Samstag, 14. Oktober 2023

[Schnipseltime] Noch mehr Abenteuer mit Ratte Prinz und Rapunzel von Annette Paul


 

Prinz geht ins Weihnachtsmärchen

Meine Freundin Rapunzel redet seit Tagen nur noch von dem Weihnachtsmärchen. Ihr großer Bruder Winnetou hat versprochen, mit ihr und ihrer Freundin Luisa ins Theater zu gehen. Es gibt Froschkönig. Die Mädchen sind schon ganz aufgeregt.

Natürlich will ich dabei sein. „Nimmst du mich mit?“, frage ich.

„Nein, Winnetou hat es verboten.“ Ohne aufzusehen, malt sie einen Frosch in ihren Malblock.

Irgendwie werde ich es schaffen mitzukommen.

Schneeweißchen muss das Märchen vorlesen. Ich mag es nicht. Hoffentlich kommt Rapunzel nicht auf die Idee, mich an die Wand zu werfen. Ich bin nämlich ein verzauberter Prinz. Leider wurde einer meiner Vorfahren in eine Ratte verhext. Ich und meine Familie bleiben so lange Ratten, bis ein liebes Mädchen uns erlöst. Aber ich will nicht an die Wand geworfen werden!

Küssen gefällt mir schon viel besser. Aber so ist das Märchen nicht. Und als verzauberter Prinz hoffe ich, dass Rapunzel wirklich die Prinzessin ist, die mich erlöst. Doch nicht, indem sie mich wie einen Ball durch die Gegend schleudert. Davon bekomme ich nämlich nur blaue Flecke. Vielleicht breche ich mir sogar ein Bein. Wie sieht eine Ratte mit Gipsbein wohl aus? Nein, ich muss unbedingt mit ins Theater, um sofort einzugreifen, wenn Rapunzel auf komische Ideen kommen sollte.

Außerdem bin ich wissbegierig und möchte einmal ein Theater von innen erkunden. Leider lässt Rapunzel nicht mit sich reden. Winnetou hat nämlich gedroht, sofort mit ihr nach Hause zu gehen, wenn er mich entdeckt. Also muss ich es schlau anstellen.

Am Freitag hat Rapunzel keine Zeit für mich. Gleich nach der Schule muss sie sich umziehen. Sie kämmt sich sogar ihre langen Haare und Schneeweißchen flicht neue Zöpfe. Während die beiden Mädchen beschäftigt sind, schleiche ich in den Flur. Tatsächlich, Rapunzels guter Mantel hängt an der Garderobe, direkt neben dem Regenmantel ihres Vaters. Der ist lang und reicht bis zum Schuhregal. Kein Problem für mich. Im Nu bin ich über die Schuhe geturnt, an dem Regenmantel hochgeklettert und in Rapunzels Manteltasche verschwunden.

Jetzt muss ich mich nur gedulden. Wollten sie nicht gleich aufbrechen? Keiner kommt. Rapunzel ist schon hübsch genug. Warum geht es nicht los? Langweilig ist es hier. Ich luge aus der Tasche. Sinnlos. Es lässt sich keiner blicken.

Ob ich noch schnell in die Küche husche, um mir ein paar Weihnachtskekse als Proviant zu besorgen? Mein Magen knurrt. Sicher verrät er mich gleich. Nein, wenn ich jetzt weggehe, verpasse ich womöglich den Ausflug.

Vor Langeweile schlafe ich ein und wache erst auf, als Rapunzel sich den Mantel überzieht. Fast schleudert sie mich dabei gegen die Wand. Kann sie nicht etwas vorsichtiger sein? Leider darf ich ihr nicht meine Meinung sagen, weil ich mich sonst verrate.

Es klingelt an der Tür. „Seid ihr fertig?“, fragt Luisa.

Gleich darauf marschieren wir los. Gespannt warte ich, was weiter passiert. Kann ich damit rechnen, dass das Theaterstück in der Schulaula aufgeführt wird? Wie öde! Ich wollte doch ein großes, vornehmes Theater besichtigen und keine Schule.

Außerdem hängt Winnetou die Mäntel an die Garderobe. Wie komme ich jetzt aus der Tasche in den Saal? Wenn ich rausspringe und renne, gibt es bestimmt einen Tumult. Menschen sind so komisch, wenn sie Ratten sehen. Nein, ich muss mein Köpfchen anstrengen. Also warte ich geduldig. Erst nachdem es leiser geworden ist, schaue ich vorsichtig hinaus. Der Flur ist fast leer. Ich wage es und turne an den Jacken hinunter, soweit es geht. Das letzte Stückchen springe ich.

Dann husche ich an der Wand entlang bis zur Tür. Mist. Geschlossen. Also laufe ich weiter. Doch alle Türen sind zu. Da spüre ich Zugluft. Der folge ich eine Treppe hinunter, danach durch einen langen Gang im Keller. Jetzt höre ich Stimmen, sie werden immer lauter.

