
Prolog
Drei bunt angestrichene Planwagen
ratterten über eine gepflasterte Straße. Sie waren mit Monden und Sternen,
Flammenzungen, fliegenden Bällen und Blumen bemalt. Das Rattern der Holzräder
wurde unterlegt vom Klingeln der Schellen und dem Rufen der Menschen auf den
Wagen. Dieser Lärm war von Weitem zu hören. Auffällig waren die Reisenden auf
den bunten Wagen. Das war ihr Geschäft, denn es waren Spielleute.
Sie waren zu siebt. Auf dem vorderen
Wagen saß Joselyn auf dem Bock. Er war Messerwerfer – ein verdammt guter – und
der Anführer der Schar. Zumindest entschied er, wohin die Reise ging, wo sie
auftraten und wo nicht. Seit seiner Geburt lebte er auf den bunten Wagen. Neben
ihm saß seine Frau und Partnerin beim Messerwerfen, Ginni. Im Wagen lümmelte
der zehnjährige Falkan.
Zur Truppe gehörten noch Basso und
Jarn, der Possenreißer und der Muskelprotz, und Selma und Marek, die Seiltänzerin
und der Musiker. Basso lenkte den mittleren Wagen und sah ein Flackern unter
der Plane vor sich.
„Hey Falkan!“, brüllte er über das
Rumpeln hinweg. „Fackel den Wagen nicht ab!“
Das Gesicht des Jungen erschien in der
Öffnung. Auf seinem Finger tanzte eine etwa zündholzgroße Flamme.
„Keine Sorge! Ich pass schon auf!“,
rief er zurück.
Schließlich kannte er das Feuer nun
viel besser als damals, als er den Wagen beinahe wirklich abgefackelt hätte … Trotzdem
blies er das Flämmchen aus und kroch nach vorne zu Joselyn und Ginni. Die
beiden waren in ein Gespräch vertieft, doch sie unterbrachen es, sobald Falkan
sich zwischen sie auf den Bock quetschte.
„Wo sollen wir dich nur hinstecken,
wenn du weiter so wächst?“, neckte Ginni ihn.
Falkan schmiegte sich an sie. „Ich könnte
reiten.“
„Das würde dir so passen!“ Joselyn
lachte und verstrubbelte ihm die feuerroten Haare. „Nach einem ganzen Tag im
Sattel würde dir der Hintern wehtun, glaub mir.“
Ein Pferd war Falkans neuester Wunsch.
Die Ochsen, die die Wagen zogen, waren zwar praktisch, aber zum Reiten
vollkommen ungeeignet – er hatte es ausprobiert. Die sonst so gutmütigen Tiere
hatten alles versucht, um dieses Kind auf ihrem Rücken schnellstmöglich
loszuwerden. Ein Pferd konnten sie sich allerdings nicht leisten, das war
Falkan klar, daher wechselte er das Thema.
„Wann sind wir da?“
„Es wird schon noch ein paar Stunden
dauern“, antwortete Joselyn.
„Die Hauptstadt … Ist sie groß? Gibt
es da eine Burg? Und Soldaten?“
Ginni lächelte angesichts Falkans
Aufregung. „Nicht nur eine Burg, sondern einen Palast. Alle Soldaten des Landes
werden in der Hauptstadt ausgebildet. Du warst sogar schon mal dort.“
Die Hauptstadt war damals ihr erster
Halt gewesen, nachdem sie das Findelkind am Wegesrand aufgesammelt hatten.
„Wohnt in dem Palast ein König?“
„Nur eine böse Zauberin.“
Mit großen Augen blickte Falkan seinen
Ziehvater an.
„Jos!“, schalt Ginni ihn. „Erzähl dem
Jungen keine Dummheiten.“ Sich Falkan zuwendend fügte sie hinzu: „Sie ist eine
Zauberin, aber du wirst sie niemals böse nennen. Hörst du?“
„In Ordnung.“ Falkan spürte, dass es
seiner Ziehmutter ernst war, auch wenn er den Grund nicht verstand. „Wie sind
die Leute in der Hauptstadt? Mögen sie Spielleute?“
„Na klar. Sie warten nur auf uns. Du
wirst es bald sehen.“
Joselyn erzählte Falkan wie so oft
Geschichten über glorreiche Spielleute, die Königreiche retteten, Schätze
fanden und schöne Frauen liebten. Der Junge hing an seinen Lippen.
