
„Das Gleiche wie immer.“ Müde schielte er zu der Uhr hinterm
Tresen und als die Bedienung, auch nach einigen Sekunden nicht zu reagieren
schien, wiederholte er seine Antwort.
„Ich kenne Sie nicht“, sagte diese verwirrt.
Isaac rieb sich die Augen und betrachtete die blonde Frau
genauer. „Stimmt“, murmelte er. „Ich kenne Sie auch nicht.“
Sie schmunzelte. Wahrscheinlich war sie neu und hielt ihn
wegen der unordentlichen Haare und den tiefen Schatten unter den Augen für
einen Spinner.
„Also“, fragte sie nochmal, unerwartet freundlich. „Was
hätten Sie gern?“
„Kaffee schwarz. Mit Sahne.“
Die junge Frau zögerte. Den bisher noch leeren Becher in der
Hand, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. „Wäre das denn dann noch Kaffee
schwarz?“, fragte sie irritiert.
„Keine Kaffeesahne, Schlagsahne. So eine Mütze oben-drauf“,
erklärte Isaac in diffusen Gesten.
Sie nickte und füllte das schwarze Gebräu in den, laut
Aufschrift, biologisch abbaubaren Pappbecher. Obendrauf türmte sie eine perfekt
geformte Sahnemütze. „Möchten sie noch Streusel obendrauf?“, fragte sie
grinsend. Isaacs erschöpfte Miene leuchtete auf und wenig später hielt er einen
schwarzen Kaffee mit einer süßen Sahnehaube und bunten Zuckerstreuseln in der
Hand.
Er inhalierte den Duft von frischem Kaffee und trat ins
Freie, wo ihm die Sonne direkt ins Gesicht schien. Die grellen Strahlen
blendeten ihn. Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und schirmte sie mit
der freien Hand von der Sonne ab. Er steuerte, immer noch die Hand vor den
Augen, auf einen kleinen Tisch im Schatten zu, als er auf einmal einen heftigen
Stoß in die Seite bekam und sich die Hitze des Kaffees in seine Haut fraß.
Ihm entwich ein kurzer Schrei, genau wie dem Mädchen neben
ihm. Er blinzelte gegen die Sonne und musterte sie. Ihre braun gewellten Haare
waren ihr bei dem Zusammenstoß ins Gesicht gefallen. Sie zog ihre Augenbrauen
seltsam zusammen und schob den Unterkiefer nach vorn, als sie Isaacs prüfenden
Blick erwiderte. Sie sah, wie er fand, ziemlich lustig aus, was sich in seinem
Gesicht spiegelte.
„Was lachst du denn so blöd?“, fauchte sie und richtete sich
auf.
„Du schuldest mir einen Kaffee“, erwiderte Isaac. Er grub in
seinen Hosentaschen und zog schließlich ein zerknülltes Taschentuch heraus.
„Wie bitte?“ Sie lachte und strich sich die Haare aus dem
Gesicht. Einen kurzen Augenblick zögerte er. Er kannte dieses Gesicht. Erkannte
sie ihn auch? Es schien nicht so.
„Du bist in mich reingerannt und hast meinen Kaffee
verschüttet“, sagte er dann achselzuckend und versuchte mit dem Taschentuch den
Kaffeefleck aus seinem hellenT-Shirt herauszureiben.
„Du hast nicht geschaut, wo du hinläufst“, sagte sie.
„Du aber auch nicht. Sonst wärst du wohl kaum in mich
reingerannt“, entgegnete Isaac.
Das Mädchen verdrehte die Augen und strich bedeutungsvoll
ihr T-Shirt glatt. „Ich habe keine Zeit dafür“, sagte sie und wollte geradewegs
an ihm vorbei gehen.
„Komisch“, sagte er und kratzte sich am Hinterkopf. „Ich
habe jede Menge Zeit.“ Er stellte sich ihr grinsend in den Weg, woraufhin sie
fast erneut in ihn reinlief. Sie stand kaum eine Hand breit vor ihm und
schielte verärgert zu ihm hoch.
