Montag, 15. September 2025

[Schnipseltime] Ich war kein braver Junge von Jana Martin


 

Ich liege hier in meinem Bett in der forensischen Psychiatrie, im Trakt für geistig abnorme Rechtsbrecher und fixiere einen Punkt an der weißen Decke, während ich auf meine Sitzung mit der freundlichen, nicht mehr ganz jungen, aber durchaus attraktiven Psychiaterin warte. Wie immer werde ich keinen Ton sagen. Vielleicht gibt sie es irgendwann auf. Hoffentlich!

Reglos, als würde ich schlafen, starre ich vor mich hin und versinke in meinen Gedanken. Ich frage mich, wie so oft: Was bin ich wirklich? Bin ich ein Monster, bin ich geisteskrank? Vermutlich. Ich weiß es selbst nicht. Aber eines weiß ich mit Sicherheit: Ich bin kein braver Junge!

„Braver Junge, Prachtbursche, höflicher Bub“, so wurde ich einst genannt. So oft habe ich es gehört, dass ich es lange Zeit selbst glaubte. Vor etwa einem Jahr änderte sich dies schlagartig. Jetzt tituliert man mich als „Monster und geisteskranke Bestie“.

Seither ist das mein neues Zuhause und ich werde diese Mauern nie wieder verlassen. Lebenslange Haft mit Sicherheitsverwahrung, Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie und keine Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung. Maßnahmenvollzug ist die korrekte Bezeichnung. So lautete mein rechtskräftiges Urteil. Ob ich das für gerecht empfinde? Wen interessiert‘s?

Es gab keine Zweifel. Die Geschworenen kamen zu dem einstimmigen Urteil, dass ich in allen Punkten der Anklage schuldig war. Meiner Anwältin kann ich keine Vorwürfe machen. Es gab nichts, was die Pflichtverteidigerin für mich tun konnte, zu erdrückend waren die Beweise. Was sollte sie auch Entlastendes vorbringen, wenn ihr Mandant mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck im Blut der eigenen Eltern sitzend aufgefunden wird?

Ich erinnere mich an den Tag meiner Verhaftung, als wäre es gestern gewesen. Es war der Tag, an dem meine Eltern starben. Des Öfteren frage ich mich, ob ich irgendwas bereue. Immer wieder die gleiche Frage. Dieselbe, die mir auch der Richter stellte. Und ja, ich bereue es. Ich bereue, dass ich nicht versucht habe zu fliehen. Ich hätte weglaufen können oder sogar müssen. Aber nein, ich blieb einfach sitzen und wartete, bis sie mich holten. Sicher hätten sie mich letztendlich trotzdem gekriegt. Irgendwann, aber vielleicht wäre es ein richtiges Abenteuer geworden. Nur leider tat ich nichts dergleichen, denn ich bin ein Feigling. Ich war schon immer ein Feigling. Ich habe es nicht einmal versucht.

Aber wer weiß, vielleicht ist es auch besser so. Alles im Leben kommt, wie es kommen muss. Das haben meine Eltern letztendlich auch begriffen. Zu spät? Definitiv!

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