„Lass uns das
Thema wechseln“, schlug Elara vor. „Ich habe das Gefühl, du weißt schon alles
über mich, ich habe aber keine Ahnung von dir.“
„Was willst du
wissen?“, fragte Talvi und lehnte sich ein Stück zurück.
„Wie ist es im
Winterland? Hier in Romii erfährt man nur, dass ihr in eisiger Ödnis hausende
Wilde seid. Aber deinen Aussagen nach stimmt das alles nicht.“
Talvi zog
ihren Stock aus dem Feuer. „Solche Geschichten werden immer von den Stärkeren
geschrieben. Das Winterland ist ein Ort eisiger Ödnis. Aber wir sind keineswegs
alle hirnlose Wilde, obwohl es die in meinem wie in jedem anderen Volk zur
Genüge gibt. Wir leben in sogenannten Eisdörfern in Clans zusammen, die häufig
aus weitläufig verzweigten Familienangehörigen bestehen.“
„Hast du eine
große Familie?“ Elara pustete auf die dampfenden Brotstücke an ihrem Stock. Ihr
Magen knurrte erneut.
Talvi zupfte
die Fleischstücke von ihrem Stock und legte sie neben sich. „Ich habe vier
ältere Brüder und Schwestern. Daneben jede Menge Vettern und Basen. Dann meine
Eltern und Großeltern, Onkeln und Tanten. Die wichtigsten Personen für mich
sind meine Großmutter und meine jüngste Schwester Isa. Ich würde alles für sie
tun.“ Talvi lächelte. „Aber ich werde sie nie wiedersehen, weil ich mich dafür
entschieden habe, keine Unschuldigen zu töten.“ Sie schleuderte den Stock ins
Feuer.
Elara musterte
die andere Frau. Die Flammen warfen Schatten auf ihre Züge, die unter der
Erinnerung weich und verletzlich wurden. Das Bild der brutalen Winterländerin
zerfaserte. Zurück blieb eine junge Frau, die unter dem Schmerz des Verlustes
ihrer Liebsten litt. Elaras Herz zog sich zusammen. „Es muss schwer für dich
sein, sie nicht mehr sehen zu dürfen.“
Talvis Blick
richtete sich in den funkelnden Sternenhimmel zu den beiden Monden, die sich
fahl im Ozean spiegelten. „Sie fehlen mir mehr, als du dir vorstellen kannst.
Künftig ohne Isa zu leben, sie nicht aufwachsen zu sehen, nie wieder ihr
fröhliches Lachen zu hören, ist eine unendliche Qual. Wie gern hätte ich
erlebt, welchen Weg des Lebens sie einschlägt, ob sie sich binden wird und an
wen. Aber das werde ich alles niemals erfahren, sondern als einsamer Flüchtling
in diesem Land versauern.“ Tränen quollen aus Talvis Augen und rollten über
ihre Wangen. „Falls mich nicht eines Tages meine Leute finden und mich
umbringen oder ich hier in einem Kerker lande.“
Aus einem
Impuls heraus zog Elara die Winterländerin in ihre Arme und strich ihr sanft
über die weichen Locken. „Wer weiß, vielleicht findest du einen Weg, um
zurückzukehren. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben.“
Heftige
Schluchzer schüttelten den Körper der Winterländerin, der sich perfekt an
Elaras schmiegte. Eine gänzlich unvertraute Zärtlichkeit flutete Elaras Herz.
Stumm hielt sie Talvi im Arm, bis deren Tränen versiegt waren. Nie hatte sich
etwas richtiger angefühlt.
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