ein paar Türme und der Palast ragten als Einziges über sie hinaus. Ginni war bereits mehrmals hier gewesen und konnte ihr nichts abgewinnen.

„Woah! Schaut euch diese Mauer an! Ist das dahinten der Palast? Der ist ja riesig!“, rief der Junge aufgeregt.

Am viel zu großen Tor wurden sie aufgehalten. Falkan schaute sich den Wächter genauestens an. Joselyn erklärte geduldig, sie seien Spielleute und wollen am Marktplatz auftreten. Nach einigem Hin und Her durften sie endlich passieren, mit der Mahnung im Gepäck, sich nicht in den Palast zu wagen.

Während sie über die Straßen holperten, wurde mindestens die halbe Stadtbevölkerung auf sie aufmerksam. Die Spielleute winkten und luden die Menschen ein, auf den Marktplatz zu kommen. Jarn ließ seine Muskeln spielen, Marek versuchte ein Liedchen zum Besten zu geben, das bei diesem Lärm allerdings niemand hörte.

Falkan stand noch immer auf dem Bock. Glücklich schaute er auf die Menschen am Straßenrand und die Kinder, die neben den Wagen herliefen. Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. Er fühlte sich wie der König der Spielleute. Ja, genauso sollte das Leben sein!

Auf dem Marktplatz wurden die Wagen in einem Dreieck aufgestellt, sodass die Mitte wenigstens ein Minimum an Privatsphäre für die Spielleute bot.

Die beachtliche Menschenmenge, die ihnen gefolgt war, verteilte sich auf dem Platz und beobachtete jeden Handgriff. Falkan fütterte und tränkte die Ochsen, während die anderen ausluden. Es war klar, dass sie heute nicht mehr rechtzeitig fertig werden würden, daher vertrösteten sie die Menschen auf morgen. Einige gingen, viele aber blieben und schauten beim Aufbau zu.

Falkan liebte die Vorstellungen, er liebte die Truppe und das freie Leben, obwohl es mühselig sein konnte, wenn das Wetter schlecht war, sie wenig zu essen hatten oder beides. Doch der Auf- und Abbau war wirklich das Schlimmste. Jedes Teil hatte seinen bestimmten Platz in den Wagen, die Erwachsenen gingen die Sache routiniert an und trotzdem dauerte es ewig, bis alles stand, wo es hingehörte.

Am Abend schließlich hatten sie es geschafft. Joselyn und Basso zündeten sich ein Pfeifchen an, Ginni kochte inmitten der Wagen und Selma ging, um ihre Familie zu besuchen. Marek war in ein Gespräch mit einem Flötenspieler versunken und Jarn schäkerte mit ein paar Frauen. Viele Kinder, die beim Aufbau zugeschaut hatten, waren immer noch da.

„Ich geh spielen!“, rief Falkan zu den Wagen herüber.

„Sei aber zum Essen wieder da!“

„In Ordnung!“ Falkan rannte zu den Kindern. „Hallo! Wollen wir spielen?“

Natürlich wollten die Kinder spielen und etwas über die Vorstellung erfahren. Sie tobten durch die Straßen und über den Marktplatz, bis es Zeit zum Essen war.

Später, als Falkan zwischen Joselyn und Ginni im Wagen lag, mollig zugedeckt und zufrieden, sagte er: „Ich mag die Hauptstadt. Wir haben sogar einen richtigen Soldaten gesehen! Nicht nur so einen Wächter wie am Tor. Er hatte ein Schwert und eine Lanze. Ich bin auf morgen gespannt! Die Kinder sagen, der ganze Platz wird voll sein.“

„Oh ja. Es wird prima“, murmelte Joselyn schläfrig.

Ginni strich ihrem Kleinen zärtlich über den Kopf. „Falkan, wenn wir morgen auftreten … Zeig nicht alles, was du kannst.“

„Warum?“

„Tu es einfach nicht, ja?“

„Na gut.“

 

 

Der Auftritt versprach, phantastisch zu werden. Bei strahlendem Sonnenschein war der Platz gerammelt voll, einige Menschen waren sogar auf die Dächer gestiegen. Unter den Zuschauern waren auch ein paar Soldaten.

