Sonntag, 10. Dezember 2023

[Schnipseltime] Arabella - Weg der Hoffnung von Nina Beaumont

 

Der Fluss schlug träge gegen das Ufer und die Geräusche des Auwalds und seiner Bewohner waren überall um sie. Es war eine unbeschwerte Symphonie, die beruhigend hätte sein sollen, doch stattdessen diente sie nur dazu, die zwischen ihnen bestehende Spannung hervorzuheben.

Arabella musste sich darauf konzentrieren, ausreichend Luft zu bekommen, denn sie saßen dicht nebeneinander auf einem Baumstamm, der nahe genug am Fluss lag, um einer Entenfamilie dabei zuzusehen, wie sie nach ihrem Essen tauchten. Die Aufregung, die in ihr pochte, war mehr als nur das fast sinnliche Vergnügen eines wilden Ritts, das ein schneller Galopp stets in ihr auslöste. Sie verspürte eine eindringliche, erwartungsvolle Anspannung, die sie noch nie erlebt hatte, und diese Anspannung ließ ihren Atem stocken.

Ein Klumpen Sumpfgras direkt unter Nandos schwarzen Stiefeln schien seine Aufmerksamkeit völlig in Beschlag zu nehmen, und Arabella nutzte seine offensichtliche Faszination von der örtlichen Vegetation, um ihm zu studieren. Das weizenfarbene Haar, das ihm nach dem Ritt in die Stirn fiel. Der Muskel, der neben der Narbe zuckte, die von der Schläfe über seine Wange lief. Die Narbe war im Laufe der Jahre blass und flach geworden, aber Arabella wollte sie berühren, wollte Nando Trost spenden für einen längst vergangenen Schmerz.

Nando spürte Arabellas Blick wie eine Berührung. Und dann plötzlich legte sie ihre Finger an die längst verheilte Narbe, und er verharrte reglos. Ihm kam in den Sinn, dass er genau das tat, was ein wehrloses Tier in der Wildnis tun würde. Er stellte sich tot.

»Es tut mir leid. Ist es sehr lange her?«, fragte Arabella so leise, dass die Worte fast vom Wind davongetragen wurden.

»Austerlitz vor neun Jahren diesen Dezember.« Seine Stimme war schroff, aber Arabellas Finger lösten sich nicht, und Nando sprach weiter. »Es war meine erste Schlacht und obwohl ich den Rang eines Offiziers hatte, war ich grüner als der grünste Rekrut.« Bei der Erinnerung konnte er einen Schauer nicht unterdrücken. »Es war kalt. So kalt.«

Bei dem Gedanken, dass Nando auf dem winterlichen Boden gelegen hatte, hätte Arabella fast geweint. Jung. Blutend. Verängstigt. Da sie ihn für diesen längst vergangenen Schmerz trösten wollte, legte sie ihre Handfläche an seine Wange.

Nando wich zur Seite und packte Arabellas Handgelenk so fest, dass sie einen leisen, erschrockenen Laut ausstieß. »Was machen Sie da?«, fauchte er.

Arabella wollte Nando sagen, dass sie nur Mitgefühl anbot. Dass sie seinen Schmerz und seine Verbitterung nur lindern wollte. Aber sie blieb stumm und schüttelte hilflos den Kopf.

»Sie kleine Närrin.« Nando schnappte nach Luft. »Sie haben keine blasse Ahnung, was Sie da tun.« Der Duft von Maiglöckchen stieg von ihrer seidigen Haut auf, wo seine Finger noch immer ihr Handgelenk umklammerten, und als er in Arabellas saphirfarbenem Blick versank, spürte er, wie seine Wut verrauchte. Gott, da war so viel Wärme in diesen dunkelblauen Tiefen. Genug Wärme, um all die Jahre der Kälte und Gleichgültigkeit vergessen zu lassen. All das Leid und die Erinnerungen, die ihn nachts verfolgten. Und er stellte fest, dass er nach dieser Wärme mit einer Verzweiflung gierte, die ihn bis ins Mark erschütterte.

