Freitag, 22. Dezember 2023

[Schnipseltime] Schachmatt, gleich bist du tot von Emilia Benedict

 

Erbarmungslos prasselte die sengende Glut der Sonne auf das Kopfsteinpflaster nieder. Noch vor wenigen Minuten war der Platz vollkommen leer. Genau hier hatte er mit seinen Freunden gespielt und war umhergerannt. Jetzt stand er still. Er rührte sich nicht, wie viele andere auch. Die hauchdünnen Sohlen seiner Schuhe konnten die glühende Hitze der Pflastersteine kaum zurückhalten. Seine Füße brannten schmerzhaft. Am liebsten wäre er von einem Bein auf das andere gehüpft. Doch das durfte er nicht. In wenigen Augenblicken begann die Zeremonie.

Es war Freitag, der Tag, um den Gläubigen die Richtung zu weisen und die Abtrünnigen zurück auf den rechten Weg zu führen. Die Gebete zur Mittagsstunde waren beendet und die Bewohner der Stadt versammelt. In der Ferne durchbrach das Gebell eines Hundes die Stille. Einem Jungen auf der anderen Seite fiel es vermutlich ebenso schwer wie ihm, ruhig dazustehen. Dabei ließ er versehentlich seinen Ball fallen, der nun über den Platz rollte. Sein Vater packte ihn hart an der Schulter und strafte ihn mit strengem Blick. Der Junge wusste sofort, dass ihm für dieses Missgeschick noch heute einige Peitschenhiebe drohten.

Wie versteinert schaute die Menge, als jetzt vier vermummte Gestalten in bodenlangen weißen Gewändern den Marktplatz betraten. Ihre Augen waren hinter dunklen Sonnenbrillen versteckt. Kopf, Mund und Nase verhüllte ein Kufija-Tuch. Alle vier besaßen eine angsteinflößende Aura, ganz besonders der Vorderste. Er war der ausführende Arm des Gesetzes – der Scharia. Er trug eine blank polierte, glänzende Klinge mit sich. Die beiden dahinter führten in ihrer Mitte den Gefangenen, die Nachhut bildete der Vierte.

Der Junge rührte sich noch immer nicht, und obwohl er das Brennen seiner Füße kaum mehr ertragen konnte, stand er still. Seine Mutter presste ihn von hinten an sich, sodass ihm auch gar nichts anderes übrig blieb.

Neugierig wanderten seine Augen von einem Gesicht zum nächsten. Einige der Umstehenden starrten unverhohlen zu ihm und seiner Mutter. Manch einer grinste sogar höhnisch. Warum, das war dem Jungen in diesem Moment noch nicht klar. Er achtete auch gar nicht weiter darauf. Sein Interesse galt eher dem Funkeln über den Dächern der Häuser. Etwas, das dort hin und wieder weiß aufblitzte. Er kniff die Augen zusammen, um zu erspähen, worum es sich dabei handelte. Sofort wusste er, das waren eindeutig Gewehre da oben. Er hatte schon oft welche gesehen. Viele der Jungen, die er kannte, hatten Umgang damit. Ihre Eltern brachten ihnen sogar bei, wie man damit schoss.

Sein Vater war da ganz anders. Er hatte ihm verboten, jemals eine Waffe anzufassen, und überdies Prügel angedroht, sollte er ihn je damit erwischen.

Die Männer mit den Gewehren zielten direkt auf den Marktplatz. Und er war sich sicher, sie würden ihr Ziel garantiert nicht verfehlen. Vermutlich standen hier deshalb alle so steif da und sagten kein Wort.

Die vermummten Gestalten in ihren langen weißen Gewändern waren nun in der Mitte des Platzes angekommen. Der Gefangene noch immer zwischen ihnen. Seine Hände waren auf den Rücken geknotet. Einer der vier Männer holte eine Schriftrolle hervor und zog sie auseinander.

»Ich verlese nun den Tatvorwurf samt Urteil des Gefangenen.«

Seine Stimme war düster. Er sprach nicht allzu laut. Das musste er auch nicht. In dieser erdrückenden Stille drang jedes einzelne Wort sogar bis zum Hintersten in der Menge.

Dann wurde der schwarze Sack vom Kopf des Gefangenen gezogen.

Der Junge erschrak. Er wollte auf seinen Vater zurennen, ihn aus den Klauen dieser Gestalten befreien. Doch seine Mutter hatte ihn fest im Griff und legte ihm ihre Hand über den Mund. Dabei schloss sie die Augen und betete still für ihren geliebten Ehemann.

»Sünder und Straftäter Kamal Haddad hat verstoßen gegen die Gesetze der Scharia. Er hat unseren Glauben verraten. Er wollte dem Islam entsagen und unserem geliebten Land entfliehen. Daraus ergeht folgendes Urteil. Für das größte Verbrechen gegen die göttliche Ordnung wird Kamal Haddad mit dem Tode durch Enthauptung bestraft. Das Urteil muss unverzüglich vollstreckt werden.«

Der Mann hatte die Verkündung beendet und rollte das Papier wieder zusammen. Anschließend nickte er den beiden knapp zu, die den Gefangenen in ihrer Mitte inzwischen stützen mussten. Obwohl er wusste, was ihn erwarten würde, hatten seine Knie nach der Verlesung des Urteils nachgegeben.