Joselyn begrüßte das Publikum und kündigte auch alle Auftritte an. Den Anfang machte Basso, der die Stimmung der Menschen mit seinen Späßen anheizte. Es gab viele Lacher. Danach folgte Jarns Auftritt. Mit seiner puren Muskelkraft verblüffte er alle. Er bog eine Eisenstange, als wäre sie ein Grashalm. Marek untermalte alles mit der passenden Musik.

Die ersten Aufschreie erntete Selma, als sie über das Seil balancierte, das sie gestern zwischen den Häusern gespannt hatten. In der Mitte schlug sie ein Rad und das Publikum applaudierte laut. Falkan konnte eine Frau in der Menge ausmachen, die Selma ähnlich sah, bestimmt war es ihre Schwester.

Auf Selmas Auftritt folgte Joselyns Messerwerfen. Er stellte seine Assistentin Ginni vor und kettete sie an einem hölzernen Rad fest. Danach zeigte er die Messer. Er demonstrierte ihre Schärfe, indem er ganz nebenbei Lebensmittel für das Abendessen filetierte. Im Publikum baute sich eine Spannung auf, die fast mit Händen zu greifen war. Jarn trat zum Holzrad und drehte es. Ginni wirbelte um ihre eigene Achse. Gelassen sprach Joselyn weiter mit dem Publikum über Messer und Frauen und Flugbahnen. Sobald das Rad einigermaßen zum Stehen gekommen war, schleuderte er die Messer – zack zack zack. Die Menschen hielten den Atem an.

Falkan hatte sich früher oft gewundert, warum sie solche Angst hatten. Joselyn und Ginni würden doch niemals diese Vorstellung geben, wenn ernsthaft Verletzungsgefahr bestünde. Doch irgendwann hatte der Junge gelernt, dass die Dramatik eben dazugehörte. Und Verletzungsrisiken gab es trotzdem immer, egal wie gut man war.

Ginni lächelte den Geschossen strahlend entgegen. Pock pockpock. Die Messer trafen zielsicher das Holz. Zischend entwich die Luft aus vielen Mündern. Das Publikum applaudierte erleichtert. Ginni wurde vom Rad abgebunden. Sie und Joselyn verbeugten sich unter dem Applaus der Menge.

Anspannung machte sich in Falkan breit. Nun war es so weit. Joselyn kündigte ihn an.

„Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kinder! Voller Stolz präsentiere ich euch das atemberaubende Spiel mit dem Feuer! Nirgendwo sonst wird das Feuer heller oder heißer brennen! Nirgendwo sonst werdet ihr seine Schönheit in aller Pracht sehen können! Habt keine Angst! Euch und eurer Stadt wird nichts geschehen. Das Feuer ist sein Freund und wird tun, was er verlangt. Hier ist Falkan!“

Falkan sprang auf die Bühne und verbeugte sich. In der Hand hatte er eine brennende Fackel. Er streckte die bloße Hand nach der Flamme aus. Das Publikum beobachtete jede seiner Bewegungen. Falkan spürte die Hitze, die Flamme küsste seine Haut – er liebte dieses Gefühl. Während jeder andere Mensch Schmerzen hatte, verbrannt wurde, fühlte er ein wohliges Kribbeln. Er lächelte glücklich. Ginnis Bitte um Zurückhaltung war längst vergessen.

Falkan wünschte sich, die Flamme möge größer werden. Da wurde sie größer. Er griff hinein – das Feuer brannte auf seiner Haut weiter, ohne ihm etwas anzuhaben. Die Fackel steckte er in eine Vertiefung im Boden, er brauchte sie nicht mehr. Vor den staunenden Zuschauern warf Falkan das Feuer von einer Hand in die andere, er ließ es seine nackten Arme hinauf- und hinunterwandern und dann gab er ihm einen Kuss. Das Publikum seufzte.

