Erbarmungslos prasselte die sengende
Glut der Sonne auf das Kopfsteinpflaster nieder. Noch vor wenigen Minuten war
der Platz vollkommen leer. Genau hier hatte er mit seinen Freunden gespielt und
war umhergerannt. Jetzt stand er still. Er rührte
sich nicht, wie viele andere auch. Die hauchdünnen Sohlen seiner Schuhe konnten
die glühende Hitze der Pflastersteine kaum zurückhalten. Seine Füße brannten
schmerzhaft. Am liebsten wäre er von einem Bein auf das andere gehüpft. Doch
das durfte er nicht. In wenigen Augenblicken begann die Zeremonie.
Es war Freitag, der Tag, um den Gläubigen
die Richtung zu weisen und die Abtrünnigen zurück auf den rechten Weg zu
führen. Die Gebete zur Mittagsstunde waren beendet und die Bewohner der Stadt
versammelt. In der Ferne durchbrach das Gebell eines Hundes die Stille. Einem
Jungen auf der anderen Seite fiel es vermutlich ebenso schwer wie ihm, ruhig
dazustehen. Dabei ließ er versehentlich seinen Ball fallen, der nun über den
Platz rollte. Sein Vater packte ihn hart an der Schulter und strafte ihn mit
strengem Blick. Der Junge wusste sofort, dass ihm für dieses Missgeschick noch
heute einige Peitschenhiebe drohten.
Wie versteinert schaute die Menge,
als jetzt vier vermummte Gestalten in bodenlangen weißen
Gewändern den Marktplatz betraten. Ihre Augen waren hinter dunklen
Sonnenbrillen versteckt. Kopf, Mund und Nase verhüllte ein Kufija-Tuch. Alle
vier besaßen eine angsteinflößende Aura, ganz besonders der Vorderste. Er war
der ausführende Arm des Gesetzes – der Scharia. Er trug eine blank
polierte, glänzende Klinge mit sich. Die beiden dahinter führten in ihrer Mitte
den Gefangenen, die Nachhut bildete der Vierte.
Der Junge rührte
sich noch immer nicht, und obwohl er das Brennen seiner Füße kaum mehr ertragen
konnte, stand er still. Seine Mutter presste ihn von hinten an sich, sodass ihm
auch gar nichts anderes übrig blieb.
Neugierig wanderten seine Augen von
einem Gesicht zum nächsten. Einige der Umstehenden
starrten unverhohlen zu ihm und seiner Mutter. Manch einer grinste sogar
höhnisch. Warum, das war dem Jungen in diesem Moment noch nicht klar. Er
achtete auch gar nicht weiter darauf. Sein Interesse galt eher dem Funkeln über
den Dächern der Häuser. Etwas, das dort hin und wieder weiß aufblitzte. Er
kniff die Augen zusammen, um zu erspähen, worum es sich dabei handelte. Sofort
wusste er, das waren eindeutig Gewehre da oben. Er hatte schon oft welche
gesehen. Viele der Jungen, die er kannte, hatten Umgang damit. Ihre Eltern
brachten ihnen sogar bei, wie man damit schoss.
Sein Vater war da ganz anders. Er
hatte ihm verboten, jemals eine Waffe anzufassen, und überdies
Prügel angedroht, sollte er ihn je damit erwischen.
Die Männer
mit den Gewehren zielten direkt auf den Marktplatz. Und er war sich sicher, sie
würden ihr Ziel garantiert nicht verfehlen. Vermutlich standen hier deshalb
alle so steif da und sagten kein Wort.
Die vermummten Gestalten in ihren
langen weißen Gewändern waren nun in der Mitte
des Platzes angekommen. Der Gefangene noch immer zwischen ihnen. Seine Hände
waren auf den Rücken geknotet. Einer der vier Männer holte eine Schriftrolle
hervor und zog sie auseinander.
»Ich
verlese nun den Tatvorwurf samt Urteil des Gefangenen.«
Seine Stimme war düster.
Er sprach nicht allzu laut. Das musste er auch nicht. In dieser erdrückenden
Stille drang jedes einzelne Wort sogar bis zum Hintersten in der Menge.
Dann wurde der schwarze Sack vom Kopf
des Gefangenen gezogen.
Der Junge erschrak. Er wollte auf
seinen Vater zurennen, ihn aus den Klauen dieser Gestalten befreien. Doch seine
Mutter hatte ihn fest im Griff und legte ihm ihre Hand über
den Mund. Dabei schloss sie die Augen und betete still für ihren geliebten
Ehemann.
»Sünder
und Straftäter Kamal Haddad hat verstoßen gegen die Gesetze der Scharia. Er hat
unseren Glauben verraten. Er wollte dem Islam entsagen und unserem geliebten
Land entfliehen. Daraus ergeht folgendes Urteil. Für das größte Verbrechen
gegen die göttliche Ordnung wird Kamal Haddad mit dem Tode durch Enthauptung
bestraft. Das Urteil muss unverzüglich vollstreckt werden.«
Der Mann hatte die Verkündung
beendet und rollte das Papier wieder zusammen. Anschließend nickte er den
beiden knapp zu, die den Gefangenen in ihrer Mitte inzwischen stützen mussten.
Obwohl er wusste, was ihn erwarten würde, hatten seine Knie nach der Verlesung
des Urteils nachgegeben.