Die zwei Gestalten in ihren langen weißen Gewändern führten ihn nun zu einem Korb, über den ein großes rotes Stück Stoff ausgebreitet war. Daraus entnahm einer der Männer ein breites Tuch. Noch ein letzter Blick auf seinen Sohn und seine Ehefrau, in dem Verzweiflung, Angst und bedingungslose Liebe standen, dann wurde es dunkel. Das Tuch wurde über seine Augen gelegt und hinter dem Kopf verknotet. Darauf spürte er, wie sich die Finger der beiden Männer zu seiner Linken und Rechten fest in seine Schultern gruben. Sie kannten keine Gnade und zwangen ihn grob auf die Knie. Eine Hand packte ihn im Genick und drückte seinen Kopf nach unten. Der Kragen seines Hemdes wurde nach hinten gezerrt. Sein Hals lag jetzt frei.

Im selben Moment blitzte blank polierter Stahl im Sonnenlicht auf. Ruckartig riss der Junge den Blick von seinem Vater los und starrte nun entsetzt auf die Gestalt mit der Klinge in der Hand. Er war ganz bleich geworden, wagte kaum zu atmen, die Augen vor Angst weit aufgerissen. Schon unzählige Male hatte er solch einer Zeremonie beigewohnt. Dabei hätte er sich nicht einmal ansatzweise vorstellen können, dass ihm dieses Schicksal je selbst zum Verhängnis werden würde.

Der verhüllte Mann trat jetzt hinter seinen Vater und musterte für einen Augenblick den Nacken seines Verurteilten. Dann stellte er sich seitlich neben ihn. Mit beiden Händen hielt er den Griff der messerscharfen Klinge fest umklammert. Der Henker konzentrierte sich, hob leicht die Arme und beugte sich dabei über sein kniendes Opfer.

Der Junge wollte, musste seinem Vater helfen. Als sein Sohn war es seine Pflicht. Er hatte doch nichts getan. Nichts, wofür er den Tod verdient hätte. Der Junge wehrte sich heftig, wollte sich losreißen, aber seine Mutter hielt ihn eisern an sich gepresst. Sie wusste, sie konnten nichts für Kamal tun. Die Scharia war mächtig und die umstehende Menge gegen sie. Das Einzige, was sie damit erreichen würden, war, dass sie ebenfalls vor die Richter treten mussten. Als abschreckendes Beispiel würden folglich auch sie und ihr Sohn bestraft werden. Man stellte sich nicht gegen die Scharia.

Es war totenstill auf dem Marktplatz. Die Menge hielt gespannt die Luft an. Jeder starrte auf den krummen Säbel in den Händen des Henkers, in Erwartung auf das Ende des Schauspiels.

Plötzlich jagte ein Zischen durch die Luft. Die Klinge des Scharfrichters sauste auf den freigelegten Nacken herab. Bruchteile von Sekunden und der Kopf des Verurteilten fiel mit einem dumpfen Plumpsen in den Korb. Sofort schoss Blut unkontrolliert und in einem riesigen Schwall aus den durchtrennten Gefäßen.

»Nein!«, brüllte der Junge mit einem Mal. Er hatte die Hand der Mutter, die über seinen Lippen lag, heruntergerissen. Tränen strömten über seine Wangen. »Ihr verfluchten Mörder«, schrie er weiter.

Nur kurz hatte die Mutter den Griff um ihren Sohn gelockert. Der Moment, in dem die scharfe Klinge des Henkers ihren geliebten Kamal mit einem Schlag für immer von ihr genommen hatte.

Jetzt blieb ihr vor Schreck beinah das Herz stehen. Du liebe Güte, dachte sie. Allah steh uns bei. Was rief ihr Sohn denn da? Sie vermochte ihn kaum zu bändigen. Er sträubte sich heftig gegen ihre Umklammerung, dennoch schaffte sie es irgendwie, ihn zum Schweigen zu bringen.

Sie zitterte vor Angst. Die Augen der Umstehenden ruhten feindselig auf ihr und dem Jungen, der offensichtlich das Urteil infrage stellte und somit seine Zweifel an den Gesetzen der Scharia kundtat. Der Scharfrichter hob den Kopf und richtete seinen drohenden Blick jetzt ebenfalls auf sie und ihren Sohn.

Das war nicht gut, gar nicht gut. Sie musste etwas tun, und zwar schnell. Nicht um ihretwillen, sondern um das Leben ihres Jungen zu schützen.

Schritt für Schritt wich sie rückwärts durch die Menge und zog ihn mit sich. Keinesfalls durfte sie locker lassen. Wenn ihr Kind noch ein einziges Wort von sich geben würde, wäre das ihr beider Todesurteil.

 

Sie konnte sich kaum erinnern, wie sie den Weg bis in ihr Haus geschafft hatte. Sie war einfach gelaufen, ohne stehen zu bleiben. Dabei hielt sie ihren Jungen die ganze Zeit fest im Griff und nicht eine Sekunde lockerte sie ihre Hand über seinen Lippen. Zu Hause machte sie ihm klar, was er damit möglicherweise angerichtet hatte.

Noch in derselben Nacht flohen beide aus dem Land.


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