Stella zog
geübt ihren Tablet-PC aus dem Rucksack. Die Bibliothek sollte für die Menschen
in diesem Stadtteil errichtet werden. Welche Bedürfnisse hatten sie? Welche
Wünsche? Es gab keinen besseren Ort und Zeitpunkt, um hier und jetzt einen
ersten, wirklich ernst zu nehmenden Entwurf zu planen!
Doch wo war der Eingabestift
für ihr Tablet? War dieser in der hiesigen Welt in Eigenregie aus der
Schutzhülle in die Luft entstiegen? Mit ihren Fingern konnte sie nicht so
feingliedrig auf dem Bildschirm zeichnen. Ihr Blutdruck stieg, als sie mit
einer Mischung aus gerade noch umsetzbarer Vorsicht und nicht unterdrückbarer
Hektik ihre Tasche durchwühlte. Als sie nach erfolgloser Suche und wie nach
einer tagelangen Wanderung durch einen undurchdringlichen Dschungel resigniert
wieder aufblickte, stand plötzlich eine Person vor ihr, die fast drei Köpfe
kleiner war als sie.
Als sie die ersten Worte in
der Landessprache nicht verstand, wechselte die Person ins Englische: „Wie
wär‘s damit?“, fragte der Junge mit einer ulkigen Betonung und zog wie ein
Zauberer den entsprechenden Stift aus einem Bauchladen.
Stella riss die Augen auf, als
würde es helfen, die Situation besser einzuschätzen. Der Junge war sicher noch
nicht volljährig. Mussten im Land der Kreativität Kinder arbeiten? Wieso gab es
hier Not?
Stella antwortete nicht,
sondern starrte perplex auf dessen Waren. Regenschirme, Handyladekabel,
Briefmarken, Tücher, die zu Handtaschen gefaltet werden konnten, und viele
andere Gegenstände bildeten ein komplexes, aber aufgeräumtes Sammelsurium.
Stolz richtete der Junge sich auf, als wollte er ihr ein kleines Königreich
ausführlich vorstellen.
„Ich habe dich beobachtet und
gesehen, was du brauchst. Das ist mein Notfall-Laden. Wenn es regnet, der
Handyakku leer ist oder die Post schon geschlossen hat, habe ich schnell die
Lösung. Mein Angebot ist sehr flexibel, je nachdem, was die Menschen hier im
Viertel besonders vermissen.“
Stella seufzte lauter als
beabsichtigt und blickte ihn mitleidig an. „Das tut mir leid, dass du schon
arbeiten musst. Ich will dir helfen.“ Doch eine praktikable Lösung fiel ihr
nicht ein. Sie warf den Kopf hin und her, am liebsten hätte sie ihm den ganzen
Bauchladen abgekauft.
Der Junge zog einen
Schmollmund und legte den Kopf schief, als hätte er ihr einen Streich gespielt.
„Du siehst verzweifelter aus als ich. Was machst du denn gerade? Kann ich nicht
eher dir helfen?“
Stella lachte und winkte ab.
So langsam fühlte sie sich wieder heimisch und sicherer im Englischen und
fragte ausführlich nach: „Suchst du doch einen anderen Job? Mit dieser Aufgabe
hier quäle ich mich als Architektin durchaus ab. Ich brauche einen
überzeugenden Entwurfsplan für eine Bibliothek in diesem Stadtteil.“
Er riss die Hände nach oben,
als wolle er sich sehr energisch melden: „Aber ich kenne so ein Haus schon!
Sogar fahrende Bücherschränke mit Schaukästen in den Straßen vor unserem Haus.
Aber ein Platz, wo wir uns gemütlich mit den Büchern einkuscheln könnten, wäre
natürlich noch besser! Richtig toll wäre es, wenn es dort jemand gäbe, der
alles vorliest. Und wir uns mit Stars fotografieren lassen könnten! Kann da
jeder sein eigenes Buch reinstellen, damit andere es lesen können? Geht das
alles? Wie viele Menschen passen da rein? Wie viele Bücher darf ein einziger
Mensch ausleihen? Wann ist die Bibliothek fertig? Wie lange dauert es noch?“
Stella lächelte gutmütig wie eine verständnisvolle Lehrerin, aber schüttelte mit hochgezogenen Augenbrauen den Kopf. Verrückt war er auch noch. Da passte vieles gar nicht ins Schema „Wirklichkeit“. Aber dann kam ihr eine Idee.
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