Sonntag, 2. April 2023

[Schnipseltime] Sein brennendes Herz von Sylvia Halcour

 

Sie schaltete das Licht im Flur ein und strich ihre Schuhe von den Füßen. Einen Moment horchte sie nach dem Kater, aber er ließ sich nicht blicken.

Noah stand neben ihr im Flur, abwartend, schweigend, die Hände in den Taschen.

Sie ging an ihm vorbei, in ihr Schlafzimmer. Es war eine intuitive Entscheidung, dort hineinzugehen. Hätte sie vertieft darüber nachgedacht, hätte sie es vermutlich nicht getan. Die Eindeutigkeit, die darin lag, war beängstigend.

Befangen trat sie zum Fenster und sah kurz hinaus. Kein Mensch war zu sehen. Das war beruhigend, nach gestern Nacht. Was sie ganz und gar nicht beruhigte war das Wissen, dass Noah in ihrer Nähe war. Sie machte ihre Nachttischlampe an und wandte sich zu ihm um. Er stand in der Tür und betrachtete sie.

»Willst du etwas trinken?«, fragte sie durch den Raum hinweg.

»Nein.«

»Willst du etwas essen?«

»Nein.«

Sie wechselten Blicke. Es war, als spielte er ihr einen unsichtbaren Ball zu und sie konnte das nun einfach ignorieren und den Ball zu Boden fallen lassen. Oder ihn fangen.

Sie machte kehrt, trat auf ihn zu. Seine Haut war durch das Licht der kleinen Lampe warm erhellt.

Ihr fiel eine Tätowierung an der Innenseite seines rechten Unterarms auf, die sie schon am Vortag flüchtig gesehen hatte. Es war eine Uhr oder eher ein Ziffernblatt mit zwei Zeigern, die auf vier Uhr in der Nacht oder auch am Nachmittag standen. An einer Seite war das Ziffernblatt zersplittert und seine Scherben lösten sich in schwarze Vögel auf.

Sie zeigte darauf. »Was bedeutet es?«

»Es erinnert mich, wie sich mein Leben verändert hat.«

»Auf eine gute Art?«

»Wie sieht es denn für dich aus?«

Linda wandte seinen Arm leicht zu sich, musterte das Bild eingehend. »Es sieht düster aus. Traurig.«

»Findest du? Ich finde es nicht traurig. Die Vögel sind frei.«

Frei. Es gab nur wenige Worte, in denen so viel Kraft lag. Wie auch in Liebe. Oder Sehnsucht.

Sie hob einen Finger und tippte vorsichtig auf das Ziffernblatt an seinem Unterarm, fuhr mit ihrer Kuppe bis zu seinem Bizeps hoch. Orientalische Muster, Blätter, Ornamente, ein kreisrundes Gebilde wie ein Mandala, alles mit schwarzer Tinte in die Haut gestochen.

Die Spannung zwischen ihnen war unerträglich.

Mit einem Ruck zog er sein Shirt aus und Linda war erneut wie gebannt von der Sportlichkeit seines Körpers, aber auch unerwartet betroffen. Sein gesamter Brustbereich war bandagiert. An der linken Schulter hatte er eine handtellergroße Schürfwunde, die ihr gestern noch gar nicht aufgefallen war. Mitgefühl flutete sie wie ein Schwall warmes Wasser, gefolgt von der zähen, kriechenden Masse der Erkenntnis, dass ihr am Abend zuvor etwas derart Schreckliches passiert war.

Möglicherweise spürte er die Beklommenheit oder bemerkte auch nur den Schatten auf ihrem Gesicht, jedenfalls fasste er ihr Kinn und sagte: »Nicht.«

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