Der Fluss schlug träge gegen das Ufer und die Geräusche des Auwalds und
seiner Bewohner waren überall um sie. Es war eine unbeschwerte Symphonie, die
beruhigend hätte sein sollen, doch stattdessen diente sie nur dazu, die
zwischen ihnen bestehende Spannung hervorzuheben.
Arabella musste sich darauf konzentrieren, ausreichend
Luft zu bekommen, denn sie saßen dicht nebeneinander auf einem Baumstamm, der
nahe genug am Fluss lag, um einer Entenfamilie dabei zuzusehen, wie sie nach
ihrem Essen tauchten. Die Aufregung, die in ihr pochte, war mehr als nur das
fast sinnliche Vergnügen eines wilden Ritts, das ein schneller Galopp stets in
ihr auslöste. Sie verspürte eine eindringliche, erwartungsvolle Anspannung, die
sie noch nie erlebt hatte, und diese Anspannung ließ ihren Atem stocken.
Ein Klumpen Sumpfgras direkt unter Nandos schwarzen
Stiefeln schien seine Aufmerksamkeit völlig in Beschlag zu nehmen, und Arabella
nutzte seine offensichtliche Faszination von der örtlichen Vegetation, um ihm
zu studieren. Das weizenfarbene Haar, das ihm nach dem Ritt in die Stirn fiel.
Der Muskel, der neben der Narbe zuckte, die von der Schläfe über seine Wange
lief. Die Narbe war im Laufe der Jahre blass und flach geworden, aber Arabella
wollte sie berühren, wollte Nando Trost spenden für einen längst vergangenen
Schmerz.
Nando spürte Arabellas Blick wie eine Berührung. Und
dann plötzlich legte sie ihre Finger an die längst verheilte Narbe, und er
verharrte reglos. Ihm kam in den Sinn, dass er genau das tat, was ein wehrloses
Tier in der Wildnis tun würde. Er stellte sich tot.
»Es tut mir leid. Ist es sehr lange her?«, fragte
Arabella so leise, dass die Worte fast vom Wind davongetragen wurden.
»Austerlitz vor neun Jahren diesen Dezember.« Seine
Stimme war schroff, aber Arabellas Finger lösten sich nicht, und Nando sprach
weiter. »Es war meine erste Schlacht und obwohl ich den Rang eines Offiziers
hatte, war ich grüner als der grünste Rekrut.« Bei der Erinnerung konnte er
einen Schauer nicht unterdrücken. »Es war kalt. So kalt.«
Bei dem Gedanken, dass Nando auf dem winterlichen Boden
gelegen hatte, hätte Arabella fast geweint. Jung. Blutend. Verängstigt. Da sie
ihn für diesen längst vergangenen Schmerz trösten wollte, legte sie ihre
Handfläche an seine Wange.
Nando wich zur Seite und packte Arabellas Handgelenk so
fest, dass sie einen leisen, erschrockenen Laut ausstieß. »Was machen Sie da?«,
fauchte er.
Arabella wollte Nando sagen, dass sie nur Mitgefühl
anbot. Dass sie seinen Schmerz und seine Verbitterung nur lindern wollte. Aber
sie blieb stumm und schüttelte hilflos den Kopf.
»Sie kleine Närrin.« Nando schnappte nach Luft. »Sie
haben keine blasse Ahnung, was Sie da tun.« Der Duft von Maiglöckchen stieg von
ihrer seidigen Haut auf, wo seine Finger noch immer ihr Handgelenk
umklammerten, und als er in Arabellas saphirfarbenem Blick versank, spürte er,
wie seine Wut verrauchte. Gott, da war so viel Wärme in diesen dunkelblauen
Tiefen. Genug Wärme, um all die Jahre der Kälte und Gleichgültigkeit vergessen
zu lassen. All das Leid und die Erinnerungen, die ihn nachts verfolgten. Und er
stellte fest, dass er nach dieser Wärme mit einer Verzweiflung gierte, die ihn
bis ins Mark erschütterte.