Fast schon selbstvergessen spielte er mit dem Feuer, bevor er seinen neuesten Trick zeigte. Er hatte geübt, die Flammen dazu zu bringen, sich zu einer Blume zu formen. Es erforderte enorme Willenskraft und Falkan war stolz, als ihm diesmal eine makellose Lilie gelang. Er streckte sie einer Frau in der ersten Reihe entgegen. Mit verzücktem Lächeln wollte sie zugreifen, sie hatte wohl vergessen, dass die Blume aus Feuer bestand. Zu ihrem Glück löste sich die Blume in diesem Moment in Rauch auf.

Falkan verbeugte sich und die Zuschauer tobten. Anschließend ging der Junge mit einem Hut herum, in den die Menschen Münzen warfen.

 

 

Noch zweimal traten sie an diesem Tag auf. Sie verdienten mehr Geld, als Falkan je gesehen hatte. Alle Schausteller waren sehr zufrieden mit sich.

„Habe ich es euch nicht gesagt? Die Leute hier haben Geld und zahlen für gute Vorstellungen!“ Selma lachte.

Nur Ginni schaute bedrückt in die Flammen des Kochfeuers. Natürlich freute sie sich über das Geld, aber sie hatte auch die Soldaten in der Zuschauermenge gesehen. Nach Falkans Auftritt waren einige von ihnen gegangen. Das schien den anderen nicht aufgefallen zu sein.

„Lasst uns morgen abbauen. Bitte!“, bat sie.

„Was sagst du da? Jetzt sind wir das Gespräch der Stadt. Wir können morgen noch mal so viel verdienen wie heute“, widersprach Basso.

Ginni wollte antworten, doch Marek hatte den Finger auf die Lippen gelegt. Nun lauschten auch die anderen. Schwere Schritte näherten sich. Viele schwere Schritte. Wachsam lugten die Schausteller um die Wagen herum. Soldaten näherten sich dem Marktplatz.

„Verdammt!“, entfuhr es Joselyn.

„Vielleicht wollen sie nichts von uns“, hoffte Jarn noch.

Doch die Soldaten kamen so zielstrebig auf die Wagen der Spielleute zu, dass diese Hoffnung schnell zerstört wurde. Ginni blickte zu Falkan. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte der Junge zu den Soldaten.

„Falkan, rasch! Versteck dich im Wagen und komm auf keinen Fall raus!“

Im Normalfall hätte er widersprochen, aber das hier war nicht normal. Ihm entging das leise Zittern in Ginnis Stimme nicht. Flink und leise kletterte er in den Wagen. Dort legte er sich so, dass er zumindest einen Ausschnitt von dem sehen konnte, was draußen geschah.

Die Soldaten umkreisten die Wagen und ihr Anführer trat auf die Spielleute zu. „Wer hat hier das Sagen?“, bellte er.

„Ich spreche für die Gruppe“, sagte Joselyn mit fester Stimme.

„Du hast jetzt eine Audienz bei der Großen Zauberin. Na los!“ Der Befehlston des Anführers und die vielen Bewaffneten duldeten keinen Widerspruch.

Ginni trat an die Seite ihres Mannes. „Ich komme mit.“

„Spielmannspack“, knurrte der Soldat abfällig.

Die Soldaten nahmen Joselyn und Ginni in ihre Mitte, dann marschierten sie Richtung Palast davon. Keiner sagte ein Wort, bis sie verschwunden waren. Als es soweit war, redeten alle durcheinander.

Falkan schlüpfte aus dem Wagen. Besorgt schaute er zum Palast. Angst machte sich in ihm breit und er griff nach Jarns Hand. Die Erwachsenen bemerkten das und rissen sich zusammen.

Jarn legte dem Jungen seinen muskulösen Arm um die Schultern. „Es wird alles gut, Falk.“

Einen Moment war es still.

Basso straffte sich. „Wir machen, was Ginni gesagt hat. Wir packen ein.“

Grimmig und schweigend arbeiteten sie. Zusätzlich zu ihrem Feuer zündete Falkan Fackeln an, um ihnen mehr Licht zu machen. Sie waren fast fertig, als Joselyn und Ginni zurückkamen. Sie rannten.

„Schnell! Wir müssen hier weg!“, rief Jos ihnen entgegen.

