Prolog
Vorsichtig zog ich meine Hand von dem
Körper vor mir zurück. Wie erwartet hielt mein Spezialverband bombig. Die
Blutung war dadurch vorübergehend gestoppt und der Mann, der reglos am Boden
lag, würde zumindest so lange überleben, bis der Krankenwagen eintraf. Meine
ziemlich verschwitzten Laufsachen waren voller Blut, aber darum wollte ich mich
später kümmern. Ach ja, den Notruf musste ich noch absetzen. Dazu war ich
bisher nicht gekommen, da ich alle Hände voll damit zu tun gehabt hatte, den
schweren Kerl von dem Pfahl zu befreien, in den er wahrscheinlich aus voller
Fahrt mit dem Mountainbike gerast war. Keine Ahnung, wie er das geschafft hatte!
Der sportliche, junge Fahrer, dessen Bike verbeult in der Böschung lag, hatte
zum Glück das Bewusstsein verloren, bevor ihm das ganze Ausmaß seiner
Verletzung klar geworden sein dürfte. Und ich hatte mein Bestes getan, um ihn
nicht unnötig wieder aufzuwecken, ihn damit Todesängsten und vermutlich
mörderischen Schmerzen auszusetzen. Die 112 anzurufen war nun noch der letzte
Schliff, sozusagen die Vollendung eines Kunstwerks. Ich tat es fast ohne
nachzudenken und mit beinah schlafwandlerischer Sicherheit - kaum eine
Telefonverbindung war mir vertrauter. Die Stimme des Mannes in der Zentrale
kannte ich von zahllosen Anrufen. Meine eigene wurde selbstverständlich
verzerrt - ich konnte und wollte es mir nicht leisten, erkannt zu werden. Noch
einmal kontrollierte ich Atmung und Puls meines ‚Patienten‘, den ich diesmal
völlig zufällig gefunden hatte. Alles schien bestens. Der Radfahrer mit dem
hässlichen Loch in der Bauchgegend schlummerte tief und fest, wurde aber durch
die stabile Seitenlage sicher davor bewahrt, seine Zunge zu verschlucken. Der
blutverschmierte Zaunpfahl ragte etwas ekelig neben ihm auf. Natürlich kannte
ich die Regel, dass man niemals irgendwelche Gegenstände aus einem Körper
rausholen sollte, wenn sie drinsteckten. Das Risiko von inneren Blutungen, die
von einem Laien nicht gestoppt werden konnten, war viel zu groß. Aber meine
präzise Kenntnis der menschlichen Anatomie und meine besonderen Fähigkeiten
ließen mich ziemlich sicher wissen, wo ich wie zupacken oder zudrücken musste,
um den Mann nicht noch mehr zu verletzen. Ich hoffte, dass irgendwer auf die
Idee kommen würde, das lebensgefährliche Teil auszugraben und zu entsorgen.
Zunächst wurde es aber gebraucht, um den Unfallhergang plausibel zu machen.
Denn ich gedachte auf keinen Fall hier stehenzubleiben, bis die Rettungskräfte
eintrafen.
Erleichtert hörte ich bereits kurze
Zeit später eine Sirene und machte mich schleunigst vom Acker, laufenderweise
querfeldein. Während des Joggens wusch ich T-Shirt, Hände und Gesicht. Danach
betrachtete ich - noch immer laufend - kritisch mein Spiegelbild. Alles wieder
sauber, Fleckentferner sei Dank. Schließlich erreichte ich den Ausgangspunkt
meines meditativen Fitnesstrainings, den asphaltierten Weg, auf dem ich mein
Fahrzeug benutzen konnte. Es war ein speziell von mir entwickelter Roller mit
extrem niedriger Standhöhe. Trotz der winzigen Räder war das Teil verflixt
schnell. Darauf stehend sah es aus, als würde ich direkt über den Boden gleiten
oder eben in raschem Tempo laufen. Genau das war beabsichtigt, denn außer mir
sah niemand dieses Fortbewegungsmittel. Genauso wenig, wie mein Handy, das ich
zum Telefonieren benutzte oder den Verband, den ich dem Fremden angelegt hatte.
Er würde sich auflösen, sobald ihn jemand anders berührte. Keiner würde wissen,
dass er je existiert hatte. Niemand konnte die Spuren zu mir zurückverfolgen,
was absolut wichtig war. Zufrieden mit mir fuhr ich nach Hause.
Wer ich bin, fragt ihr? Nun - ich bin
Simon.
Ich bin der Fantast.
Aus: „Der Fantast“ von Michaela Göhr (Band 1)
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