Arabella sah, wie seine Wut schwand. Dann kam das vertraute Feuer auf, das eine entsprechende Flamme in ihr ausgelöste, aber es wurde von einer Trostlosigkeit durchdrungen, die wie ein Messer durch sie schnitt. Mit ihrer freien Hand löste sie sanft Nandos Finger von ihrem Handgelenk, hob beide Hände, um sein Gesicht zu umfassen, und ermutigte ihn stumm, von ihr zu nehmen, was er zu seinem Trost brauchte.

Nando wurde so still unter ihrer Berührung, dass es den Anschein hatte, als ob er aufgehört hätte zu atmen. Dann bewegte er sich – beugte sich zu Arabella, legte die Arme um sie, zog sie an sich und im nächsten Moment war sein Mund wie ein Gewittersturm auf ihrem.

Einen Augenblick lang ließ seine wilde Berührung Arabella erstarren, doch dann entflammte auch sie. Ihre Hand schob sich von seinem Gesicht in sein Haar und ihre Lippen öffneten sich unter Nandos Gier, noch bevor er sie erobern konnte.

Seine Zunge verführte sie mit einer gnadenlosen Geschicklichkeit, doch Arabella wollte keine einseitige Verführung. Ihre Hände verflochten sich mit seinem Haar und zogen ihn näher. Während ihr Mund seine eigenen Forderungen anstellte, machte sie ein leises Geräusch tief in ihrer Kehle. Ein Laut der Lebensfreude, der ihn willkommen hieß.

Ihr leises Aufstöhnen wirkte auf Nando wie ein Alarmsignal, und mit einem letzten Rest von Besonnenheit rückte er von ihr ab, da er dachte, er hätte ihr wehgetan, sie erschreckt. Doch Arabellas Hände glitten nach unten und umfassten seinen Nacken, also verblieben sie beide so, Mund an Mund, und ihre ungestümen Atemzüge verquickten sich miteinander. Aber dann wich Nando zurück.

»Bleib«, flüsterte Arabella, hob ihren Mund eine Spur und – verwundert über ihre eigene Kühnheit – berührte mit der Zungenspitze seine Unterlippe. Ihre Hände nahmen den Schauer auf, der durch ihn lief, und die Art, wie Nandos Hände sie plötzlich fester hielten, vermittelte ihr eine Ahnung ihrer eigenen Macht.

»Weißt du, was du da tust?«, fragte Nando mit rauer Stimme.

»Ja.« Arabella lächelte, ihr Mund an seinem. »Ich bitte dich, mich noch einmal zu küssen.«

Nando hielt Arabella weg von sich und blickte auf ihr Gesicht hinab. Er suchte nach Selbstsüchtigkeit, sah aber Freizügigkeit. Er suchte nach Liederlichkeit, sah aber unschuldiges Verlangen, das am Erblühen war. Noch ein Augenblick, handelte er mit sich selbst, als würde er mit dem Teufel persönlich feilschen. Nur noch ein einziger Augenblick.

Langsam senkte er den Mund. Diesmal beherrschte sich Nando und erkundete Arabellas Lippen mit sanfter Zunge. Süß. Sie schmeckte so süß.

Instinktiv öffnete sie sich seinem Kuss, doch Nando reagierte nicht auf ihre Einladung. Stattdessen wanderte sein Mund von ihren Lippen langsam über ihre Wange und kostete die empfindliche Haut unter ihrem Ohr.

Die Empfindungen, die Nandos Mund entfesselte, waren betörend, und Arabella biss sich auf die Lippe, um nicht in ihrem Sinnestaumel aufzuschreien, aber es war sein Mund, den sie wieder kosten wollte, der leicht nach Kaffee und Tabak schmeckte. Arabellas Hände glitten wieder in sein Haar und zogen ihn zurück an die Stelle, wo sie ihn am dringendsten spüren wollte.

Diesmal gab Nando der Versuchung nach. Geruhsam erkundete er die Weichheit ihrer Lippen, ehe er langsam weiter drang. Sie wich nicht zurück und Nando nützte seinen Vorteil und provozierte sie, bis alle Sanftheit, alles Zögern verflogen waren und ihre Zunge mit seiner in einem Wirbel aus Lust tanzte.