Ginni zog sich derweil unter die Plane
zurück. Die böse Zauberin … Diese Worte hatten ihre Sorge noch verstärkt. Sie
hatte nicht in die Hauptstadt gewollt, doch keiner hatte auf sie gehört. Die
anderen wollten dort unbedingt auftreten, es winkte viel Geld. Obendrein kam
Selma aus der Hauptstadt und wollte mal wieder nach Hause. Marek wollte die
Gelegenheit nutzen, um neue Musikstücke zu lernen. Und Falkan … Der Junge war
neugierig auf die größte Stadt des Landes.
Nur sie selbst hatte ein schlechtes
Gefühl bei der Sache. Schon seit Längerem gab es Gerüchte, die Zauberin suche
vier besondere Kinder. Ihr kleiner Falkan war ein besonderes Kind, keine Frage.
Sie hatte ihre Sorgen mit den anderen geteilt, doch die hatten sie weggewischt.
Keinem würde auffallen, was der Junge wirklich konnte, falls doch, wären sie längst
wieder auf der Straße. Sei unbesorgt, Ginni, und denk an das Geld. Der
Winter kommt. Also hatte sie nichts mehr gesagt.
Schließlich erklang der Ruf: „Stadt in
Sicht!“
Falkan stand auf dem Bock, um mehr
sehen zu können. Am Ende der gepflasterten Straße erhob sich eine hohe Mauer
mit bemannten Zinnen, ein paar Türme und der Palast ragten als Einziges über
sie hinaus. Ginni war bereits mehrmals hier gewesen und konnte ihr nichts
abgewinnen.
„Woah! Schaut euch diese Mauer an! Ist
das dahinten der Palast? Der ist ja riesig!“, rief der Junge aufgeregt.
Am viel zu großen Tor wurden sie
aufgehalten. Falkan schaute sich den Wächter genauestens an. Joselyn erklärte
geduldig, sie seien Spielleute und wollen am Marktplatz auftreten. Nach einigem
Hin und Her durften sie endlich passieren, mit der Mahnung im Gepäck, sich
nicht in den Palast zu wagen.
Während sie über die Straßen
holperten, wurde mindestens die halbe Stadtbevölkerung auf sie aufmerksam. Die
Spielleute winkten und luden die Menschen ein, auf den Marktplatz zu kommen.
Jarn ließ seine Muskeln spielen, Marek versuchte ein Liedchen zum Besten zu
geben, das bei diesem Lärm allerdings niemand hörte.
Falkan stand noch immer auf dem Bock.
Glücklich schaute er auf die Menschen am Straßenrand und die Kinder, die neben
den Wagen herliefen. Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. Er fühlte sich
wie der König der Spielleute. Ja, genauso sollte das Leben sein!
Auf dem Marktplatz wurden die Wagen in
einem Dreieck aufgestellt, sodass die Mitte wenigstens ein Minimum an Privatsphäre
für die Spielleute bot.
Die beachtliche Menschenmenge, die
ihnen gefolgt war, verteilte sich auf dem Platz und beobachtete jeden
Handgriff. Falkan fütterte und tränkte die Ochsen, während die anderen
ausluden. Es war klar, dass sie heute nicht mehr rechtzeitig fertig werden würden,
daher vertrösteten sie die Menschen auf morgen. Einige gingen, viele aber
blieben und schauten beim Aufbau zu.
Falkan liebte die Vorstellungen, er
liebte die Truppe und das freie Leben, obwohl es mühselig sein konnte, wenn das
Wetter schlecht war, sie wenig zu essen hatten oder beides. Doch der Auf- und
Abbau war wirklich das Schlimmste. Jedes Teil hatte seinen bestimmten Platz in
den Wagen, die Erwachsenen gingen die Sache routiniert an und trotzdem dauerte
es ewig, bis alles stand, wo es hingehörte.
Am Abend schließlich hatten sie es
geschafft. Joselyn und Basso zündeten sich ein Pfeifchen an, Ginni kochte
inmitten der Wagen und Selma ging, um ihre Familie zu besuchen. Marek war in
ein Gespräch mit einem Flötenspieler versunken und Jarn schäkerte mit ein paar
Frauen. Viele Kinder, die beim Aufbau zugeschaut hatten, waren immer noch da.
„Ich geh spielen!“, rief Falkan zu den
Wagen herüber.
„Sei aber zum Essen wieder da!“
„In Ordnung!“ Falkan rannte zu den
Kindern. „Hallo! Wollen wir spielen?“
Natürlich wollten die Kinder spielen
und etwas über die Vorstellung erfahren. Sie tobten durch die Straßen und über
den Marktplatz, bis es Zeit zum Essen war.
