
Ich bin
enttäuscht. Irgendwie hatte ich mit Feen gerechnet, die mir die Jacke abnehmen,
und Kobolden, die mir aus den Schuhen helfen. Ich hatte Federboas und
Lichterketten erwartet. Aber Milos Wohnung ist schlicht. Heller Fußboden,
dunkle Möbel. Das Einzige, das im Flur auf seine Existenz hinweist, ist die
grün-glänzende Jacke am Haken. Nicht ein Regenbogen.
Ich folge ihm ins Wohnzimmer. Obwohl es auch hier nüchtern wirkt, entdecke
ich zumindest ein rosafarbenes Plüschkissen auf der Couch und jede Menge Fotos
und Krimskrams an den Wänden. Dort wo andere einen Fernseher haben, hat Milo
tausend Bilder und Postkarten auf ein Brett geklebt.
Ich trete näher. Verschiedene Menschen – alte und junge – die Milo umarmen
und gemeinsam mit ihm in die Kamera grinsen.
„Sind das alles Freunde?“
„Die meisten“, ruft er mir aus der Küche zu, die nur durch einen flachen
Tresen vom Wohnzimmer getrennt ist.
Wow. Es sind unzählige Fotos mit verschiedenen Gesichtern. Ein Bild zeigt
Milo vor einem bunten Wagen. Er trägt enge Hotpants und ein bauchfreies
Regenbogenshirt. Ich sehe weg, denn irgendwie fühlt es sich falsch an, ihn in
so knappen Klamotten anzustarren. Um das Foto herum hängen jede Menge Buttons
und Fähnchen, auf denen Dinge wie „pride“ oder „Love has no gender“ stehen.
„Ich hab nur Pfefferminze oder Roibusch“, sagt Milo und kommt mit zwei
Teebeuteln in der Hand zu mir. „Obwohl ich bei dem Roibusch nicht sicher bin,
wie alt er ist. Kann mich nicht dran erinnern, den jemals gekauft zu haben.“
„Warum feierst du es so, schwul zu sein?“, frage ich und deute auf das
Bild, ohne nochmal hinzusehen.
Er betrachtet mich mit gerunzelter Stirn, so als würde er die Frage nicht
verstehen.
„Ich feiere nicht, dass ich schwul bin. Ich feiere, dass ich ich sein
kann.“
„Aber pride steht doch für Stolz, oder?“
„Ja. Ich bin ja auch stolz darauf, der zu sein, der ich bin.“ Milo grinst
und zuckt mit den Augenbrauen.
„Also bist du doch stolz darauf, schwul zu sein?“
„Auch“, antwortet er. „Es ist ein Teil von mir. Ein wichtiger. Aber ich bin
mehr als nur das.“
Er fummelt an den Teebeuteln herum, als würde er nachdenken.
„Wusstest du, dass ich auf einem Ohr taub bin?“, fragt er.
Ich starre Milo an und runzle die Stirn.
„Wusstest du nicht, oder? Außerdem habe ich seit meiner Schulzeit eine
Brieffreundin in Norwegen. Ich liebe Krabben und hasse Katzen. Seit zwei
Monaten mache ich so einen Online-Meditationskurs und habe zig
Achtsamkeitsbücher gelesen.“ Er lacht. „Aber irgendwie bin ich zu hibbelig für
dieses Zeug. Ich wäre so gern Vegetarier, aber Fleisch ist meine Passion. Wenn
ich mich zwischen einem Leben ohne Fleisch und einem ohne Gemüse entscheiden
müsste, würde ich keine Sekunde überlegen. Das sind nur ein paar Dinge, die es
über mich zu wissen gibt.“
Dann macht er eine kleine Pause.
„Ach ja, und ich bin schwul.“
Den letzten Satz sagt er wie beiläufig und ich verstehe, was er meint.
Menschen sind viel mehr, als ihre sexuelle Orientierung. Aber sie werden oft
darauf reduziert. Auch ich habe das bei Milo am Anfang getan. Sein buntes
Auftreten hat alles überlagert. Ich habe ihn gar nicht richtig gesehen. Aber
jetzt sehe ich ihn. Ich sehe ihn deutlich. Er steht so nah vor mir und doch
würde ich am liebsten noch einen Schritt auf ihn zugehen. Mehr von ihm
erfahren. Mehr von seinem Duft einatmen. Mehr von seinem Zauber spüren. Denn
Milo braucht keine Feen und Kobolde.
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