Arabella gab sich dem Kuss hin und ihr letzter klarer Gedanke war, dass sie vielleicht träumte. Sie schwebte in einer Welt reiner Empfindung, während ihre Finger sich in seinem Haar verstrickten. Sein Duft war plötzlich der einzige Geruch auf der Welt. Sein Geschmack der einzige Geschmack. Die gesamte Oberfläche ihrer Haut kribbelte, und tief in ihrem Inneren pochte eine Sehnsucht und verströmte eine köstliche Schwäche durch ihre Gliedmaßen.

Nandos Hand glitt abwärts und die Begegnung mit der üppigen Rundung von Arabellas Brust riss ihn aus der sinnlichen Euphorie, in der er sich verloren hatte. Als er erkannte, wie weit er sich bereits erlaubt hatte zu gehen, ließ Nando von der Süße ihrer Lippen ab. Er zwang sich, aus der Welle an Empfindungen aufzutauchen, in der er gerade ertrank, und öffnete die Augen.

Arabella lag in der Biegung seines Arms, den Mund leicht geöffnet, ihre Wangen errötet, ihre Atemzüge schnell und flach. Ihr Geschmack lag noch immer auf seinen Lippen – eine Süße, die er noch nie erlebt hatte. Er sah zu, wie sie die Lider hob und die schläfrige Hitze in ihren strahlend blauen Augen ließ ihn die nächste Stufe an Erregung erklimmen.

Ein unberührtes Mädchen könnte unmöglich mit solcher Intensität, solcher Willigkeit reagieren, dachte Nando. Arabella war genau wie alle anderen, redete er sich ein. Er würde sie nehmen und sich von diesem verzweifelten Verlangen befreien. Das eisige Gefühl, das sich um sein Herz schloss und die Zärtlichkeit erstickte, war ihm beinahe willkommen. Doch noch immer strömte Begierde durch seine Adern.

Als Arabella sah, wie Nandos Augen von Schmelzsilber zu Eis wurden, erschauerte sie. Sie war ehrlich gewesen, dachte sie mit einem Seufzen, und wieder einmal würde sie den Preis dafür bezahlen.

Nando setzte Arabella aufrecht hin, seine nachlässige, gleichgültige Berührung eine Beleidigung, und wandte den Blick ab.

Die rasante Veränderung von Nandos Stimmung verletzte sie wie ein Messerstich. Warum machte er das, fragte sie sich stumm. Was hatte sie getan, um diese plötzliche Kälte zu verdienen?

»Bestrafst du immer Leute dafür, ehrlich zu sein?« Arabellas Stimme war noch immer atemlos von ihrem Kuss.

Nandos Kopf fuhr zu ihr herum. »Was meinst du damit?«

»Ich habe nicht versucht, meine Gefühle zu verheimlichen. Ich war ehrlich mit dir, und du bestrafst mich dafür. Warum?«, wollte Arabella wissen und bemühte sich nicht, ihre Gekränktheit zu verbergen. »Hast du einen Grund dafür oder machst du es nur so zum Vergnügen?«

»Wovon redest du da?«, erwiderte Nando. Er drehte sich zum Fluss hin und fragte sich, ob sie sehen konnte, welche Angst er hatte, sich ihr zu öffnen, sich verletzlich zu geben.