Später, als Falkan zwischen Joselyn
und Ginni im Wagen lag, mollig zugedeckt und zufrieden, sagte er: „Ich mag die
Hauptstadt. Wir haben sogar einen richtigen Soldaten gesehen! Nicht nur so
einen Wächter wie am Tor. Er hatte ein Schwert und eine Lanze. Ich bin auf
morgen gespannt! Die Kinder sagen, der ganze Platz wird voll sein.“
„Oh ja. Es wird prima“, murmelte
Joselyn schläfrig.
Ginni strich ihrem Kleinen zärtlich über
den Kopf. „Falkan, wenn wir morgen auftreten … Zeig nicht alles, was du kannst.“
„Warum?“
„Tu es einfach nicht, ja?“
„Na gut.“
Der Auftritt versprach, phantastisch
zu werden. Bei strahlendem Sonnenschein war der Platz gerammelt voll, einige
Menschen waren sogar auf die Dächer gestiegen. Unter den Zuschauern waren auch
ein paar Soldaten.
Joselyn begrüßte das Publikum und kündigte
auch alle Auftritte an. Den Anfang machte Basso, der die Stimmung der Menschen
mit seinen Späßen anheizte. Es gab viele Lacher. Danach folgte Jarns Auftritt.
Mit seiner puren Muskelkraft verblüffte er alle. Er bog eine Eisenstange, als wäre
sie ein Grashalm. Marek untermalte alles mit der passenden Musik.
Die ersten Aufschreie erntete Selma,
als sie über das Seil balancierte, das sie gestern zwischen den Häusern
gespannt hatten. In der Mitte schlug sie ein Rad und das Publikum applaudierte
laut. Falkan konnte eine Frau in der Menge ausmachen, die Selma ähnlich sah,
bestimmt war es ihre Schwester.
Auf Selmas Auftritt folgte Joselyns
Messerwerfen. Er stellte seine Assistentin Ginni vor und kettete sie an einem hölzernen
Rad fest. Danach zeigte er die Messer. Er demonstrierte ihre Schärfe, indem er
ganz nebenbei Lebensmittel für das Abendessen filetierte. Im Publikum baute
sich eine Spannung auf, die fast mit Händen zu greifen war. Jarn trat zum
Holzrad und drehte es. Ginni wirbelte um ihre eigene Achse. Gelassen sprach
Joselyn weiter mit dem Publikum über Messer und Frauen und Flugbahnen. Sobald
das Rad einigermaßen zum Stehen gekommen war, schleuderte er die Messer – zack
– zack – zack. Die Menschen hielten den Atem an.
Falkan hatte sich früher oft
gewundert, warum sie solche Angst hatten. Joselyn und Ginni würden doch niemals
diese Vorstellung geben, wenn ernsthaft Verletzungsgefahr bestünde. Doch
irgendwann hatte der Junge gelernt, dass die Dramatik eben dazugehörte. Und
Verletzungsrisiken gab es trotzdem immer, egal wie gut man war.
Ginni lächelte den Geschossen
strahlend entgegen. Pock – pock – pock. Die Messer trafen
zielsicher das Holz. Zischend entwich die Luft aus vielen Mündern. Das Publikum
applaudierte erleichtert. Ginni wurde vom Rad abgebunden. Sie und Joselyn
verbeugten sich unter dem Applaus der Menge.
Anspannung machte sich in Falkan
breit. Nun war es so weit. Joselyn kündigte ihn an.
„Sehr verehrte Damen und Herren, liebe
Kinder! Voller Stolz präsentiere ich euch das atemberaubende Spiel mit dem
Feuer! Nirgendwo sonst wird das Feuer heller oder heißer brennen! Nirgendwo
sonst werdet ihr seine Schönheit in aller Pracht sehen können! Habt keine
Angst! Euch und eurer Stadt wird nichts geschehen. Das Feuer ist sein Freund
und wird tun, was er verlangt. Hier ist Falkan!“
Falkan sprang auf die Bühne und
verbeugte sich. In der Hand hatte er eine brennende Fackel. Er streckte die bloße
Hand nach der Flamme aus. Das Publikum beobachtete jede seiner Bewegungen.
Falkan spürte die Hitze, die Flamme küsste seine Haut – er liebte dieses Gefühl.
Während jeder andere Mensch Schmerzen hatte, verbrannt wurde, fühlte er ein
wohliges Kribbeln. Er lächelte glücklich. Ginnis Bitte um Zurückhaltung war längst
vergessen.
