Prinz geht ins Weihnachtsmärchen
Meine Freundin Rapunzel redet seit Tagen nur noch von dem
Weihnachtsmärchen. Ihr großer Bruder Winnetou hat versprochen, mit ihr und
ihrer Freundin Luisa ins Theater zu gehen. Es gibt Froschkönig. Die Mädchen
sind schon ganz aufgeregt.
Natürlich will ich dabei sein.
„Nimmst du mich mit?“, frage ich.
„Nein, Winnetou hat es
verboten.“ Ohne aufzusehen, malt sie einen Frosch in ihren Malblock.
Irgendwie werde ich es
schaffen mitzukommen.
Schneeweißchen muss das
Märchen vorlesen. Ich mag es nicht. Hoffentlich kommt Rapunzel nicht auf die
Idee, mich an die Wand zu werfen. Ich bin nämlich ein verzauberter Prinz.
Leider wurde einer meiner Vorfahren in eine Ratte verhext. Ich und meine
Familie bleiben so lange Ratten, bis ein liebes Mädchen uns erlöst. Aber ich
will nicht an die Wand geworfen werden!
Küssen gefällt mir schon viel
besser. Aber so ist das Märchen nicht. Und als verzauberter Prinz hoffe ich,
dass Rapunzel wirklich die Prinzessin ist, die mich erlöst. Doch nicht, indem
sie mich wie einen Ball durch die Gegend schleudert. Davon bekomme ich nämlich
nur blaue Flecke. Vielleicht breche ich mir sogar ein Bein. Wie sieht eine
Ratte mit Gipsbein wohl aus? Nein, ich muss unbedingt mit ins Theater, um
sofort einzugreifen, wenn Rapunzel auf komische Ideen kommen sollte.
Außerdem bin ich wissbegierig
und möchte einmal ein Theater von innen erkunden. Leider lässt Rapunzel nicht
mit sich reden. Winnetou hat nämlich gedroht, sofort mit ihr nach Hause zu
gehen, wenn er mich entdeckt. Also muss ich es schlau anstellen.
Am Freitag hat Rapunzel keine
Zeit für mich. Gleich nach der Schule muss sie sich umziehen. Sie kämmt sich
sogar ihre langen Haare und Schneeweißchen flicht neue Zöpfe. Während die
beiden Mädchen beschäftigt sind, schleiche ich in den Flur. Tatsächlich,
Rapunzels guter Mantel hängt an der Garderobe, direkt neben dem Regenmantel
ihres Vaters. Der ist lang und reicht bis zum Schuhregal. Kein Problem für
mich. Im Nu bin ich über die Schuhe geturnt, an dem Regenmantel hochgeklettert
und in Rapunzels Manteltasche verschwunden.
Jetzt muss ich mich nur gedulden.
Wollten sie nicht gleich aufbrechen? Keiner kommt. Rapunzel ist schon hübsch
genug. Warum geht es nicht los? Langweilig ist es hier. Ich luge aus der
Tasche. Sinnlos. Es lässt sich keiner blicken.
Ob ich noch schnell in die
Küche husche, um mir ein paar Weihnachtskekse als Proviant zu besorgen? Mein
Magen knurrt. Sicher verrät er mich gleich. Nein, wenn ich jetzt weggehe,
verpasse ich womöglich den Ausflug.
Vor Langeweile schlafe ich ein
und wache erst auf, als Rapunzel sich den Mantel überzieht. Fast schleudert sie
mich dabei gegen die Wand. Kann sie nicht etwas vorsichtiger sein? Leider darf
ich ihr nicht meine Meinung sagen, weil ich mich sonst verrate.
Es klingelt an der Tür. „Seid ihr fertig?“, fragt Luisa.
Gleich darauf marschieren wir
los. Gespannt warte ich, was weiter passiert. Kann ich damit rechnen, dass das
Theaterstück in der Schulaula aufgeführt wird? Wie öde! Ich wollte doch ein
großes, vornehmes Theater besichtigen und keine Schule.
Außerdem hängt Winnetou die
Mäntel an die Garderobe. Wie komme ich jetzt aus der Tasche in den Saal? Wenn
ich rausspringe und renne, gibt es bestimmt einen Tumult. Menschen sind so
komisch, wenn sie Ratten sehen. Nein, ich muss mein Köpfchen anstrengen. Also
warte ich geduldig. Erst nachdem es leiser geworden ist, schaue ich vorsichtig
hinaus. Der Flur ist fast leer. Ich wage es und turne an den Jacken hinunter,
soweit es geht. Das letzte Stückchen springe ich.
Dann husche ich an der Wand
entlang bis zur Tür. Mist. Geschlossen. Also laufe ich weiter. Doch alle Türen
sind zu. Da spüre ich Zugluft. Der folge ich eine Treppe hinunter, danach durch
einen langen Gang im Keller. Jetzt höre ich Stimmen, sie werden immer lauter.