„Gut“, sagte sie schließlich und verschränkte demonstrativ
die Arme. „Ich hol dir deinen blöden Kaffee, aber nicht hier.“
„Ist das dein Ernst?“ Isaac lachte. „Ich dachte du hast so
wenig Zeit.“
„Dafür habe ich genug Zeit.“
„Das ist aber mein Lieblingscafé.“
„Mir egal. Du wolltest einen neuen Kaffee, also kriegst du
einen. Los komm“, sagte sie und drehte sich um.
„Nein.“ Isaac blieb an seinem Platz stehen und musste sich
ein Grinsen verkneifen. Das Mädchen war bereits einige Schritte vorgelaufen und
drehte sich nun verärgert um. Sie schob wieder trotzig ihren Unterkiefer nach
vorne und stapfte zurück.
„Es ist doch wohl egal, wo du deinen Kaffee herkriegst.“
„Wenn es so egal ist, warum sparen wir uns dann nicht den
Weg?“, fragte Isaac. „Hast du hier mal geklaut oder so?“
„Ich habe hier mal gearbeitet, du Vogel“, antwortete sie
prompt, doch das wusste er längst. Er kannte diese haselnussbraunen Augen, auch
wenn sie normalerweise etwas freundlicher guckten.
„Du wurdest gefeuert.“, stellte Isaac fest und konnte sich
das Lachen nicht länger verkneifen. „Warum bloß, wo du doch so ein Sonnenschein
bist?“
Das Mädchen versetzte ihm einen unsanften Stoß gegen die
Schulter. „Halt die Klappe und komm mit.“
„Ganz bestimmt nicht.“ Isaac wischte sich die Tränen aus den
Augen. „Ich will definitiv hier meinen Kaffee.“
„Was bist du denn für ein sadistisches Arschloch?“ Das
Mädchen stampfte mit dem Fuß auf den Boden, was eine kleine Staubwolke
aufwirbelte. Sie zog sich umständlich den Rucksack von den Schultern und
nestelte im Seitenfach. Mit einer Ausladenden Bewegung zog sie ein kleines
Stoffportemonnaie heraus und fuchtelte damit vor Isaacs Gesicht herum. Dann
drehte sie sich um und ging mit langen Schritten und gehobenem Kinn in das
Café. Isaac folgte ihr grinsend.
„Cassandra“, zwitscherte die blonde Frau, die Isaac seinen
ersten Kaffee verkauft hatte, und zeigte ihre kalksteinweißen Zähne. „Mit dir
hätte ich hier nicht gerechnet.“
Das brünette Mädchen verzog keine Miene und deutete mit
ihrem Portemonnaie auf Isaac. „Kaffee schwarz, ungesüßt mit Schlagsahne“, sagte
sie ohne Zögern und fügte ein bissiges „Am besten mit Schokostreuseln.“ Hinzu.
Die junge Frau hinterm Tresen klimperte kurz mit den
Wimpern, als sie Isaac hinter Cassandra erspähte, und wendete sich dann wieder
ihr zu. „Kommt sofort“, säuselte sie.
Als sie ihnen den Rücken zudrehte, um den Kaffee
zuzubereiten stupste Isaac Cassandra grinsend an. „Du erinnerst dich an mich.“
Ihr fiel der neutrale Ausdruck aus dem Gesicht, um den sie
sich so bemüht hatte und verdrehte die Augen. „Ich erinnere mich an deine
kranke Bestellung“, sagte sie mit tiefster Verachtung in ihrer Stimme. „Jeden
Tag, bei jedem Wetter. Brühwarmes, bitteres Gesöff mit Sahne.“
Isaac wippte grinsend vor und zurück, während sie auf seinen
Kaffee warteten. Als die Frau die Schokostreusel auf der Sahnemütze verteilte
murmelte er gerade laut genug: „Ich finde die bunten Streusel besser.“
„Schokostreusel passen besser“, antwortete sie kalt. Dann
fügte sie mit einem schiefen Seitenblick hinzu: „Aber wenn du deine Getränke
selbst bezahlst, kannst du meinetwegen auch die quietschbunten Zuckerstreusel
haben.“
Er wollte etwas erwidern, doch da schob die Frau seinen
Kaffee über die Theke.
