Dienstag, 10. Juni 2025

[Schnipseltime] Die Amets - Der Riss im Traumnetz von Tessa Maelle

 

Revas‘ Frühlingsmond

Das Warten auf den Beginn des Festes zog sich in die Länge wie das Warten auf den erlösenden kühlen Regenguss an einem schwülen, heißen Sommertag, an dem einem die Zunge am Gaumen und die verschwitzte Kleidung am Körper klebte.

»Heute ist es so weit.« Revas wiederholte den Gedanken zum hundertsten Male seit dem frühen Morgen. »Ab heute werde ich zu den Erwachsenen zählen.«

Revas war das einzige Mädchen im Dorf, das in diesem Jahr ihren sechzehnten Geburtstag gefeiert hatte. Bis die Feierlichkeiten losgingen, war sie alleine in den großen Mädchenschlafraum verbannt. Dort sollte sie ungestört meditieren, ihre Kindheit Revue passieren lassen und ihre Gedanken auf den neuen Lebensabschnitt richten, der nun vor ihr lag, bis die Frauen kamen und sie für die Zeremonie einkleideten.

Nur ihre jüngere Schwester Dercah kümmerte ihre Kontemplation herzlich wenig, sie stürmte herein und kramte geräuschvoll unter ihrem Bett in der Kiste, in der die Mädchen ihre Habseligkeiten aufbewahrten. Natürlich, ohne auf Revas Rücksicht zu nehmen...

»Was grinst du so dämlich?« Kampflustig hob Dercah den Kopf.

»Heute kannst du sagen, was du willst, ist mir völlig egal.« Genüsslich kuschelte sich Revas in einenweichen Schal. »Heute Abend ziehe ich in meine Honigkammer. Dich bin ich endlich los.«

»Nur in deinem Zimmer.« Dercah kniff drohend die Augen zusammen. »Aber ich lebe in diesem Haus - für immer! Mich wirst du niemals los!«

Doch Revas hörte nicht mehr hin, sie versank ganz in der Vorfreude auf die kommenden Stunden. Die Zeremonie stand ihr genau vor Augen: Ihre Mutter würde ihr den mit Perlen und Edelsteinen und vielen Seidenbändern verzierten Gürtel der erwachsenen Frau um die Taille legen. Die Frauen würden ihr Geschenke überreichen und sie feierlich zu ihrem ersten eigenen Zimmer geleiten, das sie für sie mit Blumen und Kerzen geschmückt und mit Thymian ausgeräuchert hatten. Nie wieder musste sie im Schlafsaal bei den kleinen Mädchen schlafen. Später, nach dem Festmahl, durfte sie die ganze Nacht tanzen, solange sie wollte. In Gedanken versunken hörte sie kaum, wie Dercah beim Hinausgehen die Türe hinter sich zuknallte.

Wenn ich So Be'ns Fingerspitzen beim Tanzen in meiner Hand spüre, werde ich vor Glück zerspringen.

Revas hatte keinen größeren Wunsch, als dass So Be'n der erste Besucher in ihrem neuen Zimmer und in ihrem neuen Leben als Frau sein sollte. Natürlich würde sie seine Fingerspitzen ebenfalls berühren. Dann wüsste er, dass sie ihm gewogen war, und würde sich trauen, seine Werbung öffentlich mit einem Lied zu wiederholen. Wenn sie an seine Augen dachte, wurde ihr ganz sehnsüchtig zumute.

Kein anderer Mann im Dorf hatte derart strahlend dunkelblaue Augen. Manchmal schaute er sie damit so merkwürdig an und immer spielte ein Lächeln um seine Augenwinkel. Das mochte sie besonders an ihm. Und seine langen Wimpern. Es bestand kein Zweifel, So Be'n sah umwerfend aus.

Das erste Mal. Mit So Be'n.

Revas seufzte in ihren Schal.

Eine Eigentümlichkeit der Amets bestand darin, dass die Töchter und Söhne ihr ganzes Leben im Haus ihrer Mutter lebten. Wenn eine Tochter zur Frau heranwuchs, durfte sie sich einen Liebhaber erwählen, der sie nachts besuchen kam. Tagsüber lebte der Mann bei der Familie seiner eigenen Mutter. Wenn Revas Kinder bekäme, blieben diese auch in Zukunft bei ihr wohnen.

Endlich, kurz vor Sonnenuntergang, betrat Revas den Festsaal, nur in ein schmal geschnittenes Gewand aus schwerer, weißer Rohseide gekleidet. Die langen Ärmel bedeckten ihre Handgelenke, das Zeichen der doppelten Raute auf ihrer Stirn war zur Feier des Tages rot nachgezogen. Revas zitterte vor Aufregung.

Männer hatten hier heute keinen Zugang. Nur die Frauen des Dorfes hatten sich versammelt, um Revas Initiationsfeier zu begehen. Alle blickten sie feierlich und erwartungsvoll an. Rosenduft erfüllte den Raum. Die Frauen hatten silberweiße Blütengirlanden um die Türrahmen und das Podest geschlungen, auf dem ihre Mutter stand und auf sie wartete. Revas atmete tief ein und aus.

Voller Stolz empfing Ma Yalá ihre Tochter und band ihr den blutroten, von Edelsteinen schimmernden Gürtel um die Taille.

Gerührt gab Revas ihrer Mutter einen Kuss.

Danach trat jede der Frauen einzeln vor, überreichte Revas einen Rubin und nahm sie mit dieser Geste in den Kreis der Erwachsenen auf.

Revas Hände zitterten, als sie die Edelsteine entgegennahm und an ihre Mutter weiterreichte. Tränen liefen ihr über die Wangen.

Die Frauen stimmten das Lied der Initiation an. Sie sangen von Blut, Müttern, Großmüttern und dem ewigen Kreis der Weiblichkeit, der sich wieder und wieder aufs Neue schloss.

Ma Yalá hatte in der Zwischenzeit die rotschimmernden Edelsteine an einem geflochtenen Lederband befestigt und legte ihr nun das Rubinarmband um das Handgelenk.

Rubingürtel und Rubinarmband - das Zeichen des Bundes, dem alle Frauen angehörten.

Jetzt bin ich ein Teil davon, jetzt bin ich eine erwachsene Frau.

Wie kleine Mädchen bewunderten die Frauen das Kleid, den Gürtel und den Schmuck. Sie klatschten in die Hände, lachten und umringten Revas, um ihr zu gratulieren.

Feierlich geleiteten die Frauen und Mädchen sie zum Ufer des Moes, wo sie sich vor der Göttin des Flusses verneigte und eine Schale voll bunter Blüten auf der Wasseroberfläche verstreute.

»Diese Blumen sind für dich, Göttin.«, sprach Revas andächtig die gebotenen Worte, »Von heute an bin ich eine Ametfrau. Bitte wache über mich und die Meinen!«

Als sie vom Fluss zurückkehrte, überreichte ihr Ma Yalá eine silberne Kette, an der ein kleiner Schlüssel hing. Mit einer Brosche befestigt Revas sie an ihrem Gewand, den Schlüssel steckte sie unter den Gürtel.

Der Schlüssel zu meiner Honigkammer.

Revas war wie betäubt vor Freude. […]


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