Freitag, 20. Oktober 2023

[Schnipseltime] Natida ni fylur: Die Prophezeite der Sonne

 

„Lass uns das Thema wechseln“, schlug Elara vor. „Ich habe das Gefühl, du weißt schon alles über mich, ich habe aber keine Ahnung von dir.“

„Was willst du wissen?“, fragte Talvi und lehnte sich ein Stück zurück.

„Wie ist es im Winterland? Hier in Romii erfährt man nur, dass ihr in eisiger Ödnis hausende Wilde seid. Aber deinen Aussagen nach stimmt das alles nicht.“

Talvi zog ihren Stock aus dem Feuer. „Solche Geschichten werden immer von den Stärkeren geschrieben. Das Winterland ist ein Ort eisiger Ödnis. Aber wir sind keineswegs alle hirnlose Wilde, obwohl es die in meinem wie in jedem anderen Volk zur Genüge gibt. Wir leben in sogenannten Eisdörfern in Clans zusammen, die häufig aus weitläufig verzweigten Familienangehörigen bestehen.“

„Hast du eine große Familie?“ Elara pustete auf die dampfenden Brotstücke an ihrem Stock. Ihr Magen knurrte erneut.

Talvi zupfte die Fleischstücke von ihrem Stock und legte sie neben sich. „Ich habe vier ältere Brüder und Schwestern. Daneben jede Menge Vettern und Basen. Dann meine Eltern und Großeltern, Onkeln und Tanten. Die wichtigsten Personen für mich sind meine Großmutter und meine jüngste Schwester Isa. Ich würde alles für sie tun.“ Talvi lächelte. „Aber ich werde sie nie wiedersehen, weil ich mich dafür entschieden habe, keine Unschuldigen zu töten.“ Sie schleuderte den Stock ins Feuer.

Elara musterte die andere Frau. Die Flammen warfen Schatten auf ihre Züge, die unter der Erinnerung weich und verletzlich wurden. Das Bild der brutalen Winterländerin zerfaserte. Zurück blieb eine junge Frau, die unter dem Schmerz des Verlustes ihrer Liebsten litt. Elaras Herz zog sich zusammen. „Es muss schwer für dich sein, sie nicht mehr sehen zu dürfen.“

Talvis Blick richtete sich in den funkelnden Sternenhimmel zu den beiden Monden, die sich fahl im Ozean spiegelten. „Sie fehlen mir mehr, als du dir vorstellen kannst. Künftig ohne Isa zu leben, sie nicht aufwachsen zu sehen, nie wieder ihr fröhliches Lachen zu hören, ist eine unendliche Qual. Wie gern hätte ich erlebt, welchen Weg des Lebens sie einschlägt, ob sie sich binden wird und an wen. Aber das werde ich alles niemals erfahren, sondern als einsamer Flüchtling in diesem Land versauern.“ Tränen quollen aus Talvis Augen und rollten über ihre Wangen. „Falls mich nicht eines Tages meine Leute finden und mich umbringen oder ich hier in einem Kerker lande.“

Aus einem Impuls heraus zog Elara die Winterländerin in ihre Arme und strich ihr sanft über die weichen Locken. „Wer weiß, vielleicht findest du einen Weg, um zurückzukehren. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben.“

Heftige Schluchzer schüttelten den Körper der Winterländerin, der sich perfekt an Elaras schmiegte. Eine gänzlich unvertraute Zärtlichkeit flutete Elaras Herz. Stumm hielt sie Talvi im Arm, bis deren Tränen versiegt waren. Nie hatte sich etwas richtiger angefühlt.


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