Die zwei Gestalten in ihren langen
weißen
Gewändern führten ihn nun zu einem Korb, über den ein großes rotes Stück Stoff
ausgebreitet war. Daraus entnahm einer der Männer ein breites Tuch. Noch ein
letzter Blick auf seinen Sohn und seine Ehefrau, in dem Verzweiflung, Angst und
bedingungslose Liebe standen, dann wurde es dunkel. Das Tuch wurde über seine
Augen gelegt und hinter dem Kopf verknotet. Darauf spürte er, wie sich die
Finger der beiden Männer zu seiner Linken und Rechten fest in seine Schultern
gruben. Sie kannten keine Gnade und zwangen ihn grob auf die Knie. Eine Hand
packte ihn im Genick und drückte seinen Kopf nach unten. Der Kragen seines
Hemdes wurde nach hinten gezerrt. Sein Hals lag jetzt frei.
Im selben Moment blitzte blank
polierter Stahl im Sonnenlicht auf. Ruckartig riss der Junge den Blick von
seinem Vater los und starrte nun entsetzt auf die Gestalt mit der Klinge in der
Hand. Er war ganz bleich geworden, wagte kaum zu atmen, die Augen vor Angst
weit aufgerissen. Schon unzählige Male hatte er solch einer
Zeremonie beigewohnt. Dabei hätte er sich nicht einmal ansatzweise vorstellen
können, dass ihm dieses Schicksal je selbst zum Verhängnis werden würde.
Der verhüllte
Mann trat jetzt hinter seinen Vater und musterte für einen Augenblick den
Nacken seines Verurteilten. Dann stellte er sich seitlich neben ihn. Mit beiden
Händen hielt er den Griff der messerscharfen Klinge fest umklammert. Der Henker
konzentrierte sich, hob leicht die Arme und beugte sich dabei über sein
kniendes Opfer.
Der Junge wollte, musste seinem Vater
helfen. Als sein Sohn war es seine Pflicht. Er hatte doch nichts getan. Nichts,
wofür
er den Tod verdient hätte. Der Junge wehrte sich heftig, wollte sich losreißen,
aber seine Mutter hielt ihn eisern an sich gepresst. Sie wusste, sie konnten
nichts für Kamal tun. Die Scharia war mächtig und die umstehende Menge gegen
sie. Das Einzige, was sie damit erreichen würden, war, dass sie ebenfalls vor
die Richter treten mussten. Als abschreckendes Beispiel würden folglich auch
sie und ihr Sohn bestraft werden. Man stellte sich nicht gegen die Scharia.
Es war totenstill auf dem Marktplatz.
Die Menge hielt gespannt die Luft an. Jeder starrte auf den krummen Säbel
in den Händen des Henkers, in Erwartung auf das Ende des Schauspiels.
Plötzlich
jagte ein Zischen durch die Luft. Die Klinge des Scharfrichters sauste auf den
freigelegten Nacken herab. Bruchteile von Sekunden und der Kopf des
Verurteilten fiel mit einem dumpfen Plumpsen in den Korb. Sofort schoss Blut
unkontrolliert und in einem riesigen Schwall aus den durchtrennten Gefäßen.
»Nein!«,
brüllte der Junge mit einem Mal. Er hatte die Hand der Mutter, die über seinen
Lippen lag, heruntergerissen. Tränen strömten über seine Wangen. »Ihr
verfluchten Mörder«, schrie er weiter.
Nur kurz hatte die Mutter den Griff
um ihren Sohn gelockert. Der Moment, in dem die scharfe Klinge des Henkers
ihren geliebten Kamal mit einem Schlag für
immer von ihr genommen hatte.
Jetzt blieb ihr vor Schreck beinah
das Herz stehen. Du liebe Güte, dachte sie. Allah steh uns bei.
Was rief ihr Sohn denn da? Sie vermochte ihn kaum zu bändigen. Er sträubte sich
heftig gegen ihre Umklammerung, dennoch schaffte sie es irgendwie, ihn zum
Schweigen zu bringen.
Sie zitterte vor Angst. Die Augen der
Umstehenden ruhten feindselig auf ihr und dem Jungen, der offensichtlich das
Urteil infrage stellte und somit seine Zweifel an den Gesetzen der Scharia
kundtat. Der Scharfrichter hob den Kopf und richtete seinen drohenden Blick
jetzt ebenfalls auf sie und ihren Sohn.
Das war nicht gut, gar nicht gut. Sie
musste etwas tun, und zwar schnell. Nicht um ihretwillen, sondern um das Leben
ihres Jungen zu schützen.
Schritt für
Schritt wich sie rückwärts durch die Menge und zog ihn mit sich. Keinesfalls
durfte sie locker lassen. Wenn ihr Kind noch ein einziges Wort von sich geben
würde, wäre das ihr beider Todesurteil.
Sie konnte sich kaum erinnern, wie
sie den Weg bis in ihr Haus geschafft hatte. Sie war einfach gelaufen, ohne
stehen zu bleiben. Dabei hielt sie ihren Jungen die ganze Zeit fest im Griff
und nicht eine Sekunde lockerte sie ihre Hand über
seinen Lippen. Zu Hause machte sie ihm klar, was er damit möglicherweise
angerichtet hatte.
Noch in derselben Nacht flohen beide
aus dem Land.
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