Montag, 16. Dezember 2024

[Schnipseltime] Ein Tannenbaum für Ben von Bettina Kiraly

 

Der Vater hält sich außerhalb meines Blickfeldes auf. Obwohl wir jede Menge Lampen aufgestellt haben, um späten Einkäufern einen Eindruck von den Bäumen zu ermöglichen, gibt es genug Schatten und dunkle Ecken, auf die mir die Sicht fehlt. Der Junge läuft weiter zu den Bäumen, die besser geeignet sind. Das Kind trägt eine dicke, blaue Jacke. Sein blau-weiß-roter Schal leuchtet zwischen den Zweigen hervor, hinter denen ich lauere.

„Dann nehmen wir den hier. Der geht nicht bis zur Decke.“ Die geringelten Handschuhe zeigen auf eine Nordmanntanne von zwei Metern Höhe.

„Ich weiß, du möchtest unbedingt so ein Riesending aufgestellt haben“, sagt sein Vater. „Für uns beide allein ist der allerdings zu groß.“

„Was kann ich denn dafür, dass Oma und Opa keine Zeit haben, uns zu besuchen?“, beschwert sich das Kind. „Wer mag denn ausgerechnet über Weihnachten eine Kreuzungsfahrt machen?“

„Kreuzfahrt“, korrigiert der Vater. „Deine Großeltern haben die Reise gewonnen. Natürlich werden sie sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Das dürfen wir ihnen nicht vorhalten. Wien im Winter kann zwar romantisch sein. Das Schneechaos erspart man sich allerdings gern. Wir beide machen einfach das Beste daraus. Eine Männerweihnacht. Klingt das nicht großartig?“

„Nein, überhaupt nicht“, sagt sein Sohn ehrlich.

Ich empfinde Mitleid mit dem Kleinen. Dass er nicht sonderlich begeistert ist, kann ich nachvollziehen. Kindern ist dieser Weihnachtskram furchtbar wichtig. Das weiß sogar ich. Wenn ein Berg Geschenke unter einem Baum liegt, den sie bei mir gekauft haben, strahlen sie mit den Lichterketten um die Wette. Ein Teil ihrer Wünsche wird jedoch an diesem Tag nicht erfüllt, wenn nicht alle Familienangehörigen mit dabei sind.

Männerweihnacht. Dann feiert wohl die Mutter oder der zweite Vater des Kindes ebenfalls nicht mit den beiden. Ob sie oder er sich getrennt hat oder nicht mehr lebt? Beides muss für das arme Kind schwer zu verkraften sein.

„Nehmen wir den da“, schlägt der Vater vor. „Ich bezahle ihn jetzt, und wir holen ihn, nachdem wir das Buch besorgt haben, das ich dringend für meine Arbeit brauche.“

Ein Arm erscheint in meinem Sichtfeld und deutet auf einen Baum von nicht mal einem Meter Höhe. Ist das sein Ernst?

„Och, Papa. Der ist viel zu klein. Wir brauchen einen größeren.“

Ganz meine Meinung. Der Kleine muss auf genug verzichten.

Ob das der richtige Zeitpunkt ist, um in Erscheinung zu treten? Langsam pirsche ich mich an.

„Der reicht völlig aus“, behauptet der unsensible Papa.

„Diesen Baum sieht das Christkind doch nicht! Woher soll es wissen, wo es die Geschenke hinlegen soll?“ Der Junge klingt weinerlich.

Mann, das berührt sogar mein Herz, obwohl meine Schwester immer behauptet, ich würde keines besitzen. Noch kann ich den Vater des Kindes nicht erkennen. Neugierig mache ich einen weiteren Schritt vorwärts. Im Moment dreht er mir den Rücken zu und bemerkt nicht, dass ich bereits auf meine Chance lauere, ihm einen Baum zu verkaufen.

„Und für den großen reichen unsere Lichterketten nicht“, erklärt der Dad. Er wendet sich um, damit er die übrigen Exemplare in Augenschein nehmen kann.

Was für ein Leckerbissen! In seinem attraktiven Gesicht fallen mir sofort seine Augen auf. Obwohl sie auf etwas anderes gerichtet sind, kann ich erkennen, wie verblüffend hellblau sie sind. Ein dunkleres Blau am äußeren Rand der Iris verhindert, dass sie übernatürlich wirken. Die breiten Augenbrauen verstärken den Effekt noch. Ob er immer mit diesem Dreitagebart herumläuft? Oder war er heute Morgen bloß zu faul, ihn abzurasieren?

An meinen Bart lasse ich seit Jahren ja nur noch einen Fachmann. Der auffällige Rotton meiner Gesichtsbehaarung verhindert, dass man mein Gesicht für nichtssagender hält, als ich bin. Mein letzter Freund hatte ebenfalls einen kurz gestutzten Bart. Ich habe das Gefühl geliebt, wie seine Stoppeln über meine Haut gekratzt haben, wenn wir uns geküsst haben.

Seltsamer Gedankengang.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Mit dem Abschicken des Kommentars bin ich mit den Datenschutzrichtlinien des Blogs einverstanden.