Arabella sah, wie seine Wut schwand. Dann kam das
vertraute Feuer auf, das eine entsprechende Flamme in ihr ausgelöste, aber es
wurde von einer Trostlosigkeit durchdrungen, die wie ein Messer durch sie
schnitt. Mit ihrer freien Hand löste sie sanft Nandos Finger von ihrem
Handgelenk, hob beide Hände, um sein Gesicht zu umfassen, und ermutigte ihn
stumm, von ihr zu nehmen, was er zu seinem Trost brauchte.
Nando wurde so still unter ihrer Berührung, dass es den
Anschein hatte, als ob er aufgehört hätte zu atmen. Dann bewegte er sich –
beugte sich zu Arabella, legte die Arme um sie, zog sie an sich und im nächsten
Moment war sein Mund wie ein Gewittersturm auf ihrem.
Einen Augenblick lang ließ seine wilde Berührung
Arabella erstarren, doch dann entflammte auch sie. Ihre Hand schob sich von
seinem Gesicht in sein Haar und ihre Lippen öffneten sich unter Nandos Gier,
noch bevor er sie erobern konnte.
Seine Zunge verführte sie mit einer gnadenlosen
Geschicklichkeit, doch Arabella wollte keine einseitige Verführung. Ihre Hände
verflochten sich mit seinem Haar und zogen ihn näher. Während ihr Mund seine
eigenen Forderungen anstellte, machte sie ein leises Geräusch tief in ihrer
Kehle. Ein Laut der Lebensfreude, der ihn willkommen hieß.
Ihr leises Aufstöhnen wirkte auf Nando wie ein
Alarmsignal, und mit einem letzten Rest von Besonnenheit rückte er von ihr ab,
da er dachte, er hätte ihr wehgetan, sie erschreckt. Doch Arabellas Hände
glitten nach unten und umfassten seinen Nacken, also verblieben sie beide so,
Mund an Mund, und ihre ungestümen Atemzüge verquickten sich miteinander. Aber
dann wich Nando zurück.
»Bleib«, flüsterte Arabella, hob ihren Mund eine Spur
und – verwundert über ihre eigene Kühnheit – berührte mit der Zungenspitze
seine Unterlippe. Ihre Hände nahmen den Schauer auf, der durch ihn lief, und
die Art, wie Nandos Hände sie plötzlich fester hielten, vermittelte ihr eine
Ahnung ihrer eigenen Macht.
»Weißt du, was du da tust?«, fragte Nando mit rauer
Stimme.
»Ja.« Arabella lächelte, ihr Mund an seinem. »Ich bitte
dich, mich noch einmal zu küssen.«
Nando hielt Arabella weg von sich und blickte auf ihr
Gesicht hinab. Er suchte nach Selbstsüchtigkeit, sah aber Freizügigkeit. Er
suchte nach Liederlichkeit, sah aber unschuldiges Verlangen, das am Erblühen
war. Noch ein Augenblick, handelte er mit sich selbst, als würde er mit dem
Teufel persönlich feilschen. Nur noch ein einziger Augenblick.
Langsam senkte er den Mund. Diesmal beherrschte sich
Nando und erkundete Arabellas Lippen mit sanfter Zunge. Süß. Sie schmeckte so
süß.
Instinktiv öffnete sie sich seinem Kuss, doch Nando
reagierte nicht auf ihre Einladung. Stattdessen wanderte sein Mund von ihren
Lippen langsam über ihre Wange und kostete die empfindliche Haut unter ihrem
Ohr.
Die Empfindungen, die Nandos Mund entfesselte, waren
betörend, und Arabella biss sich auf die Lippe, um nicht in ihrem Sinnestaumel
aufzuschreien, aber es war sein Mund, den sie wieder kosten wollte, der leicht
nach Kaffee und Tabak schmeckte. Arabellas Hände glitten wieder in sein Haar
und zogen ihn zurück an die Stelle, wo sie ihn am dringendsten spüren wollte.
Diesmal gab Nando der Versuchung nach. Geruhsam
erkundete er die Weichheit ihrer Lippen, ehe er langsam weiter drang. Sie wich
nicht zurück und Nando nützte seinen Vorteil und provozierte sie, bis alle
Sanftheit, alles Zögern verflogen waren und ihre Zunge mit seiner in einem
Wirbel aus Lust tanzte.
