„Mira antwortete nicht. Sie hatte die Augen bereits wieder
auf die Zielscheibe gerichtet und hob den Bogen. In schneller Folge schoss sie
vier weitere Pfeile ins Schwarze, auf diese Entfernung ein fast unmögliches
Unterfangen.
Die Umstehenden raunten anerkennend. Zwei Tage vor den
Wettkämpfen zog es viele Schaulustige hierher auf den festgetretenen Schnee auf
den Feldern außerhalb der Stadt. Der Auswahlwettstreit selbst fand ohne
Publikum statt, daher war der Übungsplatz die beste Gelegenheit für gewöhnliche
Bürger, die diesjährigen Aspiranten in Aktion zu sehen und ihre Fertigkeiten zu
beäugen. Immer mehr Menschen blieben stehen.
Selbst die Kameraden warfen verstohlene Blicke herüber.
Bewundernd, hoffte Mira, obwohl sie sich nie ganz sicher war, was die anderen
dachten. Zu spät war sie in den Genuss der Gesellschaft Gleichaltriger
gekommen. Mira konzentrierte sich auf den nächsten Pfeil. Erst als auch der
fünfte Schuss perfekt saß, blickte sie sich um. Und nahm unverzüglich Haltung
an.
Nur ein paar Meter entfernt stand Woltan, der Erste Reiter
der Hirde und damit oberster Befehlshaber der Soldaten der Königin, ihr
zukünftiger Kommandant. Wenn sie die Auswahlwettkämpfe bestand.
Sie hatte ihn noch nie aus so kurzer Distanz gesehen. Alles
an ihm gebot Respekt. Er stand aufrecht und breitschultrig. Das Haar kurz
geschoren, die Uniform tadellos, und er nahm den Platz ein, der ihm gebührte.
Seine nachtschwarzen Augen durchbohrten sie. Sie wand sich innerlich, behielt
aber äußerlich die Fassung und starrte geradeaus, wie von ihr erwartet wurde.
Er trat noch näher heran.
„Aspirant?“ Seine Stimme klang aus so kurzer Entfernung noch
tiefer als bei den Appellen von Weitem und lauter, ein Dröhnen, das in ihrem
Magen vibrierte.
„Jawohl, mein Kommandant!“ Sie versuchte, ihrer Stimme einen
festen Klang zu geben.
„Beeindruckend, auf diese Entfernung“, setzte er fort.
Hatte er sie gerade gelobt? Es war bekannt, wie skeptisch der
Erste Reiter gegenüber weiblichen Hirdemitgliedern war. Er kam aus einem Land
weit im Süden des Kontinents, wo Gerüchten zufolge Frauen keinerlei Gewerbe
trieben. Und schon gar nicht kämpften.
„Name?“, fragte er.
Sie vergaß zu antworten, so sehr überraschte sie die Frage. Vorsichtig
lugte sie zu ihm hin. Er sah anders aus als die Bewohner von Lyrén, die sie
kannte. Dunkle Augen, nachtschwarzes Haar und dunklerer Teint. Eine fein
gearbeitete Halsspange lugte unter dem Kragen seines Wamses hervor. Sie war mit
Ornamenten verziert, die sie noch nie gesehen hatte.
„Mira“, brachte sie
endlich hervor und fügte nach einer schon zu langen Pause hastig hinzu: „Mein
Kommandant!“
Er nickte kaum merklich, drehte sich um und war wenige
Augenblicke später in der Menge verschwunden. „
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