Ich klettere eine Stiege
hinauf. Oben stehe ich hinter Vorhängen. Langsam schiebe ich mich unter dem
Stoff durch und kneife, vom grellen Licht geblendet, die Augen zu. Als ich
wieder sehen kann, entdecke ich, dass hinter den Lampen viele Menschen sitzen.
Aha, ich stehe wohl auf der Bühne.
Vor mir spielt eine junge Frau
Ball. Dabei singt und tanzt sie. Und sie ist so schusselig, dass sie den Ball
in so einen Bottich schmeißt, der wie ein Brunnen aussieht.
Vorsichtig spähe ich in den
Zuschauerraum. Dank meiner guten Augen entdecke ich Rapunzels roten Pulli. Ich
muss unbedingt zu ihr, bevor diese vielen Beine alle durch die Gänge eilen.
Sonst könnte mein Leben in Gefahr sein.
Leise schiebe ich mich hinter
den Kulissen ganz nach vorne an den Bühnenrand. Dort stelle ich fest, dass die
Bühne zum Springen zu hoch ist. Der Aufgang befindet sich leider auf der
anderen Seite. Kein Problem, die Prinzessin ist mit ihrem Frosch beschäftigt.
Und die Rampe mit den Scheinwerfern verdeckt mich vor den Zuschauern.
Ganz schnell renne ich, vorbei
an so einem Kasten am Boden. In dem sitzt eine Frau und schaut mich entgeistert
an. Ich rechne damit, dass sie gleich aufspringt und schreit. Entweder, weil
sie sich den Kopf stößt oder weil sie Angst vor mir hat. Nein, zum Glück bleibt
sie sitzen. Dafür gerät die Prinzessin jetzt ins Stottern und verstummt. Ich
schaue zu ihr.
Wie erstarrt steht sie in der
Mitte und glotzt mich an. Der Frosch sagt etwas, doch sie antwortet nicht. Soll
ich ihr helfen, vielleicht Frösche küsse ich nicht sagen? Nein, dann wird
Winnetou böse.
Erst als ich die Treppe
hinunterspringe, zischt die Frau im Kasten einen Satz. Doch die Prinzessin
steht noch immer wie eine Schaufensterpuppe mitten auf der Bühne. Die Frau im
Kasten brüllt jetzt. Endlich erwacht die Prinzessin und wiederholt die Antwort.
Der Frosch atmet sichtbar auf. Die Zuschauer haben nicht mitbekommen, warum die
Prinzessin so aus der Fassung geraten ist.
Angenehmerweise ist es dunkel.
Trotzdem sieht mich ein Kind. „Mama, ein Hamster“, flüstert es. Von wegen! Ich
bin kein Hamster, sondern eine königliche Ratte. Die Mutter sagt nur: „Pst.“
Sicherheitshalber schleiche
ich unter den Sitzen zu Rapunzel, klettere an ihrem Hosenbein hoch und weiter,
bis ich auf ihrer Schulter hocke. Das Stück ist spannend. Der Frosch verwandelt
sich in einen schönen Prinzen. Ich warte ja immer noch darauf, dass Rapunzel
mich in einen Prinzen verwandelt. Aber bitte, ohne mich an die Wand zu werfen.
Als alle klatschen, stehe ich
auf Rapunzels Kopf, hüpfe auf und ab und rufe laut: „Bravo.“
Da geht das Licht an. Die
Sitznachbarn sehen mich. Eine Mutter springt auf und zieht ihr Kind hinter sich
her.
„Eine Ratte“, schreit ein
kleines Mädchen. „Komm, weg von dem Ungeziefer.“ Der Vater hebt es hoch und
eilt hinaus.
Schnell flüchten die Zuschauer um uns herum. Bevor sie in Panik stolpern
und sich treten, schnappt Winnetou mich und stopft mich in sein Hemd.
„Lass uns gehen“, sagt er
drohend, nimmt Rapunzel an die Hand und marschiert zur Garderobe.
Draußen schimpft Winnetou:
„Ich habe doch verboten, Prinz mitzunehmen. Und der dumme Kerl schreit auch
noch laut und deutlich.“
Luisa zieht vor Schreck den
Kopf ein. Rapunzel nimmt ihre Hand, um sie zu beruhigen.
„Ich bin nicht dumm“, stelle
ich klar.
Auch Rapunzel wehrt sich: „Hab
ich nicht!“
„Stimmt“, verteidige ich meine
Prinzessin. „Der Mantel hing bequem im Flur.“
„Zur Strafe muss Prinz heute
im Käfig schlafen“, erklärt Winnetou. Doch dann lacht er. „Erzählt es bloß
nicht den Eltern, sonst darf Rapunzel nirgendwo mehr hingehen.“
Natürlich verspreche ich es.
Dafür verspricht Rapunzel mir, mich nicht an die Wand zu werfen.
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