Sonntag, 12. Januar 2025

[Schnipseltime] Urplötzlich wir von Iris W. Maron


 

Zur Einordnung: Wir sind ganz zu Beginn des Buchs. Es ist Sommer und Ole auf Heimatbesuch. Er hat gerade in dem Museumsdorf, in dem er als Jugendlicher immer gern war, bei der Emmer-Ernte geholfen und Klaus, der Museumsdirektor, hat ihm angeboten, seine Nachfolge anzutreten. Ole hat kein Interesse an dem Job – noch...

Aber jetzt: die Leseprobe. Das Kennenlernen von Ole und Marius. Oder ist es ein Wiedersehen?

 

Statt das Museumsgelände zu verlassen, halte ich auf den kleinen Kiosk zu. Ich brauche noch einen Moment, bevor ich losfahren kann. Museumsdirektor in der deutschen Provinz. Das kommt für mich so gar nicht in Frage. Auch wenn es natürlich schmeichelhaft ist, dass Klaus an mich denkt.

Beim Kiosk erstehe ich einen Kaffee im Pappbecher und einen Donut, der nur so semifrisch aussieht. Am Essensangebot könnte der neue Direktor noch so einiges verbessern. Nicht, dass mich das betrifft.

Inzwischen hat es aufgehört zu regnen und der Liegestuhl unter der großen Eibe sieht halbwegs trocken aus, also lasse ich mich hineinfallen. Uff, tut das gut. Ich strecke die Beine aus und lege den Kopf in den Nacken. Ganz kurz gestatte ich mir, die Augen zu schließen – dann spüre ich plötzlich etwas Nasses, Heißes auf meiner Hand. Ich reiße die Augen wieder auf und zucke vor. Dabei verschütte ich noch mehr Kaffee.

„Scheiße, verdammte!“

Fluchend stelle ich den Becher auf den Boden und schüttle meine Hand aus, dann pflücke ich die hauchdünne Serviette vom Donut, stecke mir den Donut in den Mund und wische meine Finger trocken. Na ja, trockener zumindest.

Der Donut schmeckt übrigens so, wie er aussieht. Pappkarton mit Zuckerguss.

Plötzlich fällt ein Schatten auf mich. Schwarze Lederschuhe, die heute früh sicher noch geglänzt haben, jetzt aber etwas staubig sind von den Kiespfaden, schieben sich in mein Blickfeld.

„Ole?“

Ich sehe auf – und die Welt bleibt stehen. Diese Augen … Seine Augen sind das Erste, was mir auffällt. Ein helles Blaugrün, stechend und warm zugleich.

Ich habe keinen festen Typ, hatte ich noch nie. Meistens halte ich mich an aufgepumpte Männer, weil das schlicht diejenigen sind, die man überwiegend auf den Partys findet, wo ich Kerle aufzureißen pflege. Die Community ist oberflächlich und wer das Gegenteil behauptet, lügt. Sven oder auch David sind Paradebeispiele für die Kerle, mit denen ich normalerweise etwas habe. Der Mann vor mir ist das komplette Gegenteil von David oder Sven, aber er hat etwas, das ihn viel, viel anziehender macht. Diese intelligenten Augen und den etwas scheuen Blick.

Ein bisschen wie Lady Di.

Ja, schlagt mich, ich war in meiner Kindheit großer Lady Di-Fan. Elton John hätte neben mir noch seriös gewirkt.

Nach einem schier endlosen Moment schaffe ich es, mehr von ihm wahrzunehmen als diese unglaublichen Augen. Er hat ein rundliches Gesicht, weich und sanft, und so kurz geschnittenes Haar, dass ich nicht erkennen kann, ob es aschblond ist oder grau. Kurz lasse ich meinen Blick über seinen Körper schweifen. Eleganter Anzug, hellgrau, gut geschnitten. Pinke Krawatte. Er ist nicht schlank und durch und durch perfekt. Und Gott, sind seine Hände schön. Elegante Finger, lang und schmal und deutlich maskulin. Diese Finger auf meinem Schwanz, an meinen Eiern, und weiter nach hinten streichelnd, zart und doch bestimmt und …

Es dauert eine peinlich lange Weile, bis mir bewusst wird, dass er mich genauso anstarrt wie ich ihn. Er hat etwas gesagt, oder? Ja, er hat etwas gesagt. Aber was? Ich krame in meinem Hirn, während ich hoffentlich unauffällig meine Hand an meiner Hose abwische. Er legt den Kopf schief und zuppelt an seiner Krawatte herum.

Ah, das war’s! Er hat meinen Namen gesagt. Okay, darauf lässt sich doch etwas Intelligentes erwidern. Ich räuspere mich und durchforste mein Hirn noch etwas mehr. Ich bin gut mit Anmachsprüchen und sehr charmant. Jetzt gerade ist davon jedoch nichts zu spüren.

„Kennen wir uns?“ Mehr bringe ich nicht heraus. Wie unglaublich clever.