Falkan wünschte sich, die Flamme möge
größer werden. Da wurde sie größer. Er griff hinein – das Feuer brannte auf seiner
Haut weiter, ohne ihm etwas anzuhaben. Die Fackel steckte er in eine Vertiefung
im Boden, er brauchte sie nicht mehr. Vor den staunenden Zuschauern warf Falkan
das Feuer von einer Hand in die andere, er ließ es seine nackten Arme hinauf-
und hinunterwandern und dann gab er ihm einen Kuss. Das Publikum seufzte.
Fast schon selbstvergessen spielte er
mit dem Feuer, bevor er seinen neuesten Trick zeigte. Er hatte geübt, die
Flammen dazu zu bringen, sich zu einer Blume zu formen. Es erforderte enorme
Willenskraft und Falkan war stolz, als ihm diesmal eine makellose Lilie gelang.
Er streckte sie einer Frau in der ersten Reihe entgegen. Mit verzücktem Lächeln
wollte sie zugreifen, sie hatte wohl vergessen, dass die Blume aus Feuer
bestand. Zu ihrem Glück löste sich die Blume in diesem Moment in Rauch auf.
Falkan verbeugte sich und die
Zuschauer tobten. Anschließend ging der Junge mit einem Hut herum, in den die
Menschen Münzen warfen.
Noch zweimal traten sie an diesem Tag
auf. Sie verdienten mehr Geld, als Falkan je gesehen hatte. Alle Schausteller
waren sehr zufrieden mit sich.
„Habe ich es euch nicht gesagt? Die
Leute hier haben Geld und zahlen für gute Vorstellungen!“ Selma lachte.
Nur Ginni schaute bedrückt in die
Flammen des Kochfeuers. Natürlich freute sie sich über das Geld, aber sie hatte
auch die Soldaten in der Zuschauermenge gesehen. Nach Falkans Auftritt waren
einige von ihnen gegangen. Das schien den anderen nicht aufgefallen zu sein.
„Lasst uns morgen abbauen. Bitte!“,
bat sie.
„Was sagst du da? Jetzt sind wir das
Gespräch der Stadt. Wir können morgen noch mal so viel verdienen wie heute“,
widersprach Basso.
Ginni wollte antworten, doch Marek
hatte den Finger auf die Lippen gelegt. Nun lauschten auch die anderen. Schwere
Schritte näherten sich. Viele schwere Schritte. Wachsam lugten die Schausteller
um die Wagen herum. Soldaten näherten sich dem Marktplatz.
„Verdammt!“, entfuhr es Joselyn.
„Vielleicht wollen sie nichts von uns“,
hoffte Jarn noch.
Doch die Soldaten kamen so zielstrebig
auf die Wagen der Spielleute zu, dass diese Hoffnung schnell zerstört wurde.
Ginni blickte zu Falkan. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte der Junge zu
den Soldaten.
„Falkan, rasch! Versteck dich im Wagen
und komm auf keinen Fall raus!“
Im Normalfall hätte er widersprochen,
aber das hier war nicht normal. Ihm entging das leise Zittern in Ginnis Stimme
nicht. Flink und leise kletterte er in den Wagen. Dort legte er sich so, dass
er zumindest einen Ausschnitt von dem sehen konnte, was draußen geschah.
Die Soldaten umkreisten die Wagen und
ihr Anführer trat auf die Spielleute zu. „Wer hat hier das Sagen?“, bellte er.
„Ich spreche für die Gruppe“, sagte
Joselyn mit fester Stimme.
„Du hast jetzt eine Audienz bei der
Großen Zauberin. Na los!“ Der Befehlston des Anführers und die vielen
Bewaffneten duldeten keinen Widerspruch.
Ginni trat an die Seite ihres Mannes. „Ich
komme mit.“
„Spielmannspack“, knurrte der Soldat
abfällig.
Die Soldaten nahmen Joselyn und Ginni
in ihre Mitte, dann marschierten sie Richtung Palast davon. Keiner sagte ein
Wort, bis sie verschwunden waren. Als es soweit war, redeten alle
durcheinander.
Falkan schlüpfte aus dem Wagen.
Besorgt schaute er zum Palast. Angst machte sich in ihm breit und er griff nach
Jarns Hand. Die Erwachsenen bemerkten das und rissen sich zusammen.
Jarn legte dem Jungen seinen muskulösen
Arm um die Schultern. „Es wird alles gut, Falk.“
Einen Moment war es still.