Als Arabella vergeblich darauf wartete, dass er sich wieder ihr zuwandte, begann Wut in ihr zu brodeln. »Junge Damen mit makellosem Ruf reagieren nicht so auf einen Kuss, oder?«, fauchte sie, da sie ein Ventil für die Spannung in ihr brauchte. »Sie erröten und lächeln affektiert und brauchen Riechsalz. Gott bewahre, dass sie Sehnsucht empfinden.« Sie machte eine Pause und kniff die Augen zusammen. »Oder wolltest du dir nur einen Streich erlauben?«

Nando fuhr zu ihr herum und seine Hände legten sich grob auf ihre Schultern. »Verdammt, du bist eine Hexe, Arabella.«

Er hob die Hände und vergrub sie in Arabellas zerzaustem Haar. Als er sie achtlos festhielt, sein Mund wild auf ihrem, wollte Nando sie dafür bestrafen, seine Gedanken gelesen zu haben. Sie bestrafen, weil sie ihn dazu gebracht hatte, sie mit schmerzhafter Eindringlichkeit zu begehren. Sie bestrafen, weil sie so anders als die anderen zu sein schien, obwohl er so sicher war, dass sie genau gleich war.

Aber ihre schlaffe Gestalt unter ihm, wo vorhin so viel pulsierendes Leben gewesen war, riss ihn aus seinem momentanen Wahn. Er ließ von Arabellas Mund ab und presste ihr Gesicht an seinen Uniformrock, nicht gewillt, sie die Qual und den Selbstekel auf seinem Gesicht sehen zu lassen. Doch ihre Hände drückten unnachgiebig gegen seine Brust, bis er gezwungen war, seinen Griff zu lockern.

Doch Arabella wich nicht vor ihm zurück, wie er erwartet hatte. Stattdessen legte sie die Stirn leicht an sein Kinn und ließ ihre Hände flach auf seiner Uniform liegen.

»Ich werde dich nicht anlügen, Nando«, sagte Arabella leise. »Das war nicht mein erster Kuss, aber ich habe noch nie gefühlt, was ich …« Sie machte eine Pause und ihre Hände drückten fester gegen seine Brust. »Ich werde dich nicht anflehen, mir zu glauben, aber mit der Zeit wirst du erkennen, dass es die Wahrheit ist.«

Nando spürte, wie Arabellas Atem über den steifen Kragen seiner Uniform strömte, seine Haut erhitzte und einen Schauer über seinen Rücken jagte. Er lehnte sich zurück und sah auf sie hinab. Ein sanftes Lächeln lag auf ihrem Mund, den er so wild geküsst hatte, und ihre Augen schimmerten mit dieser berückenden Wärme, an die er so dringend glauben wollte. Gott, sie war bezaubernd. Er hatte sie für die von anderen Frauen begangenen Sünden bestraft, und er schämte sich plötzlich so darüber, dass es ihm heiß wurde.

»Vergib mir, Arabella.«

Ihre Hand berührte sanft Nandos Mund und brachte ihn zum Schweigen. »Niemand sollte sich dafür entschuldigen müssen, wenn er im Schmerz losschlägt. Wir reden jetzt nicht mehr«, flüsterte Arabella. Auch wenn das, was sie sagte, ihr Ernst war, änderte das nichts an der Tatsache, dass er sie verletzt hatte.

Sie standen auf, klopften sich Rinde und Moos von ihrer Kleidung und gingen schweigend zu den Pferden.

Nando half Arabella beim Aufsteigen und als er zu ihr hochblickte, umspielte die Andeutung eines Lächelns seine Lippen. »Wenn wir morgen zusammen ausreiten, werde ich mich von meiner besten Seite zeigen.«

Arabella schüttelte den Kopf. »Ich habe schon etwas vor.«

»Das Waisenhaus?«

Arabellas Augen weiteten sich. »Woher hast du das gewusst?«

Ihre gezeigte Überraschung enttäuschte Nando. »Ganz Wien weiß mittlerweile, dass du in einem Waisenhaus die gute Fee spielst.«

Arabella senkte die Lider, um den Schmerz zu verbergen, der mit Sicherheit in ihren Augen zu sehen war. Also so sah er sie wirklich, dachte sie traurig.

»Komm irgendwann mit und überzeug dich selbst.«

Lange Zeit sah Nando Arabella in die Augen. Unter der Wärme und Weichheit lag eine Entschlossenheit, die ihn herausforderte und provozierte. War sie unschuldig oder eine Verführerin? Es spielte keine Rolle, dachte er. Ganz egal, was sie war, er konnte es sich nicht leisten, ihr zu vertrauen.


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