Mittwoch, 1. Mai 2024

[Schnipseltime] Mittsommerlegende - Wolfsschmerz und Rabenherz von Sabine Reifenstahl


 

Ob er die Schwäche des Verletzten fühlte oder die Heilung ihn alle Kraft kostete, vermochte Maeron nicht zu unterscheiden. Seine Muskeln schmerzten, unkontrollierbares Zittern erfasste ihn, er schwankte.

»Hör auf.« Fionbar legte ihm die Hand auf den Rücken. »Du hast getan, was möglich war. Er braucht Ruhe und du gleichfalls.«

Panik griff nach Maeron, er weigerte sich, den Kontakt zu unterbrechen. Das Wiegenlied hatte sie verbunden. Anfangs spürte er Furcht und Schmerzen des Kranken genau wie bei einem Todesschrei. Doch anders als üblich ebbten die Beschwerden ab. Als der Mann in einen heilsamen Schlaf hinüberglitt, hinterließ er ein unbegreifliches Gefühl von Verlust.

Maeron atmete tief durch und betrachtete den Fremden. Warm klang die Verbindung in seinem Innern nach. Nie hatte er sich derart vollkommen gefühlt. Obwohl sein Puls ruhig unter Maerons Fingerspitzen schlug, brannte eine Einsamkeit in ihm, die er vorher nicht kannte. Fröstelnd zog er die Hand zurück und die Schultern zusammen.

Was ging hier vor?

Eiseskälte biss in seine Eingeweide, er sehnte sich danach, den Mann erneut zu berühren.

Der Zauber hatte etwas verändert, ein scharfer Schmerz durchzuckte Maeron. Instinktiv fasste er sich an die Brust, schloss die Augen und lauschte. Vergeblich.

Was hatte er erwartet? Dass sein Herz zu schlagen anfing wie bei den beiden Sidhe-Kriegern? Er fühlte sich anders als zuvor, aber nicht menschlicher. Nur furchtbar allein.

Widerstrebend ließ er sich von Fionbar aus dem Zimmer führen und kämpfte gegen den Sog an, der von dem Kranken ausging.

Im Flur wartete Samaro. »Die Jungs sind auf dem Weg her, sie waren schon in Sorge. Sieht so aus, als sei Sasha ausgerissen.«

Maeron sah zurück und schauderte. Sasha. Unter all dem Blut und komplett nackt hatte er den Wandelwolf nicht erkannt. Ausgerechnet Sasha! Der Mann, der so hysterisch auf die Rabengestalt reagierte.

Im Gegensatz zu ihm zeigte das Mädchen Enid keinerlei Furcht. Es erinnerte Maeron an seine Heimat, nicht nur, weil es den gleichen Namen trug wie seine Mutter. Mehr noch bewies es, wie unterschiedlich ihre Welten waren. Das Kind verwandelte sich in einen Wolf, was bei ihnen Männern vorbehalten blieb. Scheinbar existierten hier keine geschlechtsspezifischen Schranken, und vielleicht durften Jungen auch als Raben fliegen.

Ein paar Tage lang hatte er den Wolfswelpen beobachtet und sich ihm erst genähert, als Enid allein war. Sie besaß ein tapferes Herz, ließ Maeron auf ihrem Arm sitzen und streichelte ihn. Ihr Onkel fürchtete sich trotz seiner Größe. Ein Wolf hatte Angst vor einem Raben.

»Wenn er ausreißt, sollten sie ihn besser an die Leine legen«, sagte Maeron und seufzte unterdrückt. Ausgerechnet Sasha! Laut fügte er hinzu: »Oder ihn in einen Käfig sperren.«

»Sasha ist zum guten Teil menschlich, nur ist er eben unbändiger als sein Bruder«, erklärte Jasmin. »Ihn deshalb einsperren?«

»Das meinte Maeron nicht ernst«, erwiderte Fionbar.

Und ob ich das ernst gemeint habe. Ein wildes Tier sollte auch so gehalten werden. – Dann wäre ich ihm nie begegnet.

Besorgt schaute er den Schlafenden an und sandte ein tonloses Dankgebet an die Morrigan, dass er ihn erst jetzt erkannt hatte und der Wolf ihn nicht zu wittern vermochte. Der Anblick der langen Wimpern, die sich scharf gegen die blassen Wangen abzeichneten, versetzte ihm einen Stich ins Herz. Wie friedlich Sasha dalag.

Bumm! Ein einzelner Pulsschlag erschreckte Maeron, er griff sich an die Brust und atmete auf.

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