Arabella gab sich dem Kuss hin und ihr letzter klarer
Gedanke war, dass sie vielleicht träumte. Sie schwebte in einer Welt reiner
Empfindung, während ihre Finger sich in seinem Haar verstrickten. Sein Duft war
plötzlich der einzige Geruch auf der Welt. Sein Geschmack der einzige
Geschmack. Die gesamte Oberfläche ihrer Haut kribbelte, und tief in ihrem
Inneren pochte eine Sehnsucht und verströmte eine köstliche Schwäche durch ihre
Gliedmaßen.
Nandos Hand glitt abwärts und die Begegnung mit der
üppigen Rundung von Arabellas Brust riss ihn aus der sinnlichen Euphorie, in
der er sich verloren hatte. Als er erkannte, wie weit er sich bereits erlaubt
hatte zu gehen, ließ Nando von der Süße ihrer Lippen ab. Er zwang sich, aus der
Welle an Empfindungen aufzutauchen, in der er gerade ertrank, und öffnete die
Augen.
Arabella lag in der Biegung seines Arms, den Mund
leicht geöffnet, ihre Wangen errötet, ihre Atemzüge schnell und flach. Ihr
Geschmack lag noch immer auf seinen Lippen – eine Süße, die er noch nie erlebt
hatte. Er sah zu, wie sie die Lider hob und die schläfrige Hitze in ihren
strahlend blauen Augen ließ ihn die nächste Stufe an Erregung erklimmen.
Ein unberührtes Mädchen könnte unmöglich mit solcher
Intensität, solcher Willigkeit reagieren, dachte Nando. Arabella war genau wie
alle anderen, redete er sich ein. Er würde sie nehmen und sich von diesem
verzweifelten Verlangen befreien. Das eisige Gefühl, das sich um sein Herz
schloss und die Zärtlichkeit erstickte, war ihm beinahe willkommen. Doch noch
immer strömte Begierde durch seine Adern.
Als Arabella sah, wie Nandos Augen von Schmelzsilber zu
Eis wurden, erschauerte sie. Sie war ehrlich gewesen, dachte sie mit einem
Seufzen, und wieder einmal würde sie den Preis dafür bezahlen.
Nando setzte Arabella aufrecht hin, seine nachlässige,
gleichgültige Berührung eine Beleidigung, und wandte den Blick ab.
Die rasante Veränderung von Nandos Stimmung verletzte
sie wie ein Messerstich. Warum machte er das, fragte sie sich stumm. Was hatte
sie getan, um diese plötzliche Kälte zu verdienen?
»Bestrafst du immer Leute dafür, ehrlich zu sein?«
Arabellas Stimme war noch immer atemlos von ihrem Kuss.
Nandos Kopf fuhr zu ihr herum. »Was meinst du damit?«
»Ich habe nicht versucht, meine Gefühle zu
verheimlichen. Ich war ehrlich mit dir, und du bestrafst mich dafür. Warum?«,
wollte Arabella wissen und bemühte sich nicht, ihre Gekränktheit zu verbergen.
»Hast du einen Grund dafür oder machst du es nur so zum Vergnügen?«
»Wovon redest du da?«, erwiderte Nando. Er drehte sich
zum Fluss hin und fragte sich, ob sie sehen konnte, welche Angst er hatte, sich
ihr zu öffnen, sich verletzlich zu geben.
Als Arabella vergeblich darauf wartete, dass er sich
wieder ihr zuwandte, begann Wut in ihr zu brodeln. »Junge Damen mit makellosem
Ruf reagieren nicht so auf einen Kuss, oder?«, fauchte sie, da sie ein Ventil
für die Spannung in ihr brauchte. »Sie erröten und lächeln affektiert und
brauchen Riechsalz. Gott bewahre, dass sie Sehnsucht empfinden.« Sie machte
eine Pause und kniff die Augen zusammen. »Oder wolltest du dir nur einen
Streich erlauben?«
Nando fuhr zu ihr herum und seine Hände legten sich
grob auf ihre Schultern. »Verdammt, du bist eine Hexe, Arabella.«
Er hob die Hände und vergrub sie in Arabellas
zerzaustem Haar. Als er sie achtlos festhielt, sein Mund wild auf ihrem, wollte
Nando sie dafür bestrafen, seine Gedanken gelesen zu haben. Sie bestrafen, weil
sie ihn dazu gebracht hatte, sie mit schmerzhafter Eindringlichkeit zu
begehren. Sie bestrafen, weil sie so anders als die anderen zu sein schien,
obwohl er so sicher war, dass sie genau gleich war.
Aber ihre schlaffe Gestalt unter ihm, wo vorhin so viel
pulsierendes Leben gewesen war, riss ihn aus seinem momentanen Wahn. Er ließ
von Arabellas Mund ab und presste ihr Gesicht an seinen Uniformrock, nicht
gewillt, sie die Qual und den Selbstekel auf seinem Gesicht sehen zu lassen.
Doch ihre Hände drückten unnachgiebig gegen seine Brust, bis er gezwungen war,
seinen Griff zu lockern.
Doch Arabella wich nicht vor ihm zurück, wie er
erwartet hatte. Stattdessen legte sie die Stirn leicht an sein Kinn und ließ
ihre Hände flach auf seiner Uniform liegen.
»Ich werde dich nicht anlügen, Nando«, sagte Arabella
leise. »Das war nicht mein erster Kuss, aber ich habe noch nie gefühlt, was ich
…« Sie machte eine Pause und ihre Hände drückten fester gegen seine Brust. »Ich
werde dich nicht anflehen, mir zu glauben, aber mit der Zeit wirst du erkennen,
dass es die Wahrheit ist.«
Nando spürte, wie Arabellas Atem über den steifen
Kragen seiner Uniform strömte, seine Haut erhitzte und einen Schauer über
seinen Rücken jagte. Er lehnte sich zurück und sah auf sie hinab. Ein sanftes
Lächeln lag auf ihrem Mund, den er so wild geküsst hatte, und ihre Augen
schimmerten mit dieser berückenden Wärme, an die er so dringend glauben wollte.
Gott, sie war bezaubernd. Er hatte sie für die von anderen Frauen begangenen
Sünden bestraft, und er schämte sich plötzlich so darüber, dass es ihm heiß wurde.
»Vergib mir, Arabella.«
Ihre Hand berührte sanft Nandos Mund und brachte ihn
zum Schweigen. »Niemand sollte sich dafür entschuldigen müssen, wenn er im
Schmerz losschlägt. Wir reden jetzt nicht mehr«, flüsterte Arabella. Auch wenn
das, was sie sagte, ihr Ernst war, änderte das nichts an der Tatsache, dass er
sie verletzt hatte.
Sie standen auf, klopften sich Rinde und Moos von ihrer
Kleidung und gingen schweigend zu den Pferden.
Nando half Arabella beim Aufsteigen und als er zu ihr
hochblickte, umspielte die Andeutung eines Lächelns seine Lippen. »Wenn wir
morgen zusammen ausreiten, werde ich mich von meiner besten Seite zeigen.«
Arabella schüttelte den Kopf. »Ich habe schon etwas
vor.«
»Das Waisenhaus?«
Arabellas Augen weiteten sich. »Woher hast du das
gewusst?«
Ihre gezeigte Überraschung enttäuschte Nando. »Ganz
Wien weiß mittlerweile, dass du in einem Waisenhaus die gute Fee spielst.«
Arabella senkte die Lider, um den Schmerz zu verbergen,
der mit Sicherheit in ihren Augen zu sehen war. Also so sah er sie wirklich,
dachte sie traurig.
»Komm irgendwann mit und überzeug dich selbst.«
Lange Zeit sah Nando Arabella in die Augen. Unter der
Wärme und Weichheit lag eine Entschlossenheit, die ihn herausforderte und
provozierte. War sie unschuldig oder eine Verführerin? Es spielte keine Rolle,
dachte er. Ganz egal, was sie war, er konnte es sich nicht leisten, ihr zu
vertrauen.
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