In größter Eile warfen die Erwachsenen den Rest ihrer Sachen in die Wagen, während Falkan die Ochsen bereitmachte.

„Falkan mein Schatz, bleib im Wagen“, ermahnte ihn Ginni.

„Was ist denn los?“, fragte der Junge, er hatte nun wirklich Angst.

Doch seine Ziehmutter antwortete ihm nicht. Sie lief neben den Wagen her, die bereits angerollt waren, und sprang dann zu ihrem Mann auf den Bock. Begleitet vom Klingeln der Schellen rumpelten sie zum Stadttor. Über den Krach hinweg konnten sie das Trampeln schwerer Stiefel hören. Das Stadttor war noch offen, doch hinter ihnen wurden Rufe laut.

„Schließt das Tor!“

Wachen drehten an der Winde und knarrend neigten sich die schweren Torflügel nach innen. Die Spielleute trieben verzweifelt die Ochsen an, doch sie konnten es nicht schaffen. Die Tiere waren einfach zu langsam, die Wagen zu schwer. Mit einem lauten Knall schloss sich das Tor vor ihnen. Sie waren gefangen. Soldaten umzingelten sie. Es waren viel mehr als zuvor.

Der gleiche Anführer rief: „Gebt uns den Jungen und euch wird nichts geschehen!“

Der Junge – damit meinen die mich, wurde Falkan klar.

„Nein!“ rief Joselyn.

Die Soldaten rückten näher. Feuerschein fiel auf Schwerter und Lanzen. „Das ist meine letzte Warnung: Wenn euch euer Leben lieb ist, dann rückt den Jungen raus!“

Falkan sprang auf und fiel dabei fast aus dem Wagen.

„Nein!“ Ginni wollte nach ihm greifen, doch er tänzelte an ihr vorbei.

„Lasst uns in Ruhe!“, schrie Falkan die Soldaten an. Wie hatte er sie nur jemals bewundern können? Seine Angst hatte sich in Zorn verwandelt. Er ballte die Fäuste. Die vielen Fackeln rund um das Tor begannen, wild zu flackern und zu rauchen. Erschrocken sprangen die Soldaten beiseite.

„Falkan, komm her“, murmelte Joselyn. Als Falkan wie angewurzelt stehen blieb, stieg er vom Wagen, ging zu seinem Ziehsohn und legte den Arm um ihn. Den Soldaten rief er zu: „Öffnet das Tor! Lasst uns ziehen! Oder wir brennen eure ganze verdammte Stadt nieder!“

In dem Moment vernahm Falkan ein Zischen neben seinem Ohr, ein Plopp und Joselyn sackte zusammen. Sein Arm rutschte kraftlos am Körper des Jungen herunter. Ginni schrie auf. Falkan drehte sich um und sah Joselyn am Boden liegen. Ein Armbrustbolzen steckte in seiner Brust. Blicklos starrte er in den Himmel.

Nein!“, brüllte Falkan.

Verzweiflung, Wut, Angst – alles mischte sich zu einem gefährlichen Strudel in ihm und das Chaos brach los. Ginni sprang weinend vom Wagen, Selma hinter sich. Jarn stürzte sich auf die Soldaten. Falkan starrte Joselyn an, den er so bewundert hatte, der immer gut zu ihm gewesen war, und dachte er müsse platzen.

Stattdessen platzten die Fackeln. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, Feuer flog in alle Richtungen, regnete auf sie nieder, Schreie überall. Die Ochsen kreischten, die Wagen brannten. Soldaten flohen, wälzten sich über den Boden oder griffen an. Jarn wurde gleich von mehreren umzingelt. Marek und Basso versuchten hektisch, die Wagen zu löschen. Selma wollte Ginni von Jos Körper lösen, doch sie klammerte sich an ihn. Binnen Sekunden stand der ganze Bereich vor dem Tor in Flammen.

Falkan hatte die Hände auf die Ohren gepresst, die Augen zugekniffen, da wich plötzlich alle Kraft aus ihm und er fiel ohnmächtig auf das Pflaster.

