Mittwoch, 18. Januar 2023

[Schnispeltime] Lyrén Saga - Winter von Elin P. Mortensen


 

„Mira antwortete nicht. Sie hatte die Augen bereits wieder auf die Zielscheibe gerichtet und hob den Bogen. In schneller Folge schoss sie vier weitere Pfeile ins Schwarze, auf diese Entfernung ein fast unmögliches Unterfangen.

Die Umstehenden raunten anerkennend. Zwei Tage vor den Wettkämpfen zog es viele Schaulustige hierher auf den festgetretenen Schnee auf den Feldern außerhalb der Stadt. Der Auswahlwettstreit selbst fand ohne Publikum statt, daher war der Übungsplatz die beste Gelegenheit für gewöhnliche Bürger, die diesjährigen Aspiranten in Aktion zu sehen und ihre Fertigkeiten zu beäugen. Immer mehr Menschen blieben stehen.

Selbst die Kameraden warfen verstohlene Blicke herüber. Bewundernd, hoffte Mira, obwohl sie sich nie ganz sicher war, was die anderen dachten. Zu spät war sie in den Genuss der Gesellschaft Gleichaltriger gekommen. Mira konzentrierte sich auf den nächsten Pfeil. Erst als auch der fünfte Schuss perfekt saß, blickte sie sich um. Und nahm unverzüglich Haltung an.

Nur ein paar Meter entfernt stand Woltan, der Erste Reiter der Hirde und damit oberster Befehlshaber der Soldaten der Königin, ihr zukünftiger Kommandant. Wenn sie die Auswahlwettkämpfe bestand.

Sie hatte ihn noch nie aus so kurzer Distanz gesehen. Alles an ihm gebot Respekt. Er stand aufrecht und breitschultrig. Das Haar kurz geschoren, die Uniform tadellos, und er nahm den Platz ein, der ihm gebührte. Seine nachtschwarzen Augen durchbohrten sie. Sie wand sich innerlich, behielt aber äußerlich die Fassung und starrte geradeaus, wie von ihr erwartet wurde. Er trat noch näher heran.

„Aspirant?“ Seine Stimme klang aus so kurzer Entfernung noch tiefer als bei den Appellen von Weitem und lauter, ein Dröhnen, das in ihrem Magen vibrierte.

„Jawohl, mein Kommandant!“ Sie versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.

„Beeindruckend, auf diese Entfernung“, setzte er fort.

Hatte er sie gerade gelobt? Es war bekannt, wie skeptisch der Erste Reiter gegenüber weiblichen Hirdemitgliedern war. Er kam aus einem Land weit im Süden des Kontinents, wo Gerüchten zufolge Frauen keinerlei Gewerbe trieben. Und schon gar nicht kämpften.

„Name?“, fragte er.

Sie vergaß zu antworten, so sehr überraschte sie die Frage. Vorsichtig lugte sie zu ihm hin. Er sah anders aus als die Bewohner von Lyrén, die sie kannte. Dunkle Augen, nachtschwarzes Haar und dunklerer Teint. Eine fein gearbeitete Halsspange lugte unter dem Kragen seines Wamses hervor. Sie war mit Ornamenten verziert, die sie noch nie gesehen hatte.

 „Mira“, brachte sie endlich hervor und fügte nach einer schon zu langen Pause hastig hinzu: „Mein Kommandant!“

Er nickte kaum merklich, drehte sich um und war wenige Augenblicke später in der Menge verschwunden. „

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