Basso straffte sich. „Wir machen, was
Ginni gesagt hat. Wir packen ein.“
Grimmig und schweigend arbeiteten sie.
Zusätzlich zu ihrem Feuer zündete Falkan Fackeln an, um ihnen mehr Licht zu
machen. Sie waren fast fertig, als Joselyn und Ginni zurückkamen. Sie rannten.
„Schnell! Wir müssen hier weg!“, rief
Jos ihnen entgegen.
In größter Eile warfen die Erwachsenen
den Rest ihrer Sachen in die Wagen, während Falkan die Ochsen bereitmachte.
„Falkan mein Schatz, bleib im Wagen“,
ermahnte ihn Ginni.
„Was ist denn los?“, fragte der Junge,
er hatte nun wirklich Angst.
Doch seine Ziehmutter antwortete ihm
nicht. Sie lief neben den Wagen her, die bereits angerollt waren, und sprang
dann zu ihrem Mann auf den Bock. Begleitet vom Klingeln der Schellen rumpelten
sie zum Stadttor. Über den Krach hinweg konnten sie das Trampeln schwerer
Stiefel hören. Das Stadttor war noch offen, doch hinter ihnen wurden Rufe laut.
„Schließt das Tor!“
Wachen drehten an der Winde und
knarrend neigten sich die schweren Torflügel nach innen. Die Spielleute trieben
verzweifelt die Ochsen an, doch sie konnten es nicht schaffen. Die Tiere waren
einfach zu langsam, die Wagen zu schwer. Mit einem lauten Knall schloss
sich das Tor vor ihnen. Sie waren gefangen. Soldaten umzingelten sie. Es waren
viel mehr als zuvor.
Der gleiche Anführer rief: „Gebt uns
den Jungen und euch wird nichts geschehen!“
Der Junge – damit meinen die mich,
wurde Falkan klar.
„Nein!“ rief Joselyn.
Die Soldaten rückten näher.
Feuerschein fiel auf Schwerter und Lanzen. „Das ist meine letzte Warnung: Wenn
euch euer Leben lieb ist, dann rückt den Jungen raus!“
Falkan sprang auf und fiel dabei fast
aus dem Wagen.
„Nein!“ Ginni wollte nach ihm greifen,
doch er tänzelte an ihr vorbei.
„Lasst uns in Ruhe!“, schrie Falkan
die Soldaten an. Wie hatte er sie nur jemals bewundern können? Seine Angst
hatte sich in Zorn verwandelt. Er ballte die Fäuste. Die vielen Fackeln rund um
das Tor begannen, wild zu flackern und zu rauchen. Erschrocken sprangen die
Soldaten beiseite.
„Falkan, komm her“, murmelte Joselyn.
Als Falkan wie angewurzelt stehen blieb, stieg er vom Wagen, ging zu seinem
Ziehsohn und legte den Arm um ihn. Den Soldaten rief er zu: „Öffnet das Tor!
Lasst uns ziehen! Oder wir brennen eure ganze verdammte Stadt nieder!“
In dem Moment vernahm Falkan ein Zischen
neben seinem Ohr, ein Plopp und Joselyn sackte zusammen. Sein Arm
rutschte kraftlos am Körper des Jungen herunter. Ginni schrie auf. Falkan
drehte sich um und sah Joselyn am Boden liegen. Ein Armbrustbolzen steckte in
seiner Brust. Blicklos starrte er in den Himmel.
„Nein!“, brüllte Falkan.
Verzweiflung, Wut, Angst – alles
mischte sich zu einem gefährlichen Strudel in ihm und das Chaos brach los.
Ginni sprang weinend vom Wagen, Selma hinter sich. Jarn stürzte sich auf die
Soldaten. Falkan starrte Joselyn an, den er so bewundert hatte, der immer gut
zu ihm gewesen war, und dachte er müsse platzen.
Stattdessen platzten die Fackeln. Es
gab einen ohrenbetäubenden Knall, Feuer flog in alle Richtungen, regnete
auf sie nieder, Schreie überall. Die Ochsen kreischten, die Wagen brannten.
Soldaten flohen, wälzten sich über den Boden oder griffen an. Jarn wurde gleich
von mehreren umzingelt. Marek und Basso versuchten hektisch, die Wagen zu löschen.
Selma wollte Ginni von Jos Körper lösen, doch sie klammerte sich an ihn. Binnen
Sekunden stand der ganze Bereich vor dem Tor in Flammen.