„Ähm, ja. Wir waren zusammen in der Schule.“

„Wirklich?“ Ich stemme mich hoch, weil ich sonst von meiner Position im Liegestuhl einen Nackenkrampf kriege, wenn ich immer zu ihm hochsehe. Blöderweise melden sich meine strapazierten, überbeanspruchten Muskeln und ich winde mich aus dem Liegestuhl wie ein alter Mann, schwerfällig, langsam und ächzend. Sogar die Hand muss ich mir in den Rücken legen, als ich es endlich auf die Beine geschafft habe und mich mühsam geraderichte.

Er senkt den Blick, während ich die Schultern kreisen lasse und mit dem Nacken knacke. Jetzt, wo er mich nicht mehr überragt, stelle ich fest, dass er fast einen Kopf kleiner ist als ich. Gefällt mir.

„Ich war zwei Jahre unter dir. Marius“, sagt er, während er eingehend seine Schuhspitzen studiert.

Ich nutze den Moment, um ihn ein weiteres Mal gründlich zu mustern. Ich versuche, den Teenager in ihm zu sehen, der er mal war. Pickelig und mit Babyspeck vielleicht oder hager und ungelenk. Es gelingt mir nicht. Er kommt mir nicht im Entferntesten bekannt vor.

Ich schüttle den Kopf und schenke ihm ein entschuldigendes Lächeln. „Tut mir leid. Ich kann mich nicht an dich erinnern. Was eine Schande ist.“

Er sieht auf, schluckt und senkt den Blick wieder. „Ach was, das … Schon gut. Kann ich verstehen. Ich meine …“

Leider sagt er mir nicht, was er meint.

Ich nehme meine Kappe ab und fahre mir durchs Haar. Durchs schweißnasse, völlig verklebte Haar. Oh Gott, ich muss furchtbar aussehen. Und auch dementsprechend riechen.

Automatisch mache ich einen Schritt zurück. Zum Glück kommt der Wind von vorne, da gibt es zumindest eine geringe Chance, dass Marius nicht die volle Breitseite meiner Ausdünstungen abbekommt.

Wo ich schon beim Thema bin, halte ich die Nase in den Wind und schnuppere ein wenig. Ich meine, eine Ahnung seines Dufts abzubekommen. Er riecht sogar gut. Ein Aftershave oder Parfum, das kann ich nicht einordnen, und welcher Duft genau es ist, weiß ich auch nicht, weil ich mich für diese Dinge noch nie interessiert habe. Was ich aber sagen kann, ist: Ich mag den Geruch. Und er passt genauso wenig hierher wie sein schicker Anzug.

„Was machst du hier?“, frage ich aus dem Gedanken heraus. „So schick geht man normalerweise doch nicht ins Museum.“

„Ich hab einen Termin mit Herrn Fraunberger.“

„Ah. Der ist gerade in sein Büro gegangen.“

Marius zückt sein Handy und schaut kurz darauf. „Ich hab noch ein paar Minuten. Ich war viel zu früh dran, darum habe ich mir noch einen Kaffee gekauft.“

„Anscheinend bist du damit besser zurechtgekommen als ich.“ Ich wedle mit meiner armen verbrühten Pfote.

Er grinst. „Zum Glück, ja.“ Endlich sieht er wieder auf und mir in die Augen und – uff. Das ist … So heftig habe ich ewig auf niemanden mehr reagiert.

Automatisch fahre ich mir noch einmal durch das klebrige Etwas, das mal meine Haare waren, und mache einen Schritt auf ihn zu. „Hey, ähm, ich bin nicht mehr lange in der Gegend, aber darf ich dich morgen vielleicht auf einen Kaffee einladen? Auf einen, der sich nicht wehrt, wenn man ihn trinken will.“

Marius schaut über meine Schulter hinweg in Richtung des Museumsgebäudes. „Das ist nett, aber ich fahre morgen in den Urlaub.“

Er klingt etwas abwesend und macht dann tatsächlich einen Schritt um mich herum. Ich drehe mich um, nur um festzustellen, dass Klaus mit schnellen Schritten und einem breiten Lächeln auf uns zukommt.

„Herr Meier, wie schön, dass Sie da sind. Ich habe Sie aus dem Fenster gesehen und dachte mir, ich hole Sie ab“, sagt er und schüttelt Marius herzlich die Hand. „Und unseren Ole haben Sie auch schon gefunden.“

„Wir kennen uns aus der Schule“, sage ich, obwohl ich mich nicht daran erinnere.

„Ah, ist das so? Das Leben ist voller Zufälle, nicht wahr? Aber kommen Sie, Herr Meier, wir haben viel zu besprechen.“ Mit einer ausladenden Handbewegung bedeutet Klaus Marius, ins Hauptgebäude zu gehen. An mich gewandt fügt er hinzu: „Denk darüber nach, was ich gesagt habe, ja?“

Bevor ich antworten kann, führt er Marius nach einem letzten Winken die Treppe zum Museum hinauf.

„Tschüss!“, rufe ich ihnen nach.

An der Tür dreht Marius sich noch einmal zu mir um. Als er bemerkt, dass ich ihn ansehe, schaut er sofort wieder nach vorn und stolpert beinahe über die eigenen Füße. Ich grinse leicht und gönne mir einen Blick auf seinen Hintern, der durchaus mit seinen Augen mithalten kann. Doch nein, selbst wenn ich am laufenden Band solche Termine haben sollte: Museumsdirektor werde ich hier auf gar keinen Fall.

 

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