 

 

Als er aufwachte, herrschte völlige Finsternis um ihn herum. Er musste sich in einem Raum befinden, unter sich spürte er Stroh. Alles tat ihm weh, es fühlte sich an wie ein heftiger Muskelkater. Was war nur passiert?

Dann prasselten die Erinnerungen auf ihn ein: die Soldaten, die Flucht, Joselyn … Es dauerte einen Moment, bis Falkan klar wurde, was passiert war. Dann kamen die Tränen.

Er weinte lange, bis sich irgendwann eine weitere Erinnerung einstellte: Feuer. Anspannung machte sich in ihm breit. Er hatte das Feuer gerufen, alles hatte gebrannt. Was ist mit den anderen passiert? Sind sie im Feuer umgekommen? Oder haben die Soldaten sie erwischt?

Schwere Schritte näherten sich seinem Gefängnis – denn dass dies ein Gefängnis war, war Falkan vollkommen klar. Er richtete sich kerzengerade auf. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, die Tür wurde aufgestoßen. Das einfallende Licht blendete ihn.

„Komm, Junge. Die Große Zauberin will dich sehen.“ Hörte Falkan Mitleid in der Stimme des Soldaten?

Er ging mit ohne sich zu wehren. Schließlich musste er herausfinden, was mit den anderen passiert war.

Der Soldat brachte ihn in einen riesigen Saal. Teppiche lagen auf dem Boden und hingen zwischen unzähligen Fackeln an den Wänden. An der Stirnseite erhob sich auf einem Podest ein Thronsessel, auf dem die Zauberin saß. Falkan erkannte sie sofort, obwohl er sie noch nie gesehen hatte. Eine Macht umgab diese Frau, die ihn angst und bange werden ließ.

Vor dem Thron blieben sie stehen.

„Ah, mein kleiner Feuerspucker“, säuselte sie mit samtweicher Stimme. „Wie heißt du?“

„Wo sind meine Freunde?“ entgegnete Falkan.

Rums. Der Soldat verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. „Du antwortest der Großen Zauberin, wenn sie dich etwas fragt.“

„Also?“, hakte die Zauberin nach.

Der Junge hielt sich seine schmerzende Wange. „Falkan.“

„Falkan, soso …“ Sie kicherte. „Ich bin die Große Zauberin Calliope. Du wirst mich ab sofort Herrin nennen. Ist das klar?“

Falkan presste die Lippen aufeinander. Der Soldat schlug noch einmal zu, diesmal auf die andere Wange.

„Ist das klar?“ Die Stimme der Zauberin klang schärfer.

„Ja …“, presste Falkan hervor.

Unwillen blitzte in ihren Augen auf.

„Ja … Herrin.“

Die Zauberin lächelte zufrieden. „Deine Spielmannsfreunde sind alle tot.“

Diese Worte trafen Falkan viel härter als die beiden Schläge.

„Sie haben sich gewehrt. Hätten sie dich mir einfach überlassen, hätten sie ihr armseliges Leben behalten können … Zudem hast du undankbares Kind auch noch alles angezündet. Das war ihnen keine Hilfe.“

In Falkans Augen sammelten sich Tränen. Erfolglos versuchte er sie wegzublinzeln.

Befriedigt lächelte die Zauberin auf ihn herab. „Doch ich mag dein Feuer. Du wirst hier bei mir leben. Du wirst tun, was ich sage und wann ich es sage. Hast du verstanden?“

„Ich werde gar nichts tun!“ Falkan machte auf dem Absatz kehrt und rannte zur Tür.

Der Soldat schickte sich an ihm zu folgen, doch die Zauberin winkte ab. Sie lenkte ihre Macht auf den flüchtenden Jungen. Wie erstarrt blieb er stehen. Er wollte nicht, doch in ihm war eine Kraft, die ihn zwang sich umzudrehen und folgsam zum Thron zurückzugehen.

„Du wirst tun, was ich sage. Ob du willst oder nicht.“ Die Stimme der Zauberin war nicht mehr weich, sondern eiskalt.

Gegen seinen Willen kniete Falkan vor ihr nieder. Sein Mund sprach die Worte, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können.

„Ja, Herrin. Ich werde tun, was Ihr sagt.“

 

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