Falkan hatte die Hände auf die Ohren
gepresst, die Augen zugekniffen, da wich plötzlich alle Kraft aus ihm und er
fiel ohnmächtig auf das Pflaster.
Als er aufwachte, herrschte völlige
Finsternis um ihn herum. Er musste sich in einem Raum befinden, unter sich spürte
er Stroh. Alles tat ihm weh, es fühlte sich an wie ein heftiger Muskelkater.
Was war nur passiert?
Dann prasselten die Erinnerungen auf
ihn ein: die Soldaten, die Flucht, Joselyn … Es dauerte einen Moment, bis
Falkan klar wurde, was passiert war. Dann kamen die Tränen.
Er weinte lange, bis sich irgendwann
eine weitere Erinnerung einstellte: Feuer. Anspannung machte sich in ihm breit.
Er hatte das Feuer gerufen, alles hatte gebrannt. Was ist mit den
anderen passiert? Sind sie im Feuer umgekommen? Oder haben die Soldaten sie
erwischt?
Schwere Schritte näherten sich seinem
Gefängnis – denn dass dies ein Gefängnis war, war Falkan vollkommen klar. Er
richtete sich kerzengerade auf. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, die Tür
wurde aufgestoßen. Das einfallende Licht blendete ihn.
„Komm, Junge. Die Große Zauberin will
dich sehen.“ Hörte Falkan Mitleid in der Stimme des Soldaten?
Er ging mit ohne sich zu wehren.
Schließlich musste er herausfinden, was mit den anderen passiert war.
Der Soldat brachte ihn in einen
riesigen Saal. Teppiche lagen auf dem Boden und hingen zwischen unzähligen
Fackeln an den Wänden. An der Stirnseite erhob sich auf einem Podest ein
Thronsessel, auf dem die Zauberin saß. Falkan erkannte sie sofort, obwohl er
sie noch nie gesehen hatte. Eine Macht umgab diese Frau, die ihn angst und
bange werden ließ.
Vor dem Thron blieben sie stehen.
„Ah, mein kleiner Feuerspucker“, säuselte
sie mit samtweicher Stimme. „Wie heißt du?“
„Wo sind meine Freunde?“ entgegnete
Falkan.
Rums. Der Soldat verpasste ihm eine
schallende Ohrfeige. „Du antwortest der Großen Zauberin, wenn sie dich etwas
fragt.“
„Also?“, hakte die Zauberin nach.
Der Junge hielt sich seine schmerzende
Wange. „Falkan.“
„Falkan, soso …“ Sie kicherte. „Ich
bin die Große Zauberin Calliope. Du wirst mich ab sofort Herrin nennen. Ist das
klar?“
Falkan presste die Lippen aufeinander.
Der Soldat schlug noch einmal zu, diesmal auf die andere Wange.
„Ist das klar?“ Die Stimme der
Zauberin klang schärfer.
„Ja …“, presste Falkan hervor.
Unwillen blitzte in ihren Augen auf.
„Ja … Herrin.“
Die Zauberin lächelte zufrieden. „Deine
Spielmannsfreunde sind alle tot.“
Diese Worte trafen Falkan viel härter
als die beiden Schläge.
„Sie haben sich gewehrt. Hätten sie
dich mir einfach überlassen, hätten sie ihr armseliges Leben behalten können …
Zudem hast du undankbares Kind auch noch alles angezündet. Das war ihnen keine
Hilfe.“
In Falkans Augen sammelten sich Tränen.
Erfolglos versuchte er sie wegzublinzeln.
Befriedigt lächelte die Zauberin auf
ihn herab. „Doch ich mag dein Feuer. Du wirst hier bei mir leben. Du wirst tun,
was ich sage und wann ich es sage. Hast du verstanden?“
„Ich werde gar nichts tun!“ Falkan
machte auf dem Absatz kehrt und rannte zur Tür.
Der Soldat schickte sich an ihm zu
folgen, doch die Zauberin winkte ab. Sie lenkte ihre Macht auf den flüchtenden
Jungen. Wie erstarrt blieb er stehen. Er wollte nicht, doch in ihm war eine
Kraft, die ihn zwang sich umzudrehen und folgsam zum Thron zurückzugehen.
„Du wirst tun, was ich sage. Ob
du willst oder nicht.“ Die Stimme der Zauberin war nicht mehr weich, sondern
eiskalt.
Gegen seinen Willen kniete Falkan vor
ihr nieder. Sein Mund sprach die Worte, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können.
„Ja, Herrin. Ich werde tun, was Ihr
sagt.“
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