Montag, 27. Februar 2023

[Schnipseltime] Der Fantast von Michaela Göhr

 

Prolog

Vorsichtig zog ich meine Hand von dem Körper vor mir zurück. Wie erwartet hielt mein Spezialverband bombig. Die Blutung war dadurch vorübergehend gestoppt und der Mann, der reglos am Boden lag, würde zumindest so lange überleben, bis der Krankenwagen eintraf. Meine ziemlich verschwitzten Laufsachen waren voller Blut, aber darum wollte ich mich später kümmern. Ach ja, den Notruf musste ich noch absetzen. Dazu war ich bisher nicht gekommen, da ich alle Hände voll damit zu tun gehabt hatte, den schweren Kerl von dem Pfahl zu befreien, in den er wahrscheinlich aus voller Fahrt mit dem Mountainbike gerast war. Keine Ahnung, wie er das geschafft hatte! Der sportliche, junge Fahrer, dessen Bike verbeult in der Böschung lag, hatte zum Glück das Bewusstsein verloren, bevor ihm das ganze Ausmaß seiner Verletzung klar geworden sein dürfte. Und ich hatte mein Bestes getan, um ihn nicht unnötig wieder aufzuwecken, ihn damit Todesängsten und vermutlich mörderischen Schmerzen auszusetzen. Die 112 anzurufen war nun noch der letzte Schliff, sozusagen die Vollendung eines Kunstwerks. Ich tat es fast ohne nachzudenken und mit beinah schlafwandlerischer Sicherheit - kaum eine Telefonverbindung war mir vertrauter. Die Stimme des Mannes in der Zentrale kannte ich von zahllosen Anrufen. Meine eigene wurde selbstverständlich verzerrt - ich konnte und wollte es mir nicht leisten, erkannt zu werden. Noch einmal kontrollierte ich Atmung und Puls meines ‚Patienten‘, den ich diesmal völlig zufällig gefunden hatte. Alles schien bestens. Der Radfahrer mit dem hässlichen Loch in der Bauchgegend schlummerte tief und fest, wurde aber durch die stabile Seitenlage sicher davor bewahrt, seine Zunge zu verschlucken. Der blutverschmierte Zaunpfahl ragte etwas ekelig neben ihm auf. Natürlich kannte ich die Regel, dass man niemals irgendwelche Gegenstände aus einem Körper rausholen sollte, wenn sie drinsteckten. Das Risiko von inneren Blutungen, die von einem Laien nicht gestoppt werden konnten, war viel zu groß. Aber meine präzise Kenntnis der menschlichen Anatomie und meine besonderen Fähigkeiten ließen mich ziemlich sicher wissen, wo ich wie zupacken oder zudrücken musste, um den Mann nicht noch mehr zu verletzen. Ich hoffte, dass irgendwer auf die Idee kommen würde, das lebensgefährliche Teil auszugraben und zu entsorgen. Zunächst wurde es aber gebraucht, um den Unfallhergang plausibel zu machen. Denn ich gedachte auf keinen Fall hier stehenzubleiben, bis die Rettungskräfte eintrafen.

Erleichtert hörte ich bereits kurze Zeit später eine Sirene und machte mich schleunigst vom Acker, laufenderweise querfeldein. Während des Joggens wusch ich T-Shirt, Hände und Gesicht. Danach betrachtete ich - noch immer laufend - kritisch mein Spiegelbild. Alles wieder sauber, Fleckentferner sei Dank. Schließlich erreichte ich den Ausgangspunkt meines meditativen Fitnesstrainings, den asphaltierten Weg, auf dem ich mein Fahrzeug benutzen konnte. Es war ein speziell von mir entwickelter Roller mit extrem niedriger Standhöhe. Trotz der winzigen Räder war das Teil verflixt schnell. Darauf stehend sah es aus, als würde ich direkt über den Boden gleiten oder eben in raschem Tempo laufen. Genau das war beabsichtigt, denn außer mir sah niemand dieses Fortbewegungsmittel. Genauso wenig, wie mein Handy, das ich zum Telefonieren benutzte oder den Verband, den ich dem Fremden angelegt hatte. Er würde sich auflösen, sobald ihn jemand anders berührte. Keiner würde wissen, dass er je existiert hatte. Niemand konnte die Spuren zu mir zurückverfolgen, was absolut wichtig war. Zufrieden mit mir fuhr ich nach Hause.

 

Wer ich bin, fragt ihr? Nun - ich bin Simon.

Ich bin der Fantast.

 

Aus: „Der Fantast“ von Michaela Göhr (Band 1)

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