„Zwei Euro achtzig“, sagte sie und lächelte gekünstelt in
Isaacs Richtung. Cassandra legte das Geld passend auf den Tresen und drückte
Isaac den Becher in die Hand.
Er sah sie weiterhin breit grinsend an.
„Was?“, fragte sie. „Soll ich deiner Mutter noch das
Waschmittel erstatten?“ Zu einer Antwort kam Isaac nicht mehr.
Ein lautes Geräusch ließ die beiden erschrocken
zusammenfahren. Eine Frau am anderen Ende des kleinen Cafés war panisch
aufgesprungen, wobei der runde Tisch, an dem sie gesessen hatte, scheppernd zu
Boden gegangen war. Sie taumelte rückwärts, beide Hände um den Kragen ihres
T-Shirts gekrallt. Panisch wanderte ihr Blick durch den Raum, während sie
verzweifelt nach Luft schnappte.
Isaac drückte Cassandra den Kaffee zurück in die Hand und
rannte zu der Frau. Cassandra folgte ihm.
Er kniete sich neben sie und nahm ihre Hand.
„Hey, es ist alles in Ordnung“, versuchte er sie, und zum
Teil auch sich selbst, zu beruhigen. „Haben sie etwas verschluckt?“ Er
versuchte den Kopf der Frau in den Nacken zu legen, um nachzuschauen. Doch die
Frau schüttelte verkrampft den Kopf und hämmerte mit einer Faust auf ihren
Brustkorb, schleppend und in einem unregelmäßigen Rhythmus.
„Nehmen sie die Arme hoch.“ Immer noch mit einer Hand ihren
Kragen umklammernd, schüttelte sie den Kopf. Tränen quollen aus ihren Augen.
Sie versuchte etwas zu sagen, doch sie war zu nicht mehr als einem kläglichen
Röcheln im Stande.
„Hey, hey. Sehen sie mich an. Alles wird gut. Sie müssen nur
die Arme über ihren Kopf nehmen und ruhig weiter atmen.“ Isaac drehte sich in
die gaffende Menge. „Einer muss einen Krankenwagen rufen, verdammt!“
Cassandra zog ihr Telefon aus der Tasche und wählte den
Notruf. Nachdem sie der Person am anderen Ende die Situation geschildert und
den Ort genannt hatte, fragte sie sich durch die Cafébesucher und Passanten auf
der Suche nach einem Arzt.
Isaac saß weiterhin neben der Frau am Boden. „Alles wird
gut.“
Schließlich wurden das panische Zucken und Schluchzen
ruhiger und sie schnappte nur noch vereinzelt nach Luft. Vorsichtig ließ Isaac
die Frau zu Boden. Ihre blauen, tränennassen Augen wanderten an der Decke
entlang.
„Alles gut“, flüsterte er, während das Rot ihres Gesichts
verblasste und die Haut blau anlief. Nach einigen Sekunden fiel ihr Kopf zur
Seite und sie blieb regungslos am Boden liegen. Er griff ihr Handgelenk und
legte Zeige- und Mittelfinger auf ihre Pulsader. Nichts.
Sofort beugte er sich nach vorn und legte beide Hände auf
ihr Brustbein. Dann begann er in einem gleichmäßigen Rhythmus zu pumpen. „Der
Krankenwagen kommt gleich“, flüsterte er mit zittriger Stimme.
Die sechs Minuten, die der Rettungsdienst zum Café brauchte,
verliefen zäh wie Kaugummi, langgezogen in klebrige Schlieren, die sich wie
Stunden anfühlten. Zwischenzeitlich übernahm Cassandra den regelmäßigen Wechsel
von Pumpen und Beatmen für Isaac, damit er sich einige Augenbliche beruhigen
konnte. Als der Rettungsdienst schließlich ankam, hatten sie nicht mehr viel zu
tun.
„Zeitpunkt des Todes: Elf Uhr 39“, sagte der Sanitäter mit
einem Blick zur Uhr hinterm Tresen.
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