Ich klettere eine Stiege hinauf. Oben stehe ich hinter Vorhängen. Langsam schiebe ich mich unter dem Stoff durch und kneife, vom grellen Licht geblendet, die Augen zu. Als ich wieder sehen kann, entdecke ich, dass hinter den Lampen viele Menschen sitzen. Aha, ich stehe wohl auf der Bühne.

Vor mir spielt eine junge Frau Ball. Dabei singt und tanzt sie. Und sie ist so schusselig, dass sie den Ball in so einen Bottich schmeißt, der wie ein Brunnen aussieht.

Vorsichtig spähe ich in den Zuschauerraum. Dank meiner guten Augen entdecke ich Rapunzels roten Pulli. Ich muss unbedingt zu ihr, bevor diese vielen Beine alle durch die Gänge eilen. Sonst könnte mein Leben in Gefahr sein.

Leise schiebe ich mich hinter den Kulissen ganz nach vorne an den Bühnenrand. Dort stelle ich fest, dass die Bühne zum Springen zu hoch ist. Der Aufgang befindet sich leider auf der anderen Seite. Kein Problem, die Prinzessin ist mit ihrem Frosch beschäftigt. Und die Rampe mit den Scheinwerfern verdeckt mich vor den Zuschauern.

Ganz schnell renne ich, vorbei an so einem Kasten am Boden. In dem sitzt eine Frau und schaut mich entgeistert an. Ich rechne damit, dass sie gleich aufspringt und schreit. Entweder, weil sie sich den Kopf stößt oder weil sie Angst vor mir hat. Nein, zum Glück bleibt sie sitzen. Dafür gerät die Prinzessin jetzt ins Stottern und verstummt. Ich schaue zu ihr.

Wie erstarrt steht sie in der Mitte und glotzt mich an. Der Frosch sagt etwas, doch sie antwortet nicht. Soll ich ihr helfen, vielleicht Frösche küsse ich nicht sagen? Nein, dann wird Winnetou böse.

Erst als ich die Treppe hinunterspringe, zischt die Frau im Kasten einen Satz. Doch die Prinzessin steht noch immer wie eine Schaufensterpuppe mitten auf der Bühne. Die Frau im Kasten brüllt jetzt. Endlich erwacht die Prinzessin und wiederholt die Antwort. Der Frosch atmet sichtbar auf. Die Zuschauer haben nicht mitbekommen, warum die Prinzessin so aus der Fassung geraten ist.

Angenehmerweise ist es dunkel. Trotzdem sieht mich ein Kind. „Mama, ein Hamster“, flüstert es. Von wegen! Ich bin kein Hamster, sondern eine königliche Ratte. Die Mutter sagt nur: „Pst.“

Sicherheitshalber schleiche ich unter den Sitzen zu Rapunzel, klettere an ihrem Hosenbein hoch und weiter, bis ich auf ihrer Schulter hocke. Das Stück ist spannend. Der Frosch verwandelt sich in einen schönen Prinzen. Ich warte ja immer noch darauf, dass Rapunzel mich in einen Prinzen verwandelt. Aber bitte, ohne mich an die Wand zu werfen.

Als alle klatschen, stehe ich auf Rapunzels Kopf, hüpfe auf und ab und rufe laut: „Bravo.“

Da geht das Licht an. Die Sitznachbarn sehen mich. Eine Mutter springt auf und zieht ihr Kind hinter sich her.

„Eine Ratte“, schreit ein kleines Mädchen. „Komm, weg von dem Ungeziefer.“ Der Vater hebt es hoch und eilt hinaus.

Schnell flüchten die Zuschauer um uns herum. Bevor sie in Panik stolpern und sich treten, schnappt Winnetou mich und stopft mich in sein Hemd.

„Lass uns gehen“, sagt er drohend, nimmt Rapunzel an die Hand und marschiert zur Garderobe.

Draußen schimpft Winnetou: „Ich habe doch verboten, Prinz mitzunehmen. Und der dumme Kerl schreit auch noch laut und deutlich.“

Luisa zieht vor Schreck den Kopf ein. Rapunzel nimmt ihre Hand, um sie zu beruhigen.

„Ich bin nicht dumm“, stelle ich klar.

Auch Rapunzel wehrt sich: „Hab ich nicht!“

„Stimmt“, verteidige ich meine Prinzessin. „Der Mantel hing bequem im Flur.“

„Zur Strafe muss Prinz heute im Käfig schlafen“, erklärt Winnetou. Doch dann lacht er. „Erzählt es bloß nicht den Eltern, sonst darf Rapunzel nirgendwo mehr hingehen.“

Natürlich verspreche ich es. Dafür verspricht Rapunzel mir, mich nicht an